Mehr Gewicht für Reproduktion und Kultur - Anregungen zur Erweiterung des HGF-Ansatzes

Schwerpunktthema - Das integrative Nachhaltigkeitskonzept der HGF im Spiegel der Praxis

Mehr Gewicht für Reproduktion und Kultur - Anregungen zur Erweiterung des HGF-Ansatzes

von Martina Schäfer, Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin

Im Rahmen des Forschungsprojekts „Regionaler Wohlstand neu betrachtet“ wurde das Integrative Nachhaltigkeitskonzept aufgegriffen, das im Verbundvorhaben "Global zukunftsfähige Entwicklung - Perspektiven für Deutschland" von Forschungszentren der Helmholtz Gemeinschaft (HGF) entwickelt wurde. Der Ansatz diente als Grundlage, um das projektinterne Nachhaltigkeitsverständnis zu klären und einen konzeptionellen Rahmen für die Erstellung eines Indikatorensets zu entwickeln. Als positiv wurden die normative Herleitung des Ansatzes und die Integration der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension auf der Analyse- und Zielebene empfunden. Schwächen aus Sicht unseres Forschungsprojekts wurden hinsichtlich der unzureichenden Offenlegung des zugrunde liegenden Verständnisses von Ökonomie und der nicht konsequenten Verfolgung eines Genderansatzes gesehen. Das Regelsystem wurde daher um die Sphäre der Reproduktion - sowohl hinsichtlich der zu berücksichtigenden Arbeitsformen als auch in Bezug auf das Naturverständnis - erweitert. Es wird außerdem unser Verständnis von Nachhaltiger Entwicklung als kulturellem Wandlungsprozess in seiner Bedeutung für die Operationalisierung erläutert. Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts soll erprobt werden, ob der entwickelte Untersuchungsrahmen als methodischer Schritt hilfreich ist, um mehrdimensionale Wohlfahrtswirkungen einer regionalen Branche (der ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft) zu erfassen.

1     Einleitung

Ziel des interdisziplinären Forschungsprojekts „Regionaler Wohlstand neu betrachtet“ [1] ist es zu untersuchen, inwieweit eine regionale Branche - die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft - im sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Bereich zu Wohlstand beiträgt. Als Grundlage für eine Operationalisierung dienen dabei die Konzepte von nachhaltiger Entwicklung und von Lebensqualität, die in einem integrativen Untersuchungsrahmen „zukunftsfähiger Wohlstand“ verknüpft werden. Mit der Herausarbeitung der Synergien und Konflikte zwischen beiden Konzepten möchten wir einen Beitrag zur wechselseitigen Erweiterung der jeweiligen analytischen Perspektiven leisten (Schäfer et al. 2003). Im weiteren Verlauf des Projekts werden wir auf Grundlage des Untersuchungsrahmens qualitative und quantitative Indikatoren zur Beschreibung zukunftsfähigen Wohlstands ableiten und diese im Rahmen der empirischen Untersuchung erproben. Im Vergleich zu anderen Projekten, in denen Nachhaltigkeitsindikatoren formuliert werden, müssen wir uns dabei nicht auf vorhandenes Datenmaterial beschränken, sondern besitzen die Möglichkeiten, wichtige Sachverhalte selbst empirisch zu erfassen. Dabei geht es uns besonders darum, bisher wenig anerkannte und offensichtliche Formen gesellschaftlicher Wohlfahrt aufzudecken und zu beschreiben. Nach der Empirie lassen sich Schlussfolgerungen dahingehend ziehen, inwieweit sich der komplexe Orientierungsrahmen für die Ableitung von Indikatoren in einem spezifischen Kontext eignet.

Um unser projektinternes Nachhaltigkeitsverständnis zu klären, haben wir uns intensiv mit dem HGF-Ansatz beschäftigt (Kopfmüller et al. 2001) und ihn als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen zur Operationalisierung von Nachhaltigkeit genutzt. Die folgenden Anmerkungen bezüglich der Schwächen des Ansatzes sollen einen Beitrag leisten zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion über nachhaltige Entwicklung und ihre Operationalisierung. Dies geschieht in voller Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung, die der Entwicklung des Ansatzes zugrunde liegt und in dem Bewusstsein der Schwierigkeiten, die ein derart komplexes Vorhaben mit sich bringt.

