Schwerpunktthema: Problemorientierte Forschung
Neue Wissenschaft? - Einige einführende Bemerkungen und Kommentare zum Thema: "Problemorientierte Forschung"
Problemorientierte Forschung
Neue Wissenschaft? - Einige einführende Bemerkungen und Kommentare zum Thema: "Problemorientierte Forschung"
von Gotthard Bechmann, ITAS
Die Fakten sind bekannt: Öffentliche Beunruhigung über die Zerstörung der Natur und die möglichen negativen Folgen einer forcierten wissenschaftlich-technischen Entwicklung haben zu wachsendem Druck auf die Politik geführt, den negativen Auswirkungen der weiteren Verwissenschaftlichung und Technisierung der Gesellschaft Einhalt zu gebieten. Die Steuerung dieses Prozesses ist aber ohne das Mitwirken der Wissenschaft nicht möglich. Umweltprobleme wie der Saure Regen, das Ozonloch oder der anthropogen verursachte Klimawandel sind ohne die Wissenschaft weder beobachtbar noch zu verhindern. Die Wissenschaft als Verursacher und Helfer bei Problemen der Umwelt hat dazu geführt, dass die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in Veränderung begriffen sind. Die Entstehung und der Bedarf nach einer Forschung, die sich im Zusammenhang mit diesen Problemen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik institutionalisiert hat, kann man als Indikator für eine Neubestimmung der Rolle der Wissenschaft sehen. Mit dem Schwerpunkt "Problemorientierte Forschung" greifen wir ein Thema auf, das heute in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Gesellschaft diskutiert wird. Die Debatte um die Umwelt ist zugleich auch eine Debatte um die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft. Insofern meint "Problemorientierte Forschung" mehr als nur eine methodologische oder forschungspolitische Fragestellung: Es geht um das kulturelle Verständnis der Wissenschaft. Insofern sind auch die Beiträge des Schwerpunktes in ihrer Thematik breit gefächert, ohne jedoch den Bezug zueinander zu verlieren.
Helga Nowotny sieht in ihrem Beitrag "The Need for Socially Robust Knowledge" am Ende dieses Jahrhunderts einen nicht wieder rückgängig zu machenden Veränderungsprozess im System der Wissenschaft. Eine über 200-jährige Tradition scheint an ihr Ende gekommen zu sein. Kern dieses strukturellen Wandels ist die Auflösung einer Wissenschaft, die sowohl im Hinblick auf ihr Selbstverständnis als auch im Hinblick auf ihre methodische und organisatorische Ausdifferenzierung in der Gesellschaft als kontextfrei, wertfrei und universell verstanden wird.
Aber "Wertfreiheit und Kontextfreiheit der Wissenschaft" war zum Teil schon immer
Ideologie. Wissenschaftliche Objektivität nur als Enthaltung von Werturteilen zu charakterisieren, reicht sicherlich nicht aus. Denn auch die Wertfreiheit selbst ist natürlich ein Wert, der zu Beginn der Ausdifferenzierung der Wissenschaft gegen religiöse und moralische Gängelung verteidigt werden musste. Aber auch die entgegengesetzte These der Unvermeidlichkeit von Werturteilen trifft nicht das, was mit dieser Charakterisierung von Wissenschaft intendiert ist. Wertfreiheit meint eigentlich die Präferenz für intersubjektiv gewiss übertragbare Aussagen. Für die Wissenschaft als eine Produktionsform von Wissen stellt sich die Frage, wie sie dieses Selektionsprinzip zu realisieren hat. Und genau darin, wie diese Frage beantwortet wird, sieht Nowotny den Bruch mit dem klassischen Verständnis von wissenschaftlichem Wissen.
Indem die Wissenschaft zunehmend in Wirtschaft, Politik und Kultur nachgefragt wird und in diesen Systemen Leistungen übernimmt, gewinnt der Kontext wissenschaftlichen Wissens an Bedeutung. Wissenschaft ist gezwungen, über ihre eigenen Anwendungsbedingungen und Anwendungsfolgen zu reflektieren - und sie kann dies nicht anders als mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden. Das ist ein reflexiver Selbstbezug, den das Postulat der Wertfreiheit nun gerade ausgeschlossen hat, um nicht in eine endlose Reflexionsschleife zu geraten. Denn wenn die Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklung allein auf der Basis wissenschaftlicher Methoden reflektiert werden können, und das kennzeichnet das Neue transdisziplinärer Forschung, wie Technology Assessment, ökologische Forschung, Risikoforschung, dann spricht sie über sich selbst wie über einen Naturgegenstand, und auch die neu entstandene transdisziplinäre Forschung kann wiederum auf ihre Folgen untersucht werden. Über die Riskanz der Risikoforschung und über die Folgen der Folgenforschung in Politik und Wirtschaft werden heute schon Expertisen angefertigt und in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess eingespeist.
Mit dem Reflexivwerden der Wissenschaft in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Umwelten ändert sich auch ihr Legitimationsmodus. Nicht mehr allein die "Objektivität des Wissens" ist für ihre Legitimation ausschlaggebend, sondern auch - so Nowotny - die Bedeutung und der praktische Nutzen für ihre Anwender in den unterschiedlichen Anwendungsbereichen. Damit muss aber die Rolle des Laien im Wissenssystem neu justiert werden: Ist das Laienpublikum nur passiver Abnehmer des wissenschaftlichen Wissens, gewissermaßen nur Beobachter eines ihm nicht zugänglichen Prozesses, der neben vielen Nützlichkeiten auch viel Absonderliches und zunehmend auch für die Gesellschaft Gefährliches produziert? Oder kann er in den wissenschaftlichen Produktionsprozess eingebunden werden, um selbst über die Art und Weise der Erzeugung von Wissen mitzuentscheiden? Nowotny nennt dies "the shift from a culture of scientific autonomy to a culture of accountability"(S. 15). Damit sind Fragen und Probleme der gesellschaftlichen Entdifferenzierung angesprochen, die noch weit bis in das nächste Jahrhundert die Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie beschäftigen werden.
