Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit (Rezension)

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Jürg Minsch u.a.: Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit. Berlin: Springer, 1998. ISBN 3-540-64592-6. (Konzept Nachhaltigkeit, Hrsg. Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" des 13. Deutschen Bundestages)

Rezension von Peter Dippoldsmann, Michael Paetau, Annika Poppenborg, GMD Forschungszentrum Informationstechnik

Die Studie entstand als Kooperationsprojekt des Instituts für Wirtschaft und Ökologie der Universität Sankt Gallen (IWÖ) und des Instituts für Organisationskommunikation (IFOK). Sie wurde von der Enquete-Kommission im Rahmen ihres Studienprogrammms "Konzept Nachhaltigkeit" in Auftrag gegeben. Unter dem Arbeitstitel "Vom Was zum Wie in der Nachhaltigkeitsdebatte" beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft IWÖ/IFOK mit den institutionellen Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung. Die Enquete-Kommission hatte schon in ihrem Zwischenbericht die Frage der institutionellen Bedingungen an ein integratives Konzept von technischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Innovationen als "Schlüssel zu einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung" bezeichnet. Sie erwartet, daß von institutionellen Innovationen ähnliche Impulse für einen grundlegenden Wandel ausgehen können, wie von technischen Entwicklungen, wissenschaftlichen Entdeckungen oder neuen Weltanschauungen.

Der Nachhaltigkeitsbegriff der Studie

Die IWÖ/IFOK-Studie plädiert für einen prozeduralen Begriff der Nachhaltigkeit. Nachhaltige Entwicklung wird nicht als ein zweckrationales Vorgehen betrachtet, das sich in klare Zielvorstellungen fassen, operationalisieren und dann mit geeigneten Instrumenten umsetzen läßt. Nachhaltigkeit sei vielmehr ein zukunftsbezogener gesellschaftlicher Lern-, Such- und Gestaltungsprozeß, der durch weitgehendes Unwissen, Unsicherheit und vielfältige Konflikte gekennzeichnet ist. Diese Charakterisierung führt zur Umstellung von WAS- zu WIE-Fragen, d.h. auf die Frage, wie gesellschaftliche Lernprozesse organisiert und Zielvorstellungen entwickelt werden können, welche Weichen gestellt werden müssen und welche Voraussetzungen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft hierbei erfüllen. Nachhaltigkeit wird als "regulative Idee" verstanden.

Das methodische Vorgehen der Studie

Auf der Basis einer umfangreichen Untersuchung über die vorhandenen institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland wird ein Konzept für institutionelle Reformen erarbeitet. Ausgehend von einem polyzentrischen Politikverständnis und vier grundlegenden Problembereichen werden vier institutionelle Basisstrategien entwickelt, aus denen wiederum insgesamt 70 Reformvorschläge abgeleitet werden. Aus dem Problembereich "Fehlendes Wissen zur Wahrnehmung von Problemlagen" wird die 1. Basisregel "Reflexivität" entwickelt. Aus dem Problembereich "Fehlen von handlungsfähigen Akteuren" die 2. Basisregel "Partizipation / Selbstorganisation" abgeleitet, aus dem Problembereich "Fehlende oder falsche Anreizmuster" die 3. Basisregel "Macht- und Konfliktausgleich", und aus dem Problembereich "Fehlen von realistischen Alternativen" entsteht die 4. Basisregel "Innovation".

Die vier Basisregeln werden wie folgt ausdifferenziert:

Reflexivitätsstrategien

Selbstorganisations- und Partizipationsstrategien

Ausgleichs- und Konfliktregelungsstrategien

Innovationsstrategien

Der analytische Ansatz 

Mehrfach wird der Anspruch formuliert, sowohl für die Analyse als auch für die sich daraus ableitende Reformkonzeption einen integrativen Ansatz zu vertreten, in dem die drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales gleichberechtigt einfließen. Dieser Anspruch wird allerdings nur zum Teil eingelöst. Offensichtlich aufgrund von Vorgaben der Enquete-Kommission bei der Auftragsvergabe werden die ökonomischen und sozialen Dimensionen der ökologischen Dimension untergeordnet ("ökologischer Zugang"), so daß sich letztendlich die Analyse auf Hindernisse und Bremswirkungen, die sich aus der Verortung bestimmter Akteure im Spektrum umweltpolitischer Konstellation ergeben, reduziert.

Für diese Einschränkung auf den ökologischen Zugang mag es gute Gründe geben. So würde eine gleichmäßige Berücksichtigung aller drei Dimensionen die Komplexität des Vorhabens enorm ansteigen lassen. Dies ist aber gerade ein Grundproblem, mit dem sich die wissenschaftliche Analyse zum Thema Sustainable development explizit auseinander setzen müßte. Gerade wenn es um institutionelle Ansätze geht, spielt die Frage des Umgangs mit Komplexität eine zentrale Rolle. Die diesbezügliche weltweit geführte Debatte ist in der Studie aber kaum rezipiert worden.

Aufgefallen ist uns, daß die sogenannte Nord-Süd- bzw. Entwicklungsproblematik so gut wie vollkommen ausgeklammert bleibt. Hierdurch bekommt der gesamte Ansatz der Studie - entgegen der formulierten Intention - eine Schlagseite zugunsten der Umwelt- und zu Lasten der Entwicklungsproblematik.