2     Stärken des HGF-Ansatzes

Als Stärken des HGF-Ansatzes haben wir wahrgenommen, dass sich die Autor/innen eingehend mit vielfältigen Nachhaltigkeitskonzepten auseinander gesetzt und ihre Position sehr systematisch abgeleitet haben. Überzeugend fanden wir die Abkehr von einer Operationalisierung nach einzelnen Dimensionen oder Säulen, da diese - wie durch verschiedene Beispiele belegt - die Gefahr mit sich bringt, dass Zielkonflikte und Wechselwirkungen nicht erkannt werden und eine spätere Integration kaum noch möglich ist. Der Versuch der Integration auf der Zielebene entsprach außerdem eher unserem Anspruch an interdisziplinäres Arbeiten.

Unserer Projektfragestellung entgegen kam die Formulierung von global gültigen Mindestanforderungen nachhaltiger Entwicklung. Da wir im weiteren Verlauf eine Branche (die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft) untersuchen, die umfangreiche internationale Vernetzungen aufweist und uns mit einem Bedürfnisfeld beschäftigen, dessen Ausgestaltung starken Einfluss auf die Lebensbedingungen in anderen Regionen ausübt, können wir in einer Analyse der Beiträge dieser Branche zu zukunftsfähigem Wohlstand die globale Ebene nicht außen vor lassen.

Die Formulierung von Mindestanforderungen (die im HGF-Ansatz allerdings schon ein sehr breites Spektrum umfassen) halten wir außerdem für sinnvoll, um das Konzept der Nachhaltigkeit nicht zu überfrachten. Im Rahmen unseres Projekts erfolgt eine Erweiterung dieser Mindestanforderungen durch das Konzept der Lebensqualität. In einem Abgleich der beiden Konzepte können wir identifizieren, welche Qualitäten einen Beitrag zu einem „guten Leben“ leisten, ohne die Anforderungen nachhaltiger Entwicklung zu gefährden. Nach dem bisherigen Projektstand handelt es sich hierbei größtenteils um immaterielle Ausprägungen von Lebensqualität wie befriedigende Beziehungen, Zeitverfügbarkeit, Lebensfreude, regionale Identität, Selbstverwirklichung etc.. Durch die Gegenüberstellung der beiden Konzepte „nachhaltige Entwicklung“ und „Lebensqualität“ erhoffen wir uns eine Erweiterung der im Zentrum der Nachhaltigkeitsforschung stehenden Frage: „Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um für heutige und künftige Generationen die Lebensgrundlagen und Entwicklungschancen zu sichern?“ um den Aspekt „.... und wie kann ein gutes Leben unter diesen Bedingungen aussehen?“.

3     Schwächen des HGF-Ansatzes

3.1     Global gültig - aber leider nicht für Frauen?!?

Als hauptsächliche Schwäche haben wir es empfunden, dass im HGF-Ansatz keine konsequente Genderperspektive verfolgt wird. Darunter verstehen wir, dass Genderdimensionen sowohl auf der strukturell-konzeptionellen Ebene (implizit) als auch auf der individuellen Ebene der Geschlechterdifferenzen (explizit) Eingang finden (Weller 2003). An einigen Stellen der Ausführungen wird zwar auf die Bedeutung der Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen verwiesen, aber diese Aspekte finden sich im Ziel- und Regelsystem und insbesondere bei der Formulierung der Indikatoren nur ansatzweise wieder.