Hierbei geht es nicht allein um die vordergründige Frage der Partizipation des Laienpublikums an wissenschaftspolitischen Entscheidungen über das Forschungsbudget oder die Festlegung von Forschungsprioritäten, sondern solche Überlegungen zielen auf den kognitiven Kern der Wissenschaft. Es steht zur Debatte, ob die Autonomie - nicht zu verwechseln mit der Autarkie - der wissenschaftlichen Produktion eine konstitutive Voraussetzung der Wissenschaft ist oder nur eine historische Gestalt ihrer Organisationsweise.
An diesem Punkt bleibt Helga Nowotny selbst unentschieden. Der Begriff "robust knowledge" ist nicht eindeutig. Meint er nur die Notwendigkeit der Reflexion auf die sozialen, politischen ökonomischen und kulturellen Randbedingungen der Wissensproduktion oder zielt er auf einen grundlegenden Wandel der Form und der Produktionsweise von Wissenschaft?
Günther Frederichs setzt mit seinen Betrachtungen "Der Wandel der Wissenschaft" genau an dieser Stelle an. Er weiß sich mit Helga Nowotny darin einig, dass das klassische Wissenschaftsmodell seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit verloren hat. Als klassisch sieht er das Paradigma der Physik an, die wissenschaftlich objektives Wissen auf ein methodisches Vorgehen reduziert hat, indem sie nur solches Wissen als objektiv gelten lässt, das durch Experimente gewonnen und unabhängig von Zeit, Ort und Person jederzeit reproduziert werden kann. Die Invarianz und die Kontextfreiheit allen Wissens sind das beherrschende Selbstverständnis dieses Modells. Erst das Entstehen neuer Wissensformen, die zwar auch im Wissenschaftssystem produziert werden, aber nicht mehr den Regel dieses Wissens entsprechen, macht die Selektivität dieses Wissensmodells bewusst.
Mit der "New Production of Knowledge" wird systematisch formuliert, was sich im Wissenschaftssystem, oft verdeckt unter dem klassischen Paradigma, inzwischen an abweichender Wissensproduktion entwickelt hat. Die Nebenfolgendiskussion und die zunehmende Integration der Wissenschaft in gesellschaftliche Entscheidungsabläufe haben immer deutlicher hervortreten lassen, dass wissenschaftliches Wissen gleichzeitig auch bewusstes Nicht-Wissen mit produziert und dass gerade in diesem Zusammenspiel die heutigen Engpässe des Wissenschaftssystems zu sehen sind.
Frederichs nennt dies das Bewusstwerden der Kontingenz auch in der Wissenschaft und sieht darin nicht nur eine Spezifik der Wissenschaft, sondern einen Grundzug der Moderne (S. 18). Insofern die Wissenschaft sich selbst als Teil dieser allgemeinen Struktur reflektiert, ist sie moderne, zeitgemäße Wissenschaft. Die Sichtbarmachung des Nichtwissens als die andere Seite des Wissens ist das eigentlich Neue an der "New Production of Knowledge".
Damit stellt sich aber das Problem, wie bei allem Kontingenzbewusstsein gleichwohl an dem Anspruch festgehalten werden kann, dass Wissenschaft Erkenntnis und nicht Nichterkenntnis produziert. Seit Popper und der daran anschließenden Diskussion wissen wir, dass die Wahrheit weder ein Ziel noch ein Kriterium wissenschaftlicher Produktion sein kann. Aber das Umschalten auf Falsifikation als Technik der Annäherung an die Wahrheit hat nur das Paradoxon hervorgebracht, dass das fortlaufende Produzieren von Fehlern auf wunderbare Weise zu Richtigkeit und Wahrheit vordringen soll.
Frederichs beschreitet einen anderen Weg. Mit den Begriffen des Eigenwerts und der Praxisrelevanz versucht er, die pragmatische und die konstruktivistische Position zu verknüpfen. Als Eigenwert versteht er die Richtung der Wissenschaft auf sich selbst. Die Richtigkeit des Wissens liegt nicht in der Übereinstimmung der Theorie mit der Realität, die es zu erfassen gälte, sondern in immer komplexeren Konstruktionen der Wissenschaft. Eigenwert meint dann das Erreichen einer anschlussfähigen Konstruktion, für die keine Alternative mehr sichtbar ist.
Nicht Beliebigkeit erzeugt das Kontingenzbewusstsein, sondern den Zwang zu anschlussfähigen Konstruktionen. Praxisrelevanz versteht Frederichs pragmatisch als gemeinsamen operativen Vollzug von Wissenschaft und Lebenswelt. Wissenschaft ist nur dann realitätsmächtig, wenn sie trotz aller Differenz zu den übrigen gesellschaftlichen Bereichen durch eine Übereinstimmung in gewissen Prinzipien, Regeln und Konstruktionen dort dennoch vorkommt. Sie muss zum Teil kongruent sein. Messen und Vergleichen, dies in formalisierter Form, war das Identitätsprinzip der klassischen Wissenschaft mit der gesellschaftlichen Praxis. Heute tritt im Zeitalter der Globalisierung und der Umweltproblematik das Kontingenzbewusstsein hinzu. Das Thematisieren des Nichtgewussten dürfte die gemeinsame Erfahrung der Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Anwendungsbereiche sein.