Die Referenzpositionen

Das Ungleichgewicht der Behandlung ökologischer und gesellschaftlicher Probleme zeigt sich auch in der Auswahl der sogenannten Referenzpositionen für das Leitbild der Nachhaltigkeit. Die soziale und ökonomische Dimension wird nur instrumentell in bezug auf die ökologische Dimension entwickelt. So werden zum Beispiel politische Mitbestimmungs- und Partizipationsrechte nicht als eigenständiges Ziel, sondern als Form, in der sich Nachhaltige Entwicklung zu bewegen hat, verstanden.

"Win-Win-Situationen"

Die Suche nach angemessenen Institutionen konzentriert sich auf sogenannte "win-win"-Situationen, da in ihnen von vornherein die Konsensfindung im Mittelpunkt steht. Den Institutionen wird in diesem Zusammenhang die Funktion zugesprochen, zu erwartende Konflikte zu minimieren oder gar zu vermeiden. Diese Fokussierung mag zwar die Umsetzung eines integrativen Ansatzes erleichtern, läßt aber die konfliktträchtigen Aspekte aus dem Blickfeld geraten. Auch solche Reformvorschläge, die eine formelle Institutionalisierung der Möglichkeit der Interesseneinbringung und -durchsetzung ermöglichen könnten, bleiben so außer Betracht. Wenn es also im Nachhaltigkeitsprozeß um die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Interessen und ihre integrative Berücksichtigung geht, müßte der "win-win"-Ansatz um Strategien der Konfliktverarbeitung und der institutionellen Stärkung von sozialer und ökologischer Durchsetzungsmacht ergänzt werden.

Der Institutionenbegriff

Obwohl im Anschluß an den u.E. sehr sorgfältigen Überblicksteil über die Institutionendebatte sich für ein "weites Institutionenverständnis als Einstieg" entschieden wird, fällt die Studie später in ein enges und traditionelles Verständnis zurück. Dies zeigt sich immer dann, wenn von Partizipation, Beteiligung und sozialen Netzwerken gesprochen wird, deren Rolle im Prozeß einer nachhaltigen Entwicklung vor allem als ein zu berücksichtigender Faktor staatlicher Politik und Steuerung (und das heißt hier vor allem: nationalen, regionalen und lokalen Verwaltungshandelns) gesehen wird.

Eingrenzung auf formelle Institutionen

Der inhaltliche Fokus wird auf die sogenannten formellen Institutionen gelegt, insbesondere wegen des "Einflusses, den private und staatliche Akteure kurz- bis mittelfristig auf die Institutionen haben können". Informelle Institutionen würden "jenseits der Reichweite direkter gestalterischer...Interventionen" liegen. Aber auch die formellen Institutionen werden nur insoweit berücksichtigt, als sie mit privaten und staatlichen Akteuren in Zusammenhang gebracht werden können. Die formellen Institutionen werden also auf spezifische formelle Institutionen eingegrenzt. Damit bleiben andere formelle (emergente) Institutionen, wie z.B. die "Grundrechte als Institution", die nicht von vornherein auf spezifische Akteure ausgerichtet sind, systematisch aus der Betrachtung ausgeklammert. Die "Grundrechte als Institution" geraten lediglich allgemein als generelle Institutionenbündel ins Blickfeld und werden nicht in konkrete, praktisch umsetzbare Formen, also z.B. in spezifische institutionelle Rahmenbedingungen, Verfahren, Methoden oder Regeln umgesetzt.

Die Akteure

Die Klassifikation der Akteursgruppen leitet sich aus dem gewählten sogenannten politökonomischen Ansatz ab. Die zivilgesellschaftlichen Gruppen tauchen nur als "WählerInnen" und als "Interessenverbände" auf. Alle anderen Akteure ergeben sich aus der Differenzierung staatlichen Verwaltungshandelns, also politische Instanzen, Ministerialverwaltungen und Vollzugsbehörden. Diese Klassifizierung ist zu hinterfragen, weil sie von vornherein diejenigen Akteure ausschließt bzw. undifferenziert in ihrer Wählerrolle beschreibt, denen in der Agenda 21, insbesondere in der lokalen Agenda eine bedeutende Rolle beigemessen wird.

Partizipation und Selbstorganisation

Im Gegensatz zur Agenda 21, in der die "umfassende Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen" ein wesentlicher Faktor, ja eine "Grundvoraussetzung für die Erzielung einer nachhaltigen Entwicklung ist" (Teil III, Präambel), sind die in der Studie vorgestellten Partizipationsstrategien hauptsächlich "nachgeschaltete" Beteiligungsformen. Sie werden mit dem Fehlen handlungsfähiger "Koalitionspartner" begründet und erwecken zum Teil den Eindruck, hier sei eine Art "Anhörung der Bürger" gemeint. Die Kommune wird ausschließlich als ein politisch-administratives System verstanden. Viele der in der Agenda 21 explizit angesprochenen Gruppen (z.B. Frauen, Kinder und Jugendliche, Wissenschaft und Technik, Bauern) bleiben unberücksichtigt oder werden nur am Rande erwähnt (z.B. Gewerkschaften).

Trotz dieser kritischen Anmerkungen stellt die IWÖ/IFOK-Studie zweifelslos die gegenwärtig umfassendste Arbeit über institutionelle Innovationen im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung dar und bietet einen wichtigen Anknüpfungspunkt für weitere Betrachtungen.