Eine strukturell-konzeptionelle Berücksichtigung von Genderdimensionen erfordert aus unserer Sicht, das zugrunde liegende Verständnis von Ökonomie und Arbeit zu explizieren. Wird unter Ökonomie ausschließlich die Marktökonomie mit ihren Gesetzmäßigkeiten verstanden oder wird darunter auch die Reproduktionsökonomie gefasst? Beinhaltet der Begriff Produktivität beide Sphären oder schließt er die Versorgungswirtschaft aus? Ist Arbeit gleichbedeutend mit Erwerbsarbeit oder fallen hierunter auch andere Tätigkeitsformen? Je nach konzeptionellem Ausgangspunkt werden sich das Verständnis und die Auslegung von Regeln z. B. zur Grundversorgung, der Existenzsicherung oder der Erhaltung der sozialen Ressourcen deutlich unterscheiden.

Im HGF-Ansatz ist an diesem Punkt keine durchgängige Linie erkennbar. In den Ausführungen zur „Selbständigen Existenzsicherung“ wird zwar auf die gesellschaftliche Bedeutung anderer Arbeitsformen neben der Erwerbsarbeit verwiesen (Kopfmüller et al. 2001, S. 203 ff), dies führt aber nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem heute üblichen Produktivitätsbegriff, der sich i. d. R. auf marktförmig vermittelte Tätigkeiten beschränkt. Die vorher in der Beschreibung der Regeln aufgespannte Komplexität findet sich dann v. a. bei der Formulierung der Indikatoren nicht wieder. „Produktivität“ wird in diesem Teil direkt verknüpft mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit (deren Bedeutung für nachhaltige Entwicklung im Vorfeld nicht ausgeführt wird) und näher gefasst in Form von Indikatoren wie der Export-Import-Relation, der relativen Patenthäufigkeit sowie der Arbeits- und Kapitalproduktivität. Ein auf Marktökonomie beschränktes Verständnis von Ökonomie wird weiterhin deutlich in der Formulierung der Regel zur nachhaltigen Entwicklung von Sach-, Human- und Wissenskapital. (Regel 2.5). Zunächst impliziert bereits der Begriff „Kapital“ eine Beschränkung auf marktförmige, monetäre Austauschprozesse. Die Regel selbst betont, dass die erwähnten Kapitalformen so entwickelt werden sollen, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhalten bzw. verbessert wird. Es wird darauf verwiesen, dass Aspekte, die über eine wirtschaftliche Nutzbarkeit hinausgehen, in anderen Regeln (z. B. zur Erhaltung der sozialen Ressourcen) behandelt werden - hierunter fällt dann wohl auch die Sphäre der Reproduktionsökonomie mit ihren Tätigkeitsformen. Dass Versorgungstätigkeiten - durch die grundlegende menschliche und gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigt werden und die mindestens die Hälfte gesellschaftlicher Arbeit ausmachen (vgl. Hans Böckler Stiftung 2000, S. 485) - aus dem Bereich der Ökonomie ausgegliedert und dem Bereich „des Sozialen“ zugeordnet werden, ist bereits seit Jahrzehnten Gegenstand feministisch-ökonomischer Kritik.

3.2     Von hehren Ansprüchen und klassischen Indikatoren

Wie oben erwähnt, schätzen wir am HGF-Ansatz die systematische Herleitung der konstitutiven Elemente sowie die äußerst differenzierten Ausführungen zum Verständnis der Regeln. Diese Ausführungen vermitteln ein sehr breites und umfassendes Verständnis von nachhaltiger Entwicklung unter Berücksichtigung verschiedenster Diskurse und theoretischer Überlegungen (z. B. zu Gerechtigkeit, Sozial- und Humankapital etc.)

