"Advances in the Philosophy of Technology" ; Bericht über die wissenschaftliche Jahrestagung der Académie Internationale de Philosophie des Sciences 1997 - Academic Session, Karlsruhe, 20 - 24 May 1997.

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"Advances in the Philosophy of Technology"

Bericht über die wissenschaftliche Jahrestagung der Académie Internationale de Philosophie des Sciences 1997 -
Academic Session, Karlsruhe, 20 - 24 May 1997

von Prof. Dr. phil. h.c. mult. Hans Lenk, Universität Karlsruhe

Unter dem Leitthema "Advances in the Philosophy of Technology" war die diesjährige Jahrestagung der Académie Internationale de Philosophie des Sciences an der Universität Karlsruhe den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Technikphilosophie gewidmet. Vor dem Hintergrund einer beschleunigt zunehmenden Bedeutung der Technik und Technikwissenschaften in fast allen Gesellschaftsbereichen sowie der Entwicklung und Verbreitung neuer gesellschaftsvernetzender Informations-, Kommunikations- und Verkehrstechniken wandelt sich auch der Technikbegriff. Alle diese Entwicklungen bedürfen einer erneuten philosophischen Reflexion. Dies gilt um so mehr, als die Neuen Technologien (von der Medientechnologie über den Einsatz "intelligenter" Systeme bis hin zur Reproduktionsmedizin und Gentechnik) Eingang auch in den Alltag finden und manche lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten dramatisch verändern. Die Beiträge der Tagung waren daher neben allgemeinen begrifflichen und strukturellen Bestimmungen der Technik und Technologien im Verhältnis zu den Naturwissenschaften auch der gesellschaftlichen Stellung der Technik und ihrem Verhältnis zum gegenwärtigen Weltbild gewidmet. Besonderes Augenmerk galt dabei auch den philosophisch-ethischen Fragen der Technikbewertung unter Gesichtspunkten der Sozial- und Umweltverträglichkeit, die sich etwa aus den neuen Bio-, Medien- und Umwelttechnologien ergeben.

Die Internationale Akademie für Philosophie der Wissenschaften (Académie Internationale de Philosophie des Sciences), Brüssel, ist die Weltakademie für Wissenschaftstheorie. Sie hat derzeit in 20 Ländern 94 Mitglieder, die besonderes internationales wissenschaftliches Renommé genießen. Die Jahrestagungen behandeln jeweils ein ausgewähltes aktuelles Forschungsthema der Wissenschaftsphilosophie. Außer den Mitgliedern werden weitere Wissenschaftler - besonders auch herausragende Nachwuchswissenschaftler - des jeweiligen Gebietes zu Vorträgen und Diskussionen bei der Academic Session eingeladen. Es nahmen 65 Wissenschaftler aus 12 Ländern an der Tagung teil.

Mit der diesjährigen Auswahl des Tagungslandes Deutschland würdigte die Weltakademie der Wissenschaftsphilosophen zugleich die Vorreiterrolle deutscher Philosophen auf dem Gebiet der Technikphilosophie, die nicht zuletzt gerade an der Universität Karlsruhe eine besondere Tradition besitzt.