Klaus P. Japp greift diese Problemstellung in seinem Beitrag "Die Unterscheidung von Nichtwissen" auf und diskutiert, wie angesichts dieser Problemlage das Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und riskantem Entscheiden zu verstehen, oder präziser, neu zu verorten ist.
Traditionell spielte Nichtwissen oder Unsicherheit in der Wissenschaft eine untergeordnete Rolle. Unwissen war ein defizienter Modus des Wissens, den es zu überwinden galt, wenn nicht heute, dann doch in der näheren Zukunft. Aus dieser Grundeinstellung rührt das Aufklärungspathos der Wissenschaft, da wissenschaftliches Wissen gleichgesetzt wurde mit dem Voranschreiten der Emanzipation des Menschen aus den Zwängen der äußeren und inneren Natur. Inzwischen scheint die positivistische Überzeugung zunehmend an Plausibilität einzubüßen, die nur noch durch metaphysische Setzungen zu retten ist, wie etwa durch die Gleichung Wertfreiheit = Intersubjektivität = Wahrheit = wirkliche Welt.
Japp unternimmt eine Rehabilitation des Nichtwissens und weist ihm eine soziale Realität sui generis zu. "Diese Möglichkeit ergibt sich, wenn Nichtwissen, als (buchstäblich) andere Seite des Wissens, als andere Seite einer Unterscheidung also, verstanden wird. Nichtwissen kann dann (von Wissen) unterschieden und - eigenständig - bezeichnet werden" (S. 26). Dass diese Reflexionen keine Gedankenspiele sind, sondern in der gesellschaftlichen Kommunikation und somit in der Realität täglich vorkommen und einen eigenen Erkenntnisgewinn produzieren, macht er an Beispielen aus der Risikoforschung deutlich. In jeder Risikokommunikation, ob es sich nun um den BSE-Fall, die Kernenergie oder mögliche Gefahren der Gentechnologie handelt, immer wird mit wissenschaftlichem Wissen auch Nichtwissen unweigerlich mit erzeugt, und zwar als spezifiziertes Nichtwissen. Nicht das Verschwindenlassen des Nichtwissens, d.h. die Unsichtbarkeit der Kontingenz der Wissenschaft, ist das Problem, sondern der Umgang mit Nichtwissen in Entscheidungssituationen. Weder Dissens noch Konsens können die simultane Produktion von Wissen und Nichtwissen aus der Welt schaffen.
Auf der Basis der konstruktivistischen Erkenntnistheorie zeigt Japp, dass Erkenntnis und Handeln im Akt der Beobachtung das Gleiche erzeugen: Wissen und Nichtwissen. Wissen, so könnte man formulieren, ist, ebenso wie Handeln, Täuschung über die Komplexität der Welt. Aber der Modus ihrer Operationen ist verschieden. Wissen setzt auf Zeit, um Unsicherheit zu binden, Handeln auf Entscheidung, um trotz Unsicherheit und Nichtwissen weiter operieren zu können. Insofern, und dies ist die überraschende Pointe der Jappschen Analyse, ist die Frage, ob die moderne Gesellschaft eher eine Wissens- oder eine Risikogesellschaft sei, falsch gestellt. Er macht aus dem Oder ein Zugleich. Sie ist Risiko- und Wissensgesellschaft in einem, weil das bestimmende Merkmal die Kontingenz aller Bestände ist.
Mit der sich konsolidierenden Umweltforschung gewinnt ein vom Wissenschaftssystem immer wieder verdrängtes, aber dafür, wie alles Verdrängte, doch Anomalien und Abweichung produzierendes Problem an zunehmender Relevanz: die Debatte über die Interdisziplinarität. Die klassische Wissenschaft hat sich nach Disziplinen organisiert und ausdifferenziert. Die Disziplinen waren der Garant für die Wissenschaft, in Unabhängigkeit und Eigenständigkeit ihre Themenschwerpunkte, Forschungsprogramme und Methoden festzulegen und in Richtung Wahrheitssuche zu verfeinern und bis zur höchsten Raffinesse zu vervollkommnen. Damit treten eigene Relevanzkriterien an die Stelle von extern vorgegebenen Aufgaben. Durch Disziplinierung wurden externe Eingriffe in wissenschaftsinterne Abhängigkeiten umgewandelt, eine Entwicklung, die nicht zuletzt durch das Postulat der Wertfreiheit und die Dominanz des Methodenbewusstseins der Wissenschaft legitimatorisch abgesichert wurde. Man könnte dieses Prinzip auch als Steigerung durch Ausgrenzung bezeichnen.
Aber was geschieht mit den übergreifenden Fragestellungen, die nicht unmittelbar dem Wissenschaftssystem entstammen, die nur bearbeitet werden können, wenn das Fachwissen mehrerer Disziplinen herangezogen werden muss? Man spricht dann verschämt von interdisziplinärer Forschung und meint damit etwas, was zwar notwendig ist, auch immer wieder eingefordert wird, aber eigentlich dann doch nicht dazu gehört und die Kreise der Wissenschaft eher stört als befruchtet. Dies ist insofern kein Wunder, als Interdisziplinarität die Wissenschaft an die Kosten ihrer Disziplinierung erinnert: den möglichen Bedeutungsverlust ihrer Forschung für die Gesellschaft.
