D. Kaldewey: Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz

Rezensionen

Von der Spitze zum Eisberg. Eine konzeptionelle und empirische Analyse zur Selbstbeschreibung der Wissenschaft zwischen Autonomie und Praxis

D. Kaldewey: Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz. Bielefeld: transcript 2013, 494 S., ISBN 978-3-8376-2565-3, Euro 39,99

Rezension von Anna Kosmützky, Universität Kassel

Mitte der 1990er Jahre sind Zeitdiagnosen populär geworden, die eine weitreichende Veränderung der Wissenschaft und damit verbunden der Universität als Kerninstitution der wissenschaftlichen Wissenschaftsproduktion prognostizieren. Mode 2, Triple Helix, und Entrepreneurial University (Gibbons et al. 1994; Etzkowitz/ Leydesdorff 1997; Clark 1998) skizzieren einen radikalen Wandel in Richtung einer transdisziplinären Wissensproduktion, engere Kopplungen von Wissenschaft, Industrie und Politik sowie einen unternehmerischen Organisationsmodus von Universitäten. Diese Diagnosen haben sich seitdem weltweit in nationale Hochschul- und Wissenschaftspolitiken eingeschrieben sowie auf supranationaler Ebene (EU, OECD, Weltbank) politische Initiativen und Standpunkte beeinflusst.

Empirische Betrachtungen des Wandels fallen demgegenüber moderater aus. Sie zeigen, dass der Wandel der Wissensproduktion sich vielfach in Randbereichen, an der Peripherie und in Grenzstellen der Organisation Universität findet, während der Kernbereich weitestgehend unverändert bleibt. Außerdem scheinen der universitären Wissensproduktion Tendenzen inhärent zu sein, die sich einem von außen indizierten Wandel entgegensetzen (z. B. Whitley et al. 2010; Heinze/Krücken 2012; Grande et al. 2013).

David Kaldeweys Buch trägt zu dieser Debatte neue und überraschende Erkenntnisse bei. Er zeigt, dass Praxisbezüge der Wissenschaft keinesfalls rein extern durch Interessensgruppenin Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit aufgedrängt werden, sondern dass eine zweigleisige Zielsetzung der Wissenschaft selbst inhärent ist.

1    Wahrheit und Nützlichkeit in friedlicher Koexistenz

Zu diesen Erkenntnissen gelangt er durch eine sehr innovative – zugleich system- und diskursanalytisch geprägte – Perspektive und darauf basierenden historisch-soziologischen Rekonstruktionen der selbstverständlich erscheinenden Dualität von Autonomie und Praxis. Allein zeitgenössisch betrachtet begegnet diese uns, wie bereits angedeutet, in vielfältigen Dichotomien: als Theorie und Praxis, Wahrheit und Nützlichkeit oder Kreativität und Innovation. Kaldewey macht deutlich, dass all diese Dichotomien durch das Konstruktionsprinzip eines freien und interessensgeleiteten Forscherdranges einerseits und einer kontrollierenden und ausbeutenden Rationalität andererseits verbunden sind. Er verfolgt dieses Konstruktionsprinzip in historischer Perspektive bis in die griechische Antike zurück, unter der Leitfrage, ob sich Zielkonflikte sowie jeweils eine Auflösung der Spannung in die eine oder die andere Richtung zeigten. Seine Antwort sei vorweggenommen, da sie den überraschenden Erkenntnisgewinn seines Buches deutlich macht: Der „Normalfall scheint eher die friedliche Koexistenz oder eine win-win-Situation“ zu sein (S. 22).