Bislang hatte sich die Technikphilosophie weitgehend eher der traditionellen Realtechnik gewidmet. Die seit einigen Jahrzehnten schon absehbare Entwicklung zur Informations- und Systemtechnologie sowie die Verwissenschaftlichung der Technikdisziplinen haben insgesamt einen Übergang zu einem "technologischen Zeitalter", genauer: zu einem system- und informationstechnologischen Zeitalter (Lenk 1970), bewirkt, dessen Beschreibung und Analyse notwendig ist und zumal auch philosophisch-methodologisch zu neuen Gesichtspunkten der Technikphilosophie und der generellen Methodologie der Technikwissenschaften ("Wissenschaftstheorie der Technikwissenschaften") führen mußte. Unter diesem Aspekt sind bislang nur wenige Einzelarbeiten zu Fragen der Informationstechnologie und der Biotechnologie - kurz, der Neuen Technologien - verfaßt worden, Arbeiten, die noch zu wenig in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang der Wissenschaftstheorie der Technikwissenschaften und einer umfassenderen Philosophie der Technik und des system- und informationstechnologischen Zeitalters wie auch der entsprechenden gesellschaftlichen Entwicklungen integriert worden sind. Besonders die neueren Technologien der Informationselektronik, der Multimediatechnik, der Biotechnik sind bislang kaum einer integrierten philosophischen Forschungsperspektive unterworfen oder im Rahmen einer integrierten Technikphilosophie gedeutet worden. Entsprechend dem raschen technischen Wandel unter dem Aspekt der Informatisierung, der systemtechnischen und organisationstechnologischen Überformungen, interdisziplinären Integrationen, ja teilweise Mutationen, der technischen Disziplinen und ihrer Verklammerung mit allen gesellschaftlichen Bereichen des modernen Lebens ist die Philosophie der Technik herausgefordert, einen neuen Ansatz zu leisten, der diesen schnellen Entwicklungsschüben gerecht zu werden vermag. Dazu bedarf es integrierter Sichtweisen und der Berücksichtigung der methodologischen Spezialprobleme der entsprechenden Technikdisziplinen, der gesellschaftlichen Verankerung der entsprechenden innovierten oder in Entwicklung bzw. Implementation befindlichen Techniken und Technologien, zumal der Systemtechnik, Computertechnik, Biotechnik, aber auch der Multimediaansätze, der neuen computergraphischen Konstruktionslehren. Ebenso nötig erscheint die Aufarbeitung der methodologischen, informationellen und ethischen Gesichtspunkte der neuen Biotechniken (einschließlich der Gentechnik) und - last but not least - der technischen Aspekte der möglichen Kontrollen und Steuerungen von komplexen dynamischen Systemen, die u.U. chaotisches Verhalten (im Sinne der Chaostheorie nichtlinearer deterministischer Systeme mit drei und mehr Freiheitsgeraden, aber auch einer weitgehend erst zu entwickelnden Theorie entsprechender probabilistischer komplexer Systeme) zeigen können und Anlaß zur Entwicklung einer entsprechenden "Chaos-Technik" geben dürfte. (Einige Steuerungsverfahren wie das OGY-Verfahren gibt es bereits.)

Insbesondere zu diesen neuen Ansätzen liegen bislang, wie angedeutet, keine integrierenden methodologischen Untersuchungen vor. Eine wichtige Aufgabe der Diskussion auf der Karlsruher Tagung war es, die Begriffe "Technik" und "Technologie" unter diesen Herausforderungen der neuen Entwicklungen zu überprüfen, entsprechend dem Stand der Entwicklung neu zu definieren sowie präziser und praxisnäher zu fassen.

Der Präsident der Internationalen Akademie, Agazzi, eröffnete die Academic Session mit einer Begriffsanalyse der Beziehungen zwischen "Technik", "Technologie" und "Wissenschaft". Der grundlegende thematische Einführungsvortrag des Kongreßleiters "Advances and New Characteristics of Technologies" gab eine allgemeine Übersicht über die Konzepte des Fortschritts in der Technik und über mögliche jüngste Herausforderungen für das Fortschreiten der Technikphilosophie angesichts der dramatischen Veränderungen zur Systemtechnik, Informationsgesellschaft und zu globalen Sozio-Öko-Techno-Systemen. Dabei wurden kennzeichnende neue Charakteristiken, zumal der Neuen Technologien, in den Vordergrund gestellt wie z.B. Systemhaftigkeit, Funktionalität und Formalität der Verfahren, Multiverwendbarkeit und Aspektvielfalt, Schichtenbildung der Zugriffsweisen, Informatisierung und Computerisierung, Virtualisierung und Multimediatechniken, Verwissenschaftlichung der Techniken zu Systemtechnologien sowie Technisierung oder Technologisierung der Wissenschaften.

Der Key Note Speaker Bunge/Kanada war zwar kurzfristig verhindert, wird aber seinen Beitrag für die zu veröffentlichende Fassung nachliefern. In seinem angekündigten Beitrag wie auch in den Beiträgen von dem Past President der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Poser/Berlin, und von Mac Cormac/North Carolina, USA, werden die Übereinstimmungen und Unterschiede sowie inneren Verflechtungen von Technologien, angewandter Wissenschaft und Grundlagenwissenschaft differenziert vom methodologischen Aspekt durchanalysiert. Poser ging es dabei eher um Strukturdifferenzen bei Grundorientierungen, um Methodologien und Bewertungen zwischen wissenschaftlichem und ingenieurmäßigem Vorgehen, MacCormac verwies auf Asymmetrien struktureller Art - insbesondere in Hinsicht auf angewandte Forschung mit Blick auf Neurowissenschaften und die diesen zugeordneten Technologien. Hronszky/Budapest diskutierte die ältere Techniktheorie von Bunge unter dem Gesichtspunkt des Kuhnschen Paradigmabegriffs. Auch Cordero/New York behandelte von wissenschaftstheoretischer und grundlagenorientierter Seite her die Probleme der Theoriebildung in Technik und technologischen Bereichen.