Die leidvolle und endlose Geschichte der Interdisziplinarität kann auch als Geschichte des zunehmenden Verlustes des Gesellschaftsbezugs der wissenschaftlichen Forschung gelesen werden. Schon am Anfang dieses Jahrhunderts hegte der Philosoph Edmund Husserl den Verdacht, dass die Wissenschaft die konkrete Lebenswelt verfehlt und an den wirklichen Problemen der Menschen vorbei abstrahiert und idealisiert. Interdisziplinarität war immer nur ein Substitut der Disziplinen. Daher ist sie auch immer temporär geblieben. Interdisziplinarität kennt man nur als Projekt, kaum als Institution im Wissenschaftssystem.
Wie eingangs gesagt, am Ende dieses Jahrhunderts zeichnen sich Veränderungen ab. Durch die Globalisierung der Umweltprobleme und die faktische Internationalisierung der Forschung sowie durch eine rapide wachsende finanzielle Abhängigkeit der Forschung von den staatlichen Haushalten wird von der Gesellschaft immer lauter nach dem Nutzen solcher Aktivitäten gefragt. Die Wissenschaft sieht sich mit dem Problem konfrontiert, das der Physiker Alvin Weinberg zu Beginn der 70er Jahre auf klassische Weise so beschrieben hat: Questions which can be asked of science and yet which cannot be answered by science". Er nannte solche Fragen transszientifisch und wollte sie eigentlich aus der Wissenschaft eskamotieren. Aber sie sind zurück gekehrt und machen heute schon einen Teil der Forschung aus.
Hier setzen Armin Grunwald's Überlegungen "Transdisziplinäre Umweltforschung: Methodische Probleme der Qualitätssicherung" ein. Wenn Interdisziplinarität nicht mehr in das Halbdunkel der Wissenschaft abzudrängen ist, sondern sich zunehmend zu einem wichtigen Instrument der Forschung entwickelt, das von Seiten der Gesellschaft vehement nachgefragt wird, gibt es dann eigenständige methodische Regeln für die Kontrolle der Qualität dieser Forschung?
Mit dem Begriff Transdisziplinarität versucht er, die neue Entwicklung in der Forschung zusammenzufassen, um ihre Eigenständigkeit und Eigenart gegenüber der disziplinären Wissenschaft zu profilieren. In seinen Augen zeichnet sich die transdisziplinäre Forschung durch ihren Bezug zu gesellschaftlichen Problemlagen und ihren Beitrag zu Problemlösungsstrategien aus. Damit sind zwei wesentliche Kriterien transdiszplinärer Forschung bestimmt, die aber dem Wissenschaftssystem von außen aufgegeben werden: "Das Erkenntnisinteresse ist nicht durch Begriffe wie Natur- oder Welterkenntnis geprägt, sondern durch Problemlöse- und Entscheidungsbezug des kreierten Wissens" (S. 33). Zu Recht sieht Grunwald, dass darüber hinaus noch Standards zur Beurteilung transdisziplinären Wissens entwickelt werden müssen, denn auch dieses Wissen ist wissenschaftliches Wissen und nicht Glaubens- oder Offenbarungswissen.
Zu den klassischen Standards der Qualitätssicherung, der methodischen Einlösung von Geltungsansprüchen und dem System wissenschaftsinterner Kontrolle, müssen seiner Meinung nach zwei weitere Kriterien hinzutreten: die Relevanz des Wissens und die Kompatibilität mit dem disziplinären Wissen. Das Relevanzkriterium bezieht sich auf externe und interne Ansprüche des Wissenschaftssystems, während das Kompatibilitätskriterium ein wissenschaftsimmanentes ist. Entscheidend dürfte aber sein, dass die eigentliche Qualitätssicherung des transdisziplinär gewonnenen Wissens durch das zugrunde gelegte Problem gesteuert wird. Damit wird der Problembegriff zum theoretisch und methodisch führenden Begriff der transdisziplinären Forschung. Genau genommen bedeutet dies, dass "Probleme" den Identitätskern einer Wissenschaft bilden, mit dessen Hilfe sie wissenschaftliches Wissen organisieren und auswechseln kann. Das legt es nahe, der Wissenschaft selbst die Form einer Auslegung der Probleme auf mögliche Antworten hin zu geben. Wie das aber möglich sein könnte, ist alles andere als klar.
Der Problembegriff liefert dabei das heuristische Schema der Frage nach anderen Möglichkeiten. Verwendung und Ertrag der problemorientierten Forschung hängen demnach davon ab, dass ihr Problemstellungen vorgegeben werden, die wiederum durch Theorie und Anwendungsbezug gesteuert werden. Auch hier fällt der selbstreferentielle Schluss auf.
Es wird die Unterscheidung Problem/Problemlösung durch bestimmte Operationen festgelegt. Die Unterscheidung Problem/Problemlösung ersetzt im Anspruch auf den methodologischen Primat Unterscheidungen wie Ursache/Wirkung, Zweck/Mittel oder unabhängige/abhängige Variable. Das schließt nicht aus, dass diese Unterscheidungen nicht auf abgeleiteter Ebene wiederverwendet werden. Aber sie sind nicht führend und vor allem nicht alternativlos.
Ein Problem entsteht mithin durch den Entwurf einer Differenz von Problem und Problemlösung, wobei ein Problem mehrere oder auch: gar keine Lösungen haben kann. Wichtig ist jedoch, dass die Beliebigkeit ausgeschaltet wird, das "anything goes". Die Qualität eines Problems hängt von der Limitierung der zugelassenen Problemlösung ab, und über diese Limitierung werden dann die Qualifikationen "wissenschaftlich bearbeitbar" und "gesellschaftlich relevant" gesteuert.