Den Erwartungen, die hier geweckt werden, wird das entwickelte Indikatorensystem unseres Erachtens jedoch nur in Ansätzen gerecht. Positiv wird die Kombination von objektiven und subjektiven Indikatoren bewertet, da hierdurch ganz unterschiedliche Sachverhalte ermittelt werden können - und sich durch die Erfassung subjektiver Einschätzungen z. B. auch Geschlechterdifferenzen gut aufzeigen lassen. Überwiegend wird zur Operationalisierung der Regeln jedoch auf sehr klassische Indikatoren zurückgegriffen. Das HGF-Projekt befindet sich an dieser Stelle in demselben Dilemma wie viele andere Projekte, in denen Nachhaltigkeitsindikatoren formuliert werden: da selber keine empirischen Untersuchungen durchgeführt werden, besteht die Notwendigkeit, auf verfügbare Daten zurückzugreifen. Aktuelle Datenbestände spiegeln jedoch auch immer die aktuellen politischen Prioritäten sowie das aktuelle Verständnis von Ökonomie, Wohlstand und dem Umgang mit der natürlichen Mitwelt wider. Für eine Beschreibung nachhaltiger Entwicklung - der andere Prioritäten zu Grunde liegen - werden in Zukunft sicherlich auch anders ausgerichtete Datenbestände notwendig. Wünschenswert wären in einem derart umfangreichen Projekt zusätzliche Ausführungen dahingehend gewesen, an welchen Punkten eine Diskrepanz zwischen den formulierten Zielen und der Möglichkeit ihrer Überprüfung anhand der vorliegenden Datenbestände besteht und welche zusätzlichen Erhebungen notwendig wären, um Aussagen über die (Nicht-)Nachhaltigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft in bestimmten Bereichen treffen zu können. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die im Rahmen des HGF-Projekts formulierten Regeln und Indikatoren in Zukunft sicherlich von anderen Projekten als Vorlage genutzt werden.

Der Rückgriff auf vorhandene Datenbestände führt stellenweise zu einer starken Verengung der ursprünglich sehr breit angelegten Sichtweise. Um einige Beispiele zu nennen: Bildung sowie Human- und Wissenskapital werden ausschließlich durch Indikatoren zu Formen klassischer Bildung über Schulen und Universitäten beschrieben. Andere gesellschaftliche Bereiche, in denen Human- und Wissenspotenzial geformt werden bzw. Bildung im weiteren Sinne vermittelt wird, sind nicht präsent. Weiterhin empfinden wir die Indikatoren, die die Erhaltung des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt beschreiben, in ihrem Spektrum als sehr eingeschränkt. Kultur wird hier v. a. durch Kriterien wie die Anzahl an denkmalgeschützten Bauwerken, die Anzahl von Museumsbesuchen und Arbeitsplätzen im Kulturbereich beschrieben. Der gesamte Bereich der kulturellen Praxis - der sich im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung sicher gravierend verändern müsste (also z. B. Konsumgewohnheiten, Prestigeverhalten etc.) - wird somit nicht berücksichtigt (s. 4.2).

Was die unter 3.1 geäußerte Kritik eines mangelnden Einbezugs von Genderaspekten in die Entwicklung des Ziel- und Regelsystems betrifft, so trifft dies auch für die Formulierung des Indikatorensystems zu. Punktuell sind - insbesondere unter dem Ziel Chancengleichheit - Indikatoren vertreten, die eine derartige Perspektive beinhalten (z. B. Quotient aus Arbeitszeit für bezahlte und unbezahlte Arbeit, Gender Empowerment Measure, Ganztagskindergartenplätze). Es kann jedoch nicht davon gesprochen werden, dass diese Perspektive systematisch eingeflossen ist, was z. B. daran deutlich wird, dass nirgendwo erwähnt wird, dass Indikatoren wie die Zahl der Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfänger, Jugendliche ohne Ausbildungsplatz, Anteil Voll-, Teilzeit- und geringfügig Beschäftigter etc. nach Geschlechtern aufgeschlüsselt werden sollen.

4     Modifikationen oder Erweiterungen des HGF-Ansatzes

Wie oben ausgeführt, haben wir den HGF-Ansatz als Ausgangspunkt für die Klärung unseres Nachhaltigkeitsverständnisses genutzt. An den Punkten, an denen wir aufgrund unserer Projektfragestellung Schwächen identifiziert haben, haben wir das Ziel- und Regelsystem modifiziert bzw. erweitert. Die Aufgabe der Operationalisierung dieser Regeln in Form von Indikatoren steht uns im Projekt noch bevor. Wir versuchen dies allerdings nicht in einer allgemeingültigen Form, sondern kontextbezogen für eine regionale Branche. Dennoch wird es schwierig werden, die durch das Regelsystem aufgespannte Komplexität in Form von Indikatoren abzubilden.