Shapere/North Carolina, USA, beleuchtete die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Aspekte eher aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht unter der Fragestellung nach Theorie-Praxis-Problemen des kumulierenden Wissenszuwachses durch wissenschaftliche und technologische Forschung wie auch unter dem Entdeckungsgesichtspunkt.

Das Lernen aus bisherigen Erfahrungen und die Kumulation der Wissensbestände war denn auch das Thema der Sektion über Technologie und Gesellschaft, soweit die Anwendungsaspekte betroffen sind: Krohn/Bielefeld wies auf Erfahrungen mit der Sozialeinbettung und dem sozialen Umgang mit Technologien am Beispiel der Müllverwertungstechnologien hin. Rammert/Berlin, Leidlmair/Innsbruck sowie Kanitscheider/Gießen analysierten zumal die Beziehungen zwischen neuen Technologien und Medien sowie heutigen und künftigen Kommunikationssystemen als besonderen Herausforderungen einer sozial eingebetteten Technologieplanung, -steuerung und -implementation. Die allgemeineren Implikationen grundlagentheoretischer Art zogen Rohpohl/Frankfurt für eine passende, an der Ingenieurwissenschaft orientierte, aber allgemeiner ausgerichtete Systemtheorie soziotechnischer Systeme sowie Tondl/Prag in wissenschaftstheoretischer Hinsicht in bezug auf die Informationsdimensionen technischer Gegenstände und technologischer Verfahren sowie Systeme. Die Computertechnologie und die Evolutionsprobleme unter methodologischem und systemtheoretischem Gesichtspunkt stellte eine Reihe von Beiträgen in den Mittelpunkt: Während van Brakel/Löwen telematische Lebensformen und entsprechende Spielmodelle in den Vordergrund stellte, analysierten Mainzer und Leiber (beide Augsburg) Formen der Künstlichen Intelligenz und der Modelle künstlichen Lebens (künstliche Evolutionsmodelle) unter dem Gesichtspunkt komplexer dynamischer Systeme, wobei Leiber besonders auf die Theorie des deterministischen Chaos in Anwendung auf komplexe technologische Systeme abhob.

Küppers/Jena diskutierte den strukturellen semantischen Aspekt der biologischen Informationsgenese, Cérézuelle/Bordeaux brachte die Umwelttechnik unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Ökosysteme in die technikphilosophische Diskussion ein und stellte den Übergang zu ethischen Problemen her, die unter dem Gesichtspunkt von Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben von Frau Havas/Budapest und unter dem Aspekt der Referenz- und Wertzuordnungen bei Risikoentscheidungen von Huning/Düsseldorf diskutiert wurden.

Zur Problematik der Technikfolgenabschätzung nahmen der Vorsitzende und das Vorstandsmitglied der Baden-Württembergischen Akademie für Technikfolgenabschätzung, Mohr und Renn, in praxisnaher Weise Stellung, wobei besonders die deskriptive und wissenschaftsnahe Technikextrapolation und Szenariovorausschau im Vordergrund standen. Diese Beiträge führten zu besonders spannenden und kontroversen Diskussionen mit Vertretern einer eher normativ orientierten Technikbewertung.

Weitere interessante Sektionsbeiträge stellten die Vermischung zwischen technologischen und wissenschaftlichen Zugangsweisen am Beispiel bestimmter Teilgebiete oder wissenschaftlich-technologischer Verfahren in den Vordergrund - z.B. der präparativen Chemie (Schummer/Karlsruhe) oder der Beobachtungstechnik in der Astronomie und Kosmologie (Mosterin/Spanien).