Damit ist gleichzeitig ein praxisförmiger Duktus verbunden. Das Verhältnis der problemorientierten Forschung zur Praxis ist nicht das einer Anwendung von vorher gewonnenem und gesichertem Wissen auf praktische Zwecke, und sie stellt sich Praxis auch nicht als Imitation theoretischen Wissens vor. Die anwendungsorientierte Wissenschaft lebt, wenn man so sagen darf, von der Hand in den Mund. Für die problemorientierte Forschung tritt die Frage der Anwendung als Applikation von Wissen in den Hintergrund. Sie ist selbst unmittelbar praktisch, da sie sich als problemstellend und problemlösend im Wissenschaftssystem konstituiert. Dieser Typus von Forschung ist auf eine offene Zukunft eingestellt, mit der Aussicht auf endloses Weitermachen, da die Differenz Problem/Problemlösung eine selbsterzeugende Operation ist.
Dieser Typus von Forschung ist zugleich auf Organisation angewiesen, da es um faktische Handlungen geht. Um problemorientiert Forschung durchführen zu können, muss man Leute einstellen, Pläne machen, Berichte schreiben und hin und wieder essen und schlafen. Innerhalb von Organisationen wird die Differenz Problem/Problemlösung temporalisiert und in die Form von Episoden gebracht. Und wie Organisation es verlangt: wer anfängt, muss auch aufhören können. Die Lösung des Problems oder das Scheitern der Problemlösung sind zu melden. Also dürfte die Form des Projektes die adäquate Organisation für diese Art der Forschung sein: zeitlich limitiert, aber als Form auf Dauer gestellt. Insofern ist die problemorientierte Forschung beides zugleich: Problem und Problemlösung und genau mit dieser Struktur weiß sie sich mit der Praxis eins.
Dass dieses sich Ineinswissen mit der Praxis nicht im Sinne von Identischsein gelesen werden darf, macht der Beitrag von Fritz Reusswig "Der Syndromansatz als Beispiel problemorientierter Forschung" auf das Nachdrücklichste klar. Problemorientierte Forschung findet im Wissenschaftssystem als wissenschaftliche Praxis statt - oder es handelt sich nicht um Forschung. Damit wird auch klar, dass auch bei der problemorientierten Forschung die Fragen der Transformation des Wissens in die Anwendungssysteme eine große Rolle spielen.
Reusswig verliert den konstitutiven Doppelbezug nicht aus dem Blick: "Syndromforschung will Probleme lösen helfen. Innerwissenschaftlich geht es um die transdisziplinäre Bewältigung von Systemkomplexität im Bereich der integrierten Modellierung von Mensch-Natur-Interaktionen, gesellschaftlich geht es um die Bereitstellung von intellektuellen Hilfsmitteln zur Vermeidung von Nicht-Nachhaltigkeit." (S. 46) Das Problem, das sich hier auftut, lässt sich so formulieren: Wie kann aus der Sicht des Wissenschaftssystems die Gesellschaft so modelliert werden, dass nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Prozesse adäquat erfasst werden können?
Gewöhnlich wird auf diese Frage mit dem Holismuspostulat geantwortet. Die Wissenschaft habe eine ganzheitliche Sichtweise zu entwickeln und die unterschiedlichen Aspekte der Wirklichkeit zu integrieren. Diese Forderung ist ebenso vordergründig, wie sie vielen Leuten plausibel erscheint. Wer alles sehen will, sieht meistens nichts, da nur Differenzen Informationen erzeugen. Auch die Wissenschaft kann nur ein selektives Bild von der Welt bzw. von der Gesellschaft entwerfen und in ihren Änderungen durchspielen. Genau auf dieser Selektivität beruht ihre immense Durchschlagskraft (vgl. Frederichs in diesem Heft).
Um mit dieser Selektivität kreativ umgehen zu können, hat sich die Wissenschaft bisher damit beholfen, Theorien aufzustellen, die Kausalhypothesen oder wenigstens Hypothesen über statistische Korrelationen zwischen Variablen beinhalten, um diese dann "empirisch" zu falsifizieren. Das funktioniert aber nur mit einer die volle Komplexität der Realität eliminierenden Zusatzhypothese "ceteris paribus" (unter konstant gehaltenen Bedingungen). Es soll Wahrheit mit Hilfe von Unwahrheit gesucht werden; oder genauer: mit Hilfe einer Unwahrheit, die so behandelt wird, als ob sie eine Wahrheit wäre (regula falsi).
Reusswig sieht das Dilemma die Global-Change Forschung darin, dass sie ihren Weg zwischen einem blinden Holismus und einem leeren Reduktionismus auf der schmalen Sandbank gesellschaftlich relevanter Erkenntnis finden muss. Der Syndromansatz versucht beide Betrachtungsweisen zu verbinden, indem er glaubt, die Nachteile beider Ansätze vermeiden und die Vorteile optimieren zu können. (S. 43) Syndrom meint dann, die Kernprobleme des Globalen Wandels zu finden, um sie in ihrer Dynamik zu modellieren und daraus belastbare Handlungsoptionen ableiten zu können. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt zunächst einmal in dem, was es nicht macht: Prognosen aufzustellen, die schon beim Erscheinen korrekturbedürftig sind, Gesetzmäßigkeiten zu formulieren, die nicht zeitinvariant sind usw.. Stattdessen wird ein heuristisches Schema angeboten, das die Ergebnisse der disziplinären Forschung integriert und zu einem dynamischen System verknüpft.