Im Folgenden sollen unsere Modifikationen und Erweiterungen kurz erläutert werden.

4.1     Strukturell-konzeptioneller Einbezug von Genderdimensionen
4.1.1     Das „Ganze“ der Ökonomie

Für den systematischen Einbezug von Genderdimensionen auf der konzeptionellen Ebene halten wir es für essentiell, als Basis für die Operationalisierung von nachhaltiger Entwicklung unser Verständnis von Ökonomie und Arbeit darzulegen. Dabei beziehen wir uns auf theoretische Überlegungen der Ökologischen Ökonomie (Busch-Lüty, Biesecker, Hofmeister u. a.), z. B. das Konzept des Vorsorgenden Wirtschaftens und die Mikroökonomik aus sozial-ökologischer Perspektive (MISÖP; Biesecker und Kesting 2003). Im Gegensatz zur Neoklassik, die die Marktökonomie als einen Bereich betrachtet, der sich im Austausch mit der - externen - sozialen und natürlichen Umwelt befindet, versteht die MISÖP Ökonomie als eingebettet in die natürliche Mitwelt und die soziale Lebenswelt. Ökonomie wird als Einheit von Markt- und Versorgungsökonomie gesehen und die geschlechtliche Arbeitsteilung somit an zentraler Stelle aufgegriffen (Biesecker und Kesting 2003, S. 13).

Ökonomie ist nicht durch natürliche Gesetze, sondern von sozialen Beziehungen und Institutionen geprägt. Sie ist somit gestalt- und veränderbar. Aufgabe einer zukunftsfähigen Ökonomie sollte es sein, allen heute lebenden Menschen und künftigen Generationen die Chance zu eröffnen, ein jeweils von ihnen selbst definiertes „gutes Leben“ [2] leben zu können (Biesecker und Kesting 2003, S. 5). Dem in der orthodoxen Ökonomie vertretenen Menschenbild des sozial isolierten, Nutzen maximierenden homo oeconomicus wird ein Mensch mit komplexem Vernunftpotenzial gegenübergestellt, der sich in sozialen Kontexten bewegt. Daraus ergibt sich, dass Individuen nicht nur erfolgsorientiert handeln, sondern auf der Basis von ökologischen, sozialen und ethischen Werten (Staveren 2001, S. 1-24).

Aus dem dargestellten Ökonomieverständnis (MISÖP) resultiert ein breiter Arbeitsbegriff, der unter Einbezug einer feministischen Perspektive Produktion und Reproduktion als Einheit begreift. Zukunftsfähige Arbeit sollte so gestaltet werden, dass die verschiedenen Arbeitsproduktivitäten mit der Produktivität der natürlichen Mitwelt so verknüpft werden, dass Wirtschaft, Gesellschaft und Mitwelt dauerhaft lebensfähig sind. Allen Menschen sollte die Teilhabe an den verschiedenen Arbeitsprozessen ermöglicht werden (Biesecker und Kesting 2003, S. 384 ff.).

Die Modifikationen, die wir am Ziel- und Regelsystem des HGF-Ansatzes vorgenommen haben, ergeben sich aus dem Anspruch, dass das geschilderte Verständnis von Ökonomie und Arbeit in dem Ziel- und Regelsystem deutlich wird. So erwies sich das im HGF-Ansatz aufgestellte generelle zweite Ziel „Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotenzials“ (Kopfmüller et al. 2001, S. 172) aus Projektperspektive als zu einseitig auf Marktökonomie und Produktionsprozesse fokussiert - zumindest sofern nicht an anderer Stelle ein erweitertes Verständnis von Produktion und Produktivität formuliert wird. Stattdessen erfordert zukunftsfähiges Wirtschaften nach unserem Verständnis, den Bereich des Reproduktiven gleichrangig zur Produktion zu behandeln. In das entsprechende Ziel wird daher die Sphäre der Reproduktion aufgenommen („Erhaltung des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionspotenzials“).