2    Plädoyer für eine relationale Wissenschaftssoziologie

In den theoretischen Kapiteln (Kap. 2 bis 4) zeigt Kaldewey sehr plausibel, dass weder die handlungstheoretische und institutionalistischakteurszentrierte Wissenschaftssoziologie noch die Hochschulforschung für eine empirische Untersuchung von Autonomie und Praxisdiskursen gerüstet sind. Beide basieren auf partikularen und zum Teil reduktionistischen Perspektiven, die die Effekte der Gleichzeitigkeit der Kopplung von Autonomie und Praxisdiskursen und den Reibungen zwischen verschiedenen Zielsetzungen nicht in den Blick bekommen. Exemplarisch sei ein Punkt genannt: die Reduktion der Wissenschaft auf ihre Organisation, wie sie v. a. in der Hochschulforschung betrieben wird, während in der Wissenschaftsforschung die Organisation, in der Wissenschaft stattfindet, zumeist ignoriert wird.

Kaldewey plädiert daher – aufbauend auf die Arbeiten von Rudolf Stichweh – für eine relationale Wissenschaftssoziologie, die sich dafür interessiert, wie die Wissenschaft sich selbst beschreibt, anstatt von fixen Merkmalslisten dessen, was Wissenschaft ist und wo diese stattfindet, auszugehen. Dies ist insofern auch innovativ, als dass die Selbstbeschreibung der Wissenschaft als Wissenschaft bislang weder in der wissenschaftssoziologischen noch in der differenzierungstheoretischen Begriffsbildung hinreichend berücksichtigt wurde. Kern seines Ansatzes ist es, Niklas Luhmanns Systemtheorie weniger puristisch auszulegen und als heuristische Strategie zu verstehen und mit deren Hilfe wissenschaftliche Kommunikation daraufhin zu untersuchen, ob und wie sie selbst auf Wissenschaft Bezug nimmt. Er schlägt entsprechend vor, die Reflexionskommunikation von Systemen – hier des Wissenschaftssystems – in Diskursen zu verorten: einerseits in Methoden- und Theoriendiskursen, andererseits aber auch in Autonomie- und Praxisdiskursen, die durch das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdbeschreibungen die Identitätsarbeit des Wissenschaftssystems leisten.

Dazu wählt er eine Theoriestrategie, die sowohl Autonomie-als auch Praxisdiskurse als mögliche Selbstbeschreibungen der Wissenschaft konzeptionell gleichsetzt und es der Empirie überlässt, wie diese sich im jeweiligen Fall zueinander verhalten, ohne dabei in ein konstruktivistisches „anything goes“ zu verfallen. Damit knüpft er an neo-institutionalistische, wissenschaftshistorische und wissenschaftsphilosophische Theorien, die von einer Entkopplung von „talk and action“, epistemischem Kern und rhetorischer Oberfläche und eines Kerns und einer Hülle ausgehen, wählt aber eine symmetrische Perspektive auf das Verhältnis von Kern und Hülle. Dies verspricht insbesondere für die neo-institutionalistisch geprägte Hochschulforschung interessante Entwicklungen.

Diese theoretische Perspektive geht mit einem entsprechenden methodisch ebenso anspruchsvoll wie klar nachvollziehbarem Programm zur Exploration von textförmigen Materialien einher, das Kaldewey in Kapitel 5 skizziert. Hierin eröffnet sich insbesondere die Anschlussfähigkeit an diskursanalytische Studien. Die methodische Programmatik ist im Titel dieser Rezension (von der Spitze zum Eisberg) gefasst und wird von Kaldewey selbst wie folgt beschrieben: „Ersten gilt es, ausgehend von der semantischen Oberfläche die tieferliegenden Diskurse zu rekonstruieren, in die jede Semantik eingebettet ist. Zweitens gilt es zu untersuchen, in welche sozialen Kontexte diese Diskurse eingebettet sind.“ (S. 164) Das einzige kleine konzeptionelle Manko, das die Rezensentin gegenüber dem Buch formulieren kann, findet sich in diesem Kapitel: Metanarrative und Trägergruppen werden beide konzeptionell nicht eingefangen, in den empirischen Kapiteln werden v. a. letztere jedoch relevant.