Das Interessante dieser Verfahrensweise ist, dass dadurch Lernprozesse auf Dauer gestellt werden können. Da auch der Syndromansatz ein Framing für die Forschung darstellt, muss er nicht den selektiven Zugriff leugnen, er bleibt ein Modell, aber ein Modell, das aufgrund bestimmter Konditionen laufend abgeändert werden kann und somit in die Zukunft offen ist. Damit ist auch gleichzeitig eine Brücke zwischen den Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften geschlagen. Beide können in dieses Modell ihre Erkenntnisse einspeisen, ohne vorher genau sagen zu müssen, ob es sich um Natur oder Gesellschaft handelt. Zumindest in Bezug auf den Prozesscharakter ihres Wissens unterscheiden sie sich nicht und dies dürfte hier der entscheidende Punkt sein.
So reflektiert der Syndromansatz in seiner methodischen Anlage ist, so konventionell formuliert er das Anwendungsproblem. Hier werden die sattsam bekannten Strategien eingeschlagen: Verständigung (die Wissenschaft hat klar zu sprechen); Umsetzung (die Wissenschaft hat ihre Ergebnisse an die Frau/den Mann zu bringen) und Deutung (Wissenschaft soll für den Handelnden Orientierung schaffen). Bei allen diesen guten Absichten und Vorhaben wird leicht die veränderte Rolle der Wissenschaft auf diesem Gebiet übersehen, durch die die Ergebnisse der problemorientierten Forschung zu einem explosiven Gemisch in der gesellschaftlichen Kommunikation werden können.
Gemeint ist damit, dass die Wissenschaft durch ihre Forschung einen Zusammenhang zwischen dem Wandel der Natur und den anthropogen zu verantwortenden Ursachen herstellt.
Die Forschung zum Klimawandel ist für diese These ein besonders illustratives Beispiel. Klimawandel findet immer statt, sei es global in großen Zeiträumen oder sei es in bezug auf das regionale Mikroklima auch in kürzeren Zeitintervallen. Um den Klimawandel zu politisieren, d.h. um ihn, in welcher Weise auch immer, zum Gegenstand von Regulierungen zu machen, muss zunächst zwischen natürlichem und anthropogenem Wandel unterschieden werden. Wenn dabei nennenswerte Beziehungen oder Kausalitäten isoliert werden, entsteht ein neues Forschungsfeld, und zwar in Umkehrung aller bisherigen Bezüge. Bestand vorher das Ziel der klassischen Naturforschung darin, die "Natur" des Klimas, wie es faktisch zu beobachten ist, besser zu verstehen, um anschließend Erklärungen und eventuell Gesetze abzuleiten, so werden in der Klimafolgenforschung im wesentlichen die anthropogenen Faktoren thematisiert und der Klimawandel nur noch unter dem Aspekt einer möglichen Regulierung betrachtet. Das Klima schien früher in seiner Komplexität und angesichts der Langfristigkeit seiner Änderung dem menschlichen Zugriff entzogen. Heute, mit der These des anthropogen verursachten Klimawandels hingegen, besteht die Möglichkeit, dass Eingriffe bewusst in Kauf genommen oder sogar Manipulationen geplant werden, so dass Verantwortliche dingfest zu machen sind. Klimawandel ist von einem Naturgegenstand plötzlich zu einem politischen und sozialen Konflikt umdefiniert und zu einem gesellschaftlichen Sachverhalt geworden, an dem sich weitere Forschung und politische Entscheidungen anschließen können.
Die Übersetzung eines Naturgegenstands in ein kulturelles, soziales und politisches Objekt kann in beliebiger Komplexität geschehen. Man kann z.B. zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Folgen der Verursachung unterscheiden, und man kann durch Forschung neue Zurechnungen konstruieren, sowohl lokale als auch globale. Es fällt nicht in den Aufgabenbereich der Wissenschaft zu entscheiden, aber sie kann Beschreibungen anfertigen oder Pläne und Aktionen vorschlagen. Das heißt, und das ist ein entscheidendes Novum, sie gewinnt in dem neu entstandenen Politikfeld Definitionsmacht, indem sie den Realitätsgehalt des jeweiligen Problems und seine möglichen Folgen definiert, und es werden von ihr auch die Lösungsmöglichkeiten erwartet.
Damit verlässt sie den ihr traditionell zugeschriebenen Kompetenzbereich und macht der Politik Konkurrenz. Indem die Wissenschaft eine Gefahr, nämlich die möglichen negativen Folgen eines vom Menschen unabhängigen Klimawandels, in ein Risiko verwandelt (nämlich dadurch, dass sie gesellschaftliche Verursachungen nachweist und nun die möglichen negativen Folgen gesellschaftlicher Entscheidung zurechnet), entzündet sie ein hochexplosives Gemisch von Wissenschaft und Politik. Was hier geschieht, ist eines der wesentlichen Charakteristika der Modernisierung, nämlich die Vergegenwärtigung von Gefahren als Risiko. Mit Hilfe von Computersimulation, Kostenrechnungen und sozialwissenschaftlichen Prognosetechniken werden die Folgen eines anthropogenen, also zu verantwortenden Klimawandels durchgerechnet, und das politische System wird unter Entscheidungsdruck gesetzt.