Auf die ausschließliche Orientierung an marktvermittelten Tätigkeiten, die sich in dem Begriff „Kapital“ widerspiegelt, wird mit einer Modifikation der Regel 2.5 („Nachhaltige Entwicklung des Sach-, Human- und Wissenskapitals“) reagiert. Hier war es uns zum einen wichtig, den Begriff des „Potenzials“ zu wählen, der auch nicht marktliche Qualitäten umfasst und zum anderen zu berücksichtigen, dass die Erhaltung und Weiterentwicklung von Sachmitteln, Human- und Wissenspotenzial für reproduktive Tätigkeiten im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Es resultieren zwei Regeln: 2.6 „Nachhaltige Entwicklung der menschengemachten Sachmittel für Produktion und Reproduktion“; 2.7 „Nachhaltige Entwicklung des Human- und Wissenspotenzials für Produktion und Reproduktion“.

Die gleichberechtigte Berücksichtigung produktiver und reproduktiver Tätigkeiten ist weiterhin im Rahmen der Ausformulierung der Regeln 1.2 („Gewährleistung der Grundversorgung“), 1.3 („Selbständige Existenzsicherung“), 3.1 („Chancengleichheit im Hinblick auf Bildung, Beruf, Information“) und 3.5 („Erhaltung der sozialen Ressourcen“) von Bedeutung.

4.1.2     Das „Ganze“ der Natur

In Anlehnung an Held et al. halten wir es außerdem für wichtig, der Bedeutung der Reproduktivität auch im Umgang mit Natur Rechnung zu tragen. Held et al. kritisieren, dass die Ansätze der Operationalisierung von nachhaltiger Entwicklung weiterhin an einer Trennung zwischen Input und Output bzw. Ressourcen und Senken festhalten, obwohl sie in ihrer Kritik an der bisherigen Form der Durchflusswirtschaft übereinstimmen (Held et al. 2000, S. 257). „Die Natur, die ökologisch eins ist, zerfällt im vorherrschenden Denken und in der ökonomischen Bewertung in zwei anscheinend unabhängig voneinander funktionierende Teile: der Vorrat an Ressourcen und der Vorrat an Aufnahmekapazitäten werden ausgehend von dieser ökonomischen Logik zu zwei Naturen“ (ebd., S. 258, Hervorheb. i. O.). Held et al. halten dieser Sichtweise entgegen, dass die Produktion auf der Quellenseite und Abbau und Ablagerung auf der Senkenseite untrennbar miteinander verbunden und abhängig voneinander sind. Alle Aufbauprozesse in der Natur beruhen letztlich auf der Wiederverwertung abgebauter und zerlegter Stoffe aus früherer Naturproduktion. Die Verbindung zwischen Abbau und Aufbau wird bei Held et al. als Reproduktion bezeichnet; Produktion ist demnach ohne Reproduktion nicht möglich. Für anthropogene Stoffströme folgt daraus, dass sie von vorneherein mit dem Ziel der Rückführung in den Stoffhaushalt der Natur so gestaltet werden, dass sie zur räumlichen und zeitlichen Diversität der Ökosphäre passen (ebd., S. 263).

Im HGF-Ansatz werden Überlegungen in eine ähnliche Richtung angestellt, indem die Regel zur Nutzung erneuerbarer Ressourcen enthält, dass neben der Beachtung der Regenerationsfähigkeit auch die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der jeweiligen Ökosysteme durch menschliche Eingriffe nicht gefährdet werden sollen. Neben die quantitative Dimension - die Nutzungsintensität - tritt somit auch eine qualitative Dimension, die Nutzungsart (Kopfmüller et al. 2001, S. 220 f).