Es wurde ein weiter Bogen von Grundlagenfragen der Technikphilosophie - zumal angesichts der neuen Herausforderungen und Strukturen der system- und informationstechnischen Welt, der Systemtechnowelt, bis hin zu praktischen Anwendungsfragen der Technikfolgenabschätzung, der ethischen und ökologischen Probleme der Technikverbindung geschlagen. (Die Gentechnik, generell Biotechnologien müßten - auch für die geplante Veröffentlichung - noch etwas stärker akzentuiert werden.) Die Tagung wies durchaus eine Reihe von neuen Ansatzpunkten und herausfordernden Aspekten auf, wenn sie auch nicht zu einer umfassenden Theorie der Technik bzw. einer einheitlichen systematischen Philosophie der Technik führen konnte (Durbin/USA z.B. sah Fortschritte der Technikphilosophie weniger in den philosophischen Diskussionen als in der praktischen Engagiertheit und aktiven Mitarbeit von technikphilosophisch orientierten Ingenieuren und Bürgern z.B. in Ökobewegungen, Ethikkommissionen und Planungsstäben, während Spinner/Karlsruhe keinen nennenswerten Fortschritt der philosophischen Beiträge zur Technik seit Gehlen zu sehen glaubte, was nachdrücklich von den anwesenden herausragenden Technikphilosophen bestritten wurde. Auch eine Reihe von Beiträgen der Tagung selber widerlegte diese allzu pessimistische Einstellung, zumal in vielen Ländern - etwa USA und Rußland - Technikphilosophie eine etablierte Teildisziplin der Philosophie ist und vielfältige Beiträge in den letzten Jahrzehnten geleistet und veröffentlicht worden sind. So hat also die Tagung insgesamt einen anregungsreichen und positiven Verlauf genommen, der durch die geplante Dokumentation weiterwirken dürfte.

Es ist sicherlich ein wichtiges Signal dieser wissenschaftlichen Konferenz der Internationalen Akademie für Wissenschaftsphilosophie, der Weltakademie der Wissenschaftstheoretiker, daß diese sich erstmals ausführlich einem "angewandten" Thema wie diesem der Technik und der Technikwissenschaften widmete.

Was Karl Jaspers kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als unser Hauptschicksal (die Bestimmung unserer Lage durch die Technik) vorausgesagt hat, ist in einem viel stärkeren Maße eingetreten, als man das seinerzeit voraussehen konnte: Gerade die geradezu exponentiell um sich greifenden Entwicklungen in den system-, informations- und organisationstechnischen Verfahren sowie der technische Fortschritt und sein Einfluß auf die Entwicklung der modernen Gesellschaften haben dazu geführt, daß Technik und zumal die verwissenschaftlichten Technologien viel stärker unsere Weltbeziehungen sowie Weltauffassungen beeinflussen, als herkömmliche Entwürfe vermuteten bzw. in differenzierterer bereichsspezifischer Weise voraussehen konnten. Diesen Einfluß der technologischen Entwicklungen und der philosophischen Reflexionen sowie der gesellschaftlichen Interpretationen dieser erweiterten und der neuen Technologien auf das gegenwärtige und künftige Weltbild zu erörtern, das war eine Hauptherausforderung des Kongresses. Dies konnte ansatzweise eingelöst werden, sollte aber künftig detaillierter weiterverfolgt werden - sowohl in der philosophischen Grundlagendebatte als auch bei bereichsspezifischen und anwendungsnahen praktischen Problemstellungen wie der Technikfolgenabschätzung und -bewertung. Die geplante zu veröffentlichende englischsprachige Dokumentation des Kongresses soll dazu einen international wirksamen Anstoß geben.

Zu entwickeln sind dabei neue Aspekte hinsichtlich der Zueinanderordnung von technischen Verfahren und wissenschaftlichen Verallgemeinerungen sowie Theoriebildungen und - last but not least - gewichtige Gesichtspunkte zur Entwicklung einer bislang fehlenden integrierten Methodologie der Technikwissenschaften bzw. Wissenschaftstheorie der Technikwissenschaften. Hierbei sind besonders die Systemansätze, Verfahrensformalisierungen und -optimierungen sowie die neuen Charakteristiken der Neuen Technologien, die sozio-ökotechnischen Implikationen (Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit) und der gesellschaftliche sowie der epochal-historische Charakter samt der Globalisierungseffekte in der künftigen system- und informationstechnologischen Gesellschaft verstärkt zu berücksichtigen.