Man kann dies Subpolitik nennen (Beck) oder Self-monitoring (Giddens), wichtig ist die sich aufbauende Struktur einer politisierten Wissenschaft. Jede weitere Forschung bleibt in diesem Mechanismus von Wissen und Entscheiden eingespannt. Auch der wissenschaftliche Zweifel oder der Streit beziehen sich automatisch auf Entscheidungen. Was am Beispiel der Klimaforschung gezeigt wurde, lässt sich ohne weiteres auch am Problem der Biodiversität, der Verkarstung der Böden, im Prinzip bei allen Themen der Global-Change Forschung demonstrieren: Sobald Naturveränderungen auf menschliches Handeln wissenschaftlich zugerechnet werden, entsteht eine Spirale von Wissen und Entscheiden. Das hier aber der Grund für eine neues gesellschaftliches Verständnis von Wissenschaft liegen könnte, das sich auf den kognitiven Kern der Wissenschaft bis hin in ihr Methodenverständnis auswirkt, bleibt dem Syndromansatz verborgen.
Hier setzen die Zweifel von Peter Weingart an, wie schon der Titel seines Beitrags andeutet: "Neue Formen der Wissensproduktion: Fakt, Fiktion und Mode" . Belehrt durch eine jahrzehntelange Beobachtungspraxis des Wissenschaftssystems als Soziologe weiß er, dass das Ausrufen von gesellschaftlichen Strukturbrüchen und Postulieren von unvermeidlichen Änderungsprozessen zum Handwerk des Wissenschaftlers gehört. Denn keine Profession ist so dem Neuen und vor allem dem Zwang zu neuen Erkenntnissen verpflichtet wie die Wissenschaft.
Reputation erhält man im Wissenschaftssystem durch Entdeckungen und nicht aufgrund der Verbreitung von schon Bekanntem, zumindest muss man es dann als Neu deklarieren und unter einem anderen Firmen- und Produktnamen registrieren lassen. Weingart wirft den Vertretern der "New Production of Knowledge"-These genau dies vor. Er sieht er bei ihnen die Tendenz, Änderungsprozesse, die im Wissenschaftssystem immer vorkommen, zu Strukturbrüchen hoch zu stilisieren, wenn er zu bedenken gibt, dass die behaupteten Veränderungen nur am Rande des Wissenschaftssystems zu beobachten seien. Risikoforschung, Technology Assessment, Umweltforschung usw. seien eher randständige Aktivitäten, die zwar die Ränder des Systems unscharf werden lassen, aber im Herzen der Wissenschaft keinen wesentlichen Dissoziierungsprozess in Gang setzten: die Disziplinenstruktur und das wissenschaftliche Kontroll- und Qualitätssystem blieben davon eigentlich unberührt. Und wenn es schon zu Verschiebungen komme, seien es zumeist Selbstkorrekturen des Wissenschaftssystems und kaum von außen initiiert. "Die Stabilität der Disziplinenstruktur und ihre Widerständigkeit gegen die vermeintlich "anders strukturierten Probleme der realen Welt" ist das unumgängliche Faktum der Ausdifferenzierung von Wissenschaft" (S. 54).
Für seine Skepsis führt er empirische Untersuchungen an, die zum Teil von ihm selbst unternommen worden sind. Durch die Rezeption von sogenannten Problembereichen wie Umwelt, Nachhaltigkeit, Technikfolgen seien nicht die Disziplinen verändert worden, sondern die Probleme würden disziplinär zurecht gestutzt. Problemorientierte und disziplinäre Forschung lägen nicht so weit auseinander, wie oft behauptet wird. Auch disziplinäre Forschung konstituiere sich über Probleme.
Ein zweiter Argumentationsstrang von Weingart läuft darauf hinaus, dass er eigentlich nichts Neues sieht. Durch die gesteigerte Nachfrage nach Wissenschaft in den Anwendungsbereichen würde zwar die Wissenschaft an ökonomischen und sozialen Maßstäben gemessen, und durch die gesellschaftlichen Folgen, die sie fraglos auslöst, würde auch ihre Legitimation in Zweifel gezogen und es würden Partizipationsansprüche an das Wissenschaftssystem gestellt. Dies mögen, so Weingart, alles unbestreitbare Tatsachen sein, dass aber dadurch das Wissenschaftssystem in seiner kognitiven Arbeitsweise nennenswert umgekrempelt würde, ließe sich kaum nachweisen. Im Gegenteil, die genannten Phänomene seien schon seit langem unter dem Titel der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und der Politisierung der Wissenschaft registriert und diskontiert. Also auch hier nichts Neues unter der Sonne. Im übrigen werde der Nutzen und die Bedeutung der Partizipation der Betroffenen an der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion weidlich überschätzt und zu Unrecht romantiziert. Mit anderen Worten: worum geht es eigentlich bei der "Neuen Wissenschaft"? Eine strukturelle Änderung kann Weingart im bestehenden Wissenschaftssystem nicht ausmachen.
Nun ist es immer für Zeitgenossen schwierig, tiefgreifende Strukturbrüche zu antizipieren oder im Verlauf zu beobachten. Erst post festum stellt man den Wandel fest und ist überrascht, was sich eigentlich geändert hat und was beständig geblieben ist. Die Einführung des Buchdrucks ist solch ein Beispiel und bei der Einführung des Computers dürfte es kaum anders verlaufen. Es werden Befürchtungen geweckt, die sich dann nicht erfüllen, und es treten Effekte auf, an die keiner gedacht hat. Das mag zum einen daran liegen, dass Prozesse viel schwieriger zu beobachten sind als Strukturen, zum anderen daran, dass sich beim Wissenschaftssystem um Äderungen unserer Wissensproduktion handelt, so dass die Wissenschaft sich selbst in ihrem Änderungsprozess analysieren müsste, gewissermaßen mit den alten Erkenntnismitteln das Neue zu erfassen hat, wie weiland Münchhausen sich auch an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen musste. Die Wissenschaft ist dann zugleich Subjekt und Objekt ihrer Aktivitäten, ähnlich der sich selbst zeichnenden Hand von Escher.