3     Historisch-soziologische Analysen der Gleichzeitigkeit von Wahrheits- und Nutzenorientierung

Die empirischen Kapitel (Kap. 6 bis 8) liefern – wie bereits erwähnt – detailreiche Analysen des durch die Theorie- und Praxisunterscheidung aufgespannten semantischen und diskursiven Feldes entlang historischer Epochen: von der Antike bis zur Renaissance, in der Theorie und Praxis primär als Lebensformen thematisiert werden, vom 12. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert, in denen die Idee der nützlichen Universität im Mittelpunkt steht, und vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in der sich der Wandel von der reinen Wissenschaft zur angewandten Forschung vollzieht. Dabei enthält das letzte Kapitel hauptsächlich ausgewählte Schwerpunkte („Tiefenbohrungen“) zur Rekonstruktion der Genese und Stabilisierung der Unterscheidung von reiner und angewandter Wissenschaft, die sich andernfalls nicht hätte fassen lassen, da es zugleich eine international vergleichende Perspektive auf entsprechende Diskurse in Deutschland, England und den USA enthält. Besonders innovativ ist in diesem Kapitel der stellenweise Einbau quantitativer Vergleiche von Begriffsvarianten im historischen Verlauf, die zu Verbreitungsanalysen von Terminologien werden und die Funktion des Bindeglieds zwischen Semantik- und Diskursanalyse erfüllen.

Zusammenfassend zeigt sich in der historisch-soziologischen Analyse, dass Praxisdiskurse die wissenschaftliche Rationalität schon immer begleitet und streckenweise sogar mitbegründet haben. Weitere Einsichten sollen hier nicht vorweggenommen werden. Statt dessen dient ein Ausschnitt der Analyse zur zeitgenössischen Selbstbeschreibung der Wissenschaft dazu, das Zusammenspiel von Semantiken und Diskursen in Kaldeweys Argumentation vorzustellen und damit die eingangs skizzierte Debatte aus seiner Perspektive einzufangen: „Auch die Semantik von ‚Einsamkeit und Freiheit‘ ist im Managementmodell der Universität weitestgehend aufgegeben, so dass sich die Frage stellt, ob es äquivalente Semantiken gibt, die den sozialen Ort des Wissenschaftlers mit einer neuen Formel zu fassen versuchen. Ein möglicher Kandidat hierfür wäre das in der jüngeren Vergangenheit populär gewordene Dual von ‚Kreativität und Innovation‘, welches ebenfalls Rechte und Pflichten des Forschers benennt. So ist ein ‚kreativer Freiraum‘ im Rahmen von Managementdiskursen als Wert kommunizierbar, während die Innovationssemantik klar macht, dass dieser Freiraum produktiv genutzt werden muss, um die Prozesse oder Produkte zu optimieren oder neu zu gestalten.“ (S. 303)

4    Empirisch und theoretisch innovativ, vielfach anschlussfähig

Kaldeweys Buch ist sowohl in empirischer als auch in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht hoch innovativ und dabei zugleich anschlussfähig an unterschiedliche disziplinäre und interdisziplinäre Forschungsstränge über die Wissenschaftssoziologie hinaus. Kern seines konzeptionellen Anliegens ist es, mit Hilfe soziologischer Theorien einen Wissenschaftsbegriff zu konzipieren, der die heterogenen Autonomie- und Praxisdiskurse als Momente desselben gesellschaftlichen Sinnzusammenhangs – der Wissenschaft – zu analysieren ermöglicht. Dennoch sind – wie vom Autor beabsichtigt – die drei historisch-soziologischen Fallstudien zur Formation und zum Verlauf des Verhältnisses von Autonomie- und Praxissemantiken und -diskursen hervorragend auch als eigenständige Studien lesbar und liefern detailreiche Einsichten und scharfsinnige Analysen. Damit soll jedoch keinesfalls angedeutet sein, dass die Verknüpfung von Theorie, Methodologie und Empirie misslingt. Im Gegenteil! Die Verknüpfung ist überzeugend und ermöglicht es überhaupt erst, die genannten überraschenden Einsichten zu gewinnen. Seine These ist, dass es sich bei Praxisdiskursen nicht um „Fremdkörper, die von außen in die Wissenschaft eindringen“ handelt, sondern „um Strukturmomente des Systems selbst“ (S. 164). Diese These prägt Kaldeweys theoretische wie die empirische Perspektive.