Im Rahmen der Projektfragestellung werden die dargestellten Überlegungen zur Reproduktion der natürlichen Lebensgrundlagen jedoch als eine so wichtige Erweiterung angesehen, dass eine zusätzliche Regel zur Erhaltung und Förderung der Reproduktivität der Natur (Regel 2.4) ergänzt wird. Aus Gründen der Operationalisierbarkeit werden die Regeln zum Umgang mit Quellen und Senken (Regeln 2.1 bis 2.3) jedoch - anders als bei Held et al. - zunächst beibehalten und es wird im weiteren Verlauf geprüft, inwieweit eine derartige Herangehensweise zu zusätzlichem Erkenntnisgewinn führt.

4.2     Nachhaltigkeit als kultureller Wandlungsprozess

Noch deutlicher als im HGF-Ansatz möchten wir im Rahmen unseres Projekts einem Wandel der dominanten Kultur(en) für eine Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle beimessen. Wenn Nachhaltigkeit im HGF-Ansatz zusammenfassend definiert wird als „die Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten in und zwischen den Generationen, in einer globalen Perspektive und vor dem Hintergrund eines aufgeklärten Anthropozentrismus“, so verstehen wir die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit als kulturellen Wandlungsprozess, der das Ziel hat, eine Kultur der Nachhaltigkeit zu etablieren.

Gründe für die Bedeutung, die wir einem kulturellen Wandlungsprozess beimessen, sind:

Für unsere Auslegung des HGF-Ansatzes bedeutet dies Ergänzungen sowohl auf der Ebene der „Was-Regeln“ als auch der „Wie-Regeln“. Nach unserem Verständnis wird eine Kultur der Nachhaltigkeit durch die Gesamtheit der inhaltlichen Regeln (Was-Regeln) des integrativen Ansatzes wiedergegeben. Wenn diese Regeln Eingang in alle Handlungsebenen gefunden haben, hat sich eine Kultur der Nachhaltigkeit entwickelt. Diese Regeln sind jedoch nicht als ein starres System zu verstehen, sondern bedürfen der fortlaufenden kritischen Reflektion und Weiterentwicklung. Aufgrund des Potenzials, Utopien zu entwickeln und ihrer gesellschaftskritischen Kompetenz spielen Kunst und Kultur hierbei und für die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit des Nachhaltigkeitsdiskurses eine wesentliche Rolle (vgl. Kurt 2002). Der kulturelle Wandlungsprozess hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft äußert sich in der Gesamtheit der dafür nötigen Instrumente, Rahmenbedingungen und Fähigkeiten (Wie-Regeln). Hierzu gehören institutionelle, politische und ökonomische Instrumente, Technologieentwicklung, Lernprozesse und symbolische Praktiken wie Werte, Lebensformen, Glauben etc., aber auch die oben erwähnte kritische Auseinandersetzung mit dem Leitbild der Nachhaltigkeit und dessen Weiterentwicklung z. B. durch Kunst.

Im HGF-Ansatz wird in den Ausführungen zur Regel 3.3 („Erhaltung des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt“) sehr differenziert auf die Bedeutung von Kultur für nachhaltige Entwicklung eingegangen (Kopfmüller et al. 2001, S. 257 ff). Das dort formulierte Verständnis von Kultur impliziert u. E. zum einen jedoch, dass eine kulturelle Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit sich nicht im Rahmen einer Regel formulieren lässt, sondern sich in der Gesamtheit der Regeln widerspiegelt. Zum anderen richtet sich unsere Kritik erneut gegen die in diesem Zusammenhang formulierten Indikatoren. „Kulturelle Vielfalt“ beinhaltet, Kulturen mit unterschiedlichen symbolischen Praktiken (Werten, Lebensformen, Glauben etc.) und künstlerischem Wirken zu erhalten. Zum anderen müsste eine Förderung von kultureller Praxis zur Weiterentwicklung des Leitbildes der Nachhaltigkeit Ziel dieser Regel sein. Dieses Verständnis von Kultur wird durch die formulierten Indikatoren nicht ausreichend abgebildet (s. Kapitel 3.2).

5     Fazit

Unsere Auseinandersetzung mit dem HGF-Ansatz und die vorgenommenen Modifikationen und Erweiterungen aufgrund eines unterschiedlichen Verständnisses von Ökonomie und Kultur stellen einen Beitrag zur Operationalisierung von nachhaltiger Entwicklung dar, der evtl. für andere künftige Projekte hilfreich sein kann. Darüber hinaus setzen wir uns mit dem Konzept der Lebensqualität auseinander und analysieren, inwieweit sich die analytischen Zugänge der Konzepte von Lebensqualität und Nachhaltigkeit befruchten oder in Konflikt zueinander stehen. Wir erhoffen uns dadurch eine bessere Einbettung des politischen Konzepts der nachhaltigen Entwicklung in einen lebensweltlichen Kontext und damit eine bessere gesellschaftliche Anschlussfähigkeit.

Wir sind uns allerdings bewusst, dass wir durch eine weitere Ausdifferenzierung des ohnehin komplexen HGF-Ansatzes vor erheblichen Herausforderungen bezüglich der Formulierung eines handhabbaren Indikatorensets stehen. Gerade für die Bereiche Reproduktion und Kultur, deren Wichtigkeit wir herausgestellt haben, existieren kaum quantitativ fassbare Kriterien, so dass ihr Beitrag zu zukunftsfähigem Wohlstand wahrscheinlich vor allem qualitativ beschrieben werden muss. Eine anspruchsvolle Aufgabe wird es dann sein, diesen eher weichen qualitativen Sachverhalten neben den harten quantitativen ökonomischen oder ökologischen Daten in der Wissenschaft und Politik Gehör zu verschaffen und damit einen Beitrag zu dem häufig als notwendig erachteten Paradigmenwechsel bzw. der Verlagerung von Prioritäten zu leisten.

Anmerkungen 

[1] Das Projekt „Regionaler Wohlstand neu betrachtet - der Beitrag der ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft zu Lebensqualität“ wird im Rahmen der Sozial-ökologischen Forschung von 2002-2007 vom bmb+f gefördert und ist am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin sowie dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) angesiedelt.

[2] Mit dem Begriff des „guten Lebens“ lehnen wir uns zum einen an die Ausführungen von Martha Nussbaum an, die Wohlfahrt an den Möglichkeiten misst, ein gutes Leben zu führen und dafür elementare menschliche Funktionen ableitet (Nussbaum 1998, S. 214 f). Zum anderen orientieren wir uns an Ausführungen des Netzwerks Vorsorgendes Wirtschaften, das davon ausgeht, dass über die Befriedigung miteinander in Konflikt stehender Bedürfnisse diskutiert werden muss, um unterschiedliche Vorstellungen eines guten Lebens besser vereinbaren zu können (Jochimsen et al. 1994, S. 9; Biesecker et al. 2000, S. 62 ff).

Literatur

Biesecker, A.; Kesting, S., 2003:
Mikroökonomik. Eine Einführung aus sozial-ökologischer Perspektive. München: Oldenbourg

Biesecker, A.; Mathes, M.; Schön, S.; Scurrell, B. (Hrsg.), 2000:
Vorsorgendes Wirtschaften. Auf dem Weg zu einer Ökonomie des Guten Lebens. Bielefeld: Kleine (Wissenschaftliche Reihe; 132)

Hans Böckler Stiftung (Hrsg.), 2000:
Arbeit und Ökologie. Abschlussbericht zum Projekt Nr. 97-959-3. Düsseldorf

Held, M.; Hofmeister, S.; Kümmerer, K.; Schmid, B., 2000:
Auf dem Weg von der Durchflussökonomie zur nachhaltigen Stoffwirtschaft. Ein Vorschlag zur Weiterentwicklung der grundlegenden Regeln. In: GAIA 9 (4), S. 257-266

Hoffmann, J.; Reisch, L.; Scherhorn, G., 1998:
Ethische Kriterien zur Bewertung von Unternehmen - Bericht über den Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden. In: Forum Wirtschaftsethik 6(4), S. 3-6

Jochimsen, M.; Knobloch, U.; Seidl, I., 1994:
Vorsorgendes Wirtschaften. In: Politische Ökologie, Sonderheft 6, S. 6-11

Kopfmüller, J.; Brandl, V.; Jörissen