Wenn wir schon nicht die zukünftige Wissenschaft sehen können und auch nicht im Wandlungsprozess präzise das Vorher und Nachher markieren können, so können wir doch beobachten, ob fundamentale Strukturen der Gesellschaft erodiert werden. Und exakt um diese Frage handelt es sich im Streit um die "New Production of Knowledge".
Weingart unterschätzt, wie mir scheint, dass mit dem Expertenstreit, dem Entstehen neuer Forschungsgebiete und der Reflexion auf die gesellschaftlichen Folgen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung nicht nur neue Themen für die Wissenschaft entstanden sind, sondern dass in einem durchaus veränderten Sinne von der gesellschaftlichen Rolle des wissenschaftlichen Wissens gesprochen werden kann. Der zentrale Punkt dürfte sein, dass die Kontingenz des wissenschaftlich gewonnenen Wissens bewusst geworden ist und in der Gesellschaft als Nichtwissen kommuniziert wird.
Mit der Auflösung der Fiktion, dass die Wissenschaft sicheres Wissen produziert, droht ein Verlust an Glaubwürdigkeit und Autorität in der Öffentlichkeit. Der öffentlich ausgetragene Expertenstreit in den Medien oder bei Anhörungen vor der Verwaltung und vor Gericht gilt mittlerweile allgemein als "Beweis", dass man sich auf die Wissenschaft nicht verlassen kann. Die Delegitimation der wissenschaftlich-technischen Experten ist zu einem Dauerproblem der Politik geworden, das auch nicht dadurch behoben wird, dass sich die "Gegenexperten", die aus den Reihen der sozialen Bewegungen kommen, nun selbst professionalisiert haben. Im Kern bleibt die Tatsache bestehen, dass in Risikokonflikten oder in Fragen der Folgen technisch-wissenschaftlicher Innovationen Expertenwissen unvollständig und umstritten bleibt, als revidierbar und hypothetisch präsentiert wird und dadurch seine eigene Kontingenz sichtbar macht. Hinzu kommt, wie die Risikoforschung gezeigt hat, dass vermehrtes Wissen nicht mit größerer Sicherheit bei Entscheidungen gleichzusetzen ist. Vielmehr macht ein Wissenszuwachs gleichzeitig bewusst, auf welch unsicherer Basis das gewonnene Wissen beruht. Es scheint so, dass durch Forschung Wissen und Unwissen gleichzeitig gesteigert wird.
Versteht man die "New Production of Knowledge" als Sichtbarwerden der Ausblendungen und der Selektivität der Wissenschaft, so zeigt sich, dass die neu entstandenen Forschungsrichtungen (Risikoforschung, Technikfolgenforschung, Ökologie) genau die Kosten der notwendigen wissenschaftlichen Simplifikationen zum Gegenstand haben. Das durchaus Neue der gegenwärtigen Situation kann man darin sehen, dass die Kritik an der Wissenschaft nicht von außen als Moral, Religion oder Ideologiekritik daher kommt, sondern als Wissenschaft formuliert wird. Die Wissenschaft spricht über sich selbst wie über etwas Drittes (Luhmann). Und dieses Wissen wird wieder in Entscheidungen eingespeist als Wissen über Bedingungen, Kontexte und Folgen des Handelns, das auch hätte anders ausfallen können. Genau aus diesem Grunde wird man durch mehr Forschung nicht mehr Sicherheit erwarten können, sondern mehr Unsicherheit, da der Alternativenreichtum des Entscheiders reflexiv gesteigert wird.
Hinzu kommt, dass der nachgefragte Wissensbedarf nicht mehr allein in Richtung technisch zu realisierender Zwecke liegt, sondern auf dem Gebiet der unerwünschten Nebenfolgen. Damit wird die Zukunft zu einem entscheidenden Parameter des Wissens. Offensichtlich besteht eine direkte Beziehung zwischen den vorhergesehenen und den nichtvorhergesehenen Folgen des Handelns. Je weiter sich der Zeithorizont des Entscheiders in die Zukunft hinausschiebt, desto wahrscheinlicher nehmen die unvorhergesehenen Folgen zu. Sachlich und sozial nimmt damit die Bedeutung des Nichtwissens für die Handelnden zu. Der Anteil des Handelns, von dem nur noch im Modus des Wahrscheinlichen bzw. Unwahrscheinlichen gewusst werden kann, wächst, und die Entscheidung selbst enthält als Basis eine nur fiktiv gesicherte Realität.
Eine Reflexion auf diese Sachverhalte muss nicht auf Relativismus oder Beliebigkeit des Wissens hinauslaufen, sie macht aber bewusst, in welchem Maß die Wissenschaft selbst riskant geworden ist und wie sie zu immer komplexeren Konstruktionen getrieben wird. Dies in einer Gesellschaft, die gar nicht anders kann, als sich Risiken zu leisten.
Das Neue der "Neuen Wissenschaft" liegt genau in dieser Erkenntnis, dass trotz aller Unsicherheit der Wissensproduktion die Wissenschaft der einzig legitime Weg ist, Wissen in der modernen Gesellschaft zu erzeugen. Nicht die Verkündung gesicherten Wissens ist ihre Aufgabe, sondern Management von Unsicherheit. Kern dieser Sichtweise ist die Kommunikation über die Unsicherheit und die Revidierbarkeit der eigenen Wissensproduktion im Austausch mit Öffentlichkeit und Politik.