Vor der alleinigen Lektüre von Einleitung und Schluss sei jedoch gewarnt – dies würde dem Buch nicht gerecht, da der Autor am Schluss nicht mehr aus den empirischen Kapiteln zusammenfasst, sondern im Kern Hypothesen zur Weiterentwicklung des Forschungsfeldes formuliert. Zu betonen ist auch, dass Kaldewey eine Sprache verwendet, die soziologisch anspruchsvolle Erörterungen möglich macht, ohne ein eher praxisorientiertes Publikum aus Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit auszuschließen. Zudem tragen ein wiederkehrender Meta-Text, der Kapitel einleitet und summiert sowie hervorragend gewählte und zudem humorvoll konnotierte Beispiele zur Anschlussfähigkeit bei.

In wissenschaftlicher Hinsicht besticht das Buch wiederum durch innovative konzeptionelle Ideen in Kombination mit einer besonderen Gründlichkeit und Durchdringungstiefe der Aufarbeitung von wissenschaftlichen Debatten. So ist beispielsweise der Vorschlag zum Einbau des Diskursbegriffes in die Systemtheorie bereits zuvor gemacht worden (die entsprechenden Fälle werden von Kaldewey diskutiert), wird hier aber viel stringenter argumentiert und präzise im Theoriegerüst der Systemtheorie verortet. Diskurse werden als Differenzierungen auf der semantischen Ebene von Funktionssystemen im Unterschied zur Ausdifferenzierung von Subsystemen auf operativer Ebene verstanden. Zudem zeigt sich die Gründlichkeit und Durchdringungstiefe im Fußnotenapparat des Buches. Dieser ist wunderbar ausführlich und keinesfalls Selbstzweck, sondern holt darin vielmehr Aspekte hervor, die selbst für Experten und Expertinnen in bestimmten Gebieten Neuheitswert bergen.

Abschließend soll das Buch an seinem eigens formulierten Erfolgskriterium gemessen werden. Dazu schreibt Kaldewey: „Erfolgskriterium ist demnach nicht die Übereinstimmung der am Ende vorliegenden neuen Selbstbeschreibung mit einer wie immer gearteten Wirklichkeit, sondern das Ausmaß, in dem es dieser neuen Beschreibung gelingt, blinde Flecken anderer Selbst- und Fremdbeschreibungen sichtbar zu machen und Paradoxien kreativ zu entfalten.“ (S. 32) Dies gelingt hervorragend.

Literatur

Clark, B.R., 1998: Creating Entrepreneurial Universities: Organizational Pathways of Transformation. Oxford

Etzkowitz, H.; Leydesdorff, L. (Hg.), 1997: Universities and the Global Knowledge Economy. A Triple Helix of University-Industry-Government Relations, London

Gibbons, M.; Nowotny, H.; Limoges, C. (Hg.), 1994: The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. London

Grande, E.; Jansen, D.; Jarren, O. et al., 2013: Neue Governance der Wissenschaft: Reorganisation – externe Anforderungen – Medialisierung. Bielefeld

Heinze, Th.; Krücken, G. (Hg.), 2012: Institutionelle Erneuerungsfähigkeit der Forschung. Wiesbaden

Whitley, R.; Gläser, J.; Engwall, L. (Hg.), 2010: Reconfiguring Knowledge Production: Changing Authority Relationships in the Sciences and Their Consequences for Intellectual Innovation. Oxford