Rezensionen
O. Friedrich: Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften. Eine kritische Analyse neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit
Eine Frage des Stils: Zur ethischen Legitimation neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit
O. Friedrich: Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften. Eine kritische Analyse neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit. Bielefeld: transcript 2014, 258 S., ISBN 978-3-83762307-9, Euro 29,80
Rezension von Reinhard Heil, ITAS
Werden das Verständnis von und der Umgang mit Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen von bestimmten Denkstilen geprägt? Und wenn ja, wie wirken sich diese auf die ethische Legitimation von neurowissenschaftlichen Eingriffen in die Persönlichkeit aus? Diesen Fragen geht Friedrich in ihrer Dissertationsschrift nach. Mit dem Konzept des „Denkstils“ schließt sie an einen leider zu selten beachteten Autor, den polnischen Immunologen und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck (1896–1961) an. Ein Denkstil im Sinne Flecks ist „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (Fleck 2008 [1935], S. 130). Der Denkstil orientiert ein „Denkkollektiv“, er umfasst in einem gewissen Sinne die historisch gewachsenen Überzeugungen innerhalb einer Gruppe, die es erlauben, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.[1] Fleck schreibt: „Solche stilgemäße Auflösung, nur singular möglich, heißt Wahrheit. Sie ist nicht ‚relativ‘ oder gar ‚subjektiv‘ im populären Sinne des Wortes. Sie ist immer oder fast immer, innerhalb eines Denkstils, vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektive an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird.“ (ebd., S. 131)
Der Denkstil bestimmt, was eine Tatsache ist und was Artefakt, wie ein korrektes Experiment aussieht und ganz elementar: was überhaupt gesehen wird und was nicht. Der Denkstil umfasst also alle – meist impliziten – normativen Überzeugungen einer Gruppe von Forscher/innen in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand und ihr Forschungsfeld.
Nachdem Friedrich das Konzept des Denkstils sehr knapp dargestellt hat, stellt sie im Anschluss ihr eigenes Verständnis von Persönlichkeit vor, welches im Folgenden als Bezugspunkt dient. Grundlage von Persönlichkeit ist der Mensch, ontologisch verstanden als „leibliches Dasein mit der biologischen Ausstattung des Homo sapiens“ (S. 22). Zwar basieren alle leiblichen Erfahrungen auf physikalischen Grundlagen, diese werden jedoch unmittelbar als die je eigenen erfahren. Der Begriff Person fügt dem Begriff Mensch nichts hinzu, erlaubt es aber „das leibliche Dasein des Menschen in seiner aktiven Auseinandersetzung in und mit der Welt zu beschreiben“ (S. 23). Persönlichkeit ist „eine Ansammlung individueller Eigenschaften, die sich sowohl auf die persönliche Innenwelt eines Menschen als auch auf den persönlichen Umgang eines Menschen mit der Umwelt beziehen“ (S. 24f.). Friedrich betont die Relevanz der Erste-Person-Perspektive, die sich nicht vollständig objektivieren lasse. Die Nichtbeachtung der Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit sei Teil des Denkstils der Neurowissenschaften, die sich vor allem auf die DrittePerson-Perspektive beziehe. Persönlichkeit sei aber unmittelbar verknüpft mit Autonomie[2]. Die Nichtbeachtung der von Friedrich sog. „mentalen Autonomie“ – d. h. des Umstands, „dass es bestimmte mentale Ereignisse geben kann, die ohne Einfluss der Außenwelt zustande kommen können“ – die „stark mit der Innenwelt einer Persönlichkeit verbunden“ (S. 33) ist, sei Teil des neurowissenschaftlichen Denkstils. Neben der Betonung der Dritten-Person-Perspektive zeichne sich der Denkstil weiter dadurch aus, dass vor allem Eigenschaften im Zentrum stehen, die bei vielen oder allen Persönlichkeiten vorhanden sind. Die neurowissenschaftliche Komplexitätsreduzierung wird von Friedrich nicht prinzipiell abgelehnt. Problematisch sieht sie allerdings Versuche, im Rahmen dieses Denkstils „bestimmte Eingriffe in den Körper mit dem Ziel der Persönlichkeitsveränderung“ (S. 88) zu legitimieren. Die Neurowissenschaften seien nicht in der Lage, qualitative mentale Erlebnisse (Qualia) zu objektiveren (S. 102), d. h. man kann zwar sehr genau beschreiben, welche neuronalen Prozesse bspw. bei einem Geschmackserlebnis ablaufen, aber nicht wie eine Person „Geschmack“ (oder ihre persönliche Freiheit oder anderes) wahrnimmt. Entscheidend sei, „dass wir für die Persönlichkeitskonzeption einen Teil des Bewusstseins annehmen müssen, der zwar ontologisch existent, aber epistemisch für Dritte unzugänglich ist“ (S. 107). Gerade dieser letzte Punkt werde jedoch von Neurowissenschaftlern oft bestritten, da sie „das philosophische Problem phänomenalen Bewusstseins für naturwissenschaftlich lösbar halten“ (S. 228) und wissenschaftstheoretische Erkenntnisse, die dies in Frage stellen, zumeist ignorieren. Die Vernachlässigung dieses Problems führt nun, laut Friedrich, dazu, dass Mitglieder des Denkkollektivs „Neurowissenschaft“ in einer bestimmten Hinsicht blind seien, nämlich dann, wenn es um die ethische Beurteilung möglicher Folgen eines neurologischen Eingriffs (egal ob operativ oder medikamentös) in die Persönlichkeit geht, da sie den Gegenstand (die Persönlichkeit), der normativ bewertet wird, nicht in seiner ganzen Komplexität wahrnehmen.
Eingriffe in die Persönlichkeit sind ethisch immer problematisch. In ihre Beantwortung vom jeweiligen Denkstil abhängige Fragen spielen hier eine große Rolle: Was ist überhaupt eine psychische Krankheit? Welche Abweichungen sind behandlungsbedürftig? Welche Norm bestimmt, was eine Abweichung ist und was nicht? Welche Eigenschaften einer Persönlichkeit sind schützenswert evtl. auch gegen den Willen der betroffenen Person? Wann gerät die Autonomie des Einzelnen in Gefahr? Dies sind Fragen, die wie Friedrich hervorhebt, auch bei Psychotherapien eine Rolle spielen, aber in den Neurowissenschaften nochmals an Bedeutung gewinnen (S. 157). Friedrich diskutiert informativ und gut verständlich die angeführten Fragen unter besonderer Berücksichtigung der Folgen von Denkstilen für die, nicht nur in der Medizinethik, relevante Vier-Prinzipien-Ethik (Autonomie, Nichtschaden, Benefizienz, Gerechtigkeit) (S. 157ff.). Die Vier-Prinzipien-Ethik reicht als Ethik mittlerer Reichweite, d. h. als einer Ethik, die für ihre Begründung auf eine Rückbindung an übergeordnete Prinzipien angewiesen ist, jedoch für die Beantwortung der Frage, „wann und wie ein Eingriff zur Veränderung der Persönlichkeit mit neurowissenschaftlichen Mitteln geboten oder verboten scheint“ (S. 202), nicht aus.
Um diese Frage beantworten zu können, unternimmt Friedrich einen interessanten „deontologischen Versuch“ (S. 202). Sie schließt an Kants Überlegungen zu den vollkommenen und unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst an. Wie nicht anders zu erwarten, kommt man jedoch auch mit Kant nicht zu einer allgemeingültige Antwort – echte ethische Dilemmata lassen sich, wie Friedrich anmerkt, nicht eindeutig auflösen. Was sich jedoch feststellen lasse, sei eine „Pflicht zur Aufklärung über Denkstile der Neurowissenschaften“ (S. 227). Die von Friedrich geforderte Aufklärung geht, wie sie schreibt, über das hinaus, was gewöhnlich im Rahmen des „informed consent“ gefordert wird. Doch eine „vollständige Aufklärung über diese Rahmenbedingungen ist kaum möglich, zumal die ‚Aufklärer‘ dem eigenen System nicht entrinnen können. Einen Versuch bezüglich erweiterter Aufklärung zu wagen ist […] jedoch Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln in diesem Bereich“ (S. 236). Leider muss man an dieser Stelle fragen, ob es sich dabei nicht um einen frommen Wunsch handelt, da bereits der gewöhnliche „informed consent“ meist auf eher schwachen Füßen steht und das umfangreiche Wissen, das zum Verständnis der Denkstilabhängigkeit notwendig wäre, wohl nur wenigen Betroffenen verständlich gemacht werden kann. Wer jedoch aufgeklärt werden könne, und auch müsse und dies als Pflicht sehen sollte, so Friedrich, seien Neurowissenschaftler, Psychiater und Therapeuten. Denkstile seien notwendig, gefährlich würden sie, wenn sie nicht reflektiert und sich ihrer Grenzen nicht bewusst gemacht würden.
Friedrichs Arbeit ist sehr informativ und gut zu lesen. Hervorzuheben ist, dass sie den neurowissenschaftlichen Denkstil zwar kritisiert, jedoch nicht verdammt, sondern auf seine Beschränkungen und die damit verbundenen ethischen Folgen hinweist. Bedauerlich ist, dass sie zwar Flecks Terminologie aufgreift, aber die für Fleck entscheidenden Fragen danach, wie ein Denkstil entsteht und wie er sich durchsetzt, nicht wirklich behandelt.
Anmerkungen
[1]Thomas Kuhns Paradigmenbegriff hat Ludwig Fleck viel zu verdanken (vgl. Kuhn 1981).
[1]Friedrich nennt vier Autonomieformen: erstens die zweckrationaler Autonomie, das zweckrationale Handeln ohne äußeren Zwang, zweitens die authentischer Autonomie, die Einnahme einer „kohärente Haltung bezüglich langfristiger, reflektierter Überzeugungen oder Wünschen“ (S. 32), drittens die Autonomiegenese und viertens die Universalisierungsautonomie (Selbstgesetzgebung).
Literatur
Fleck, L., 2008 [1935]: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M.
Kuhn, Th.S., 1981: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969. Frankfurt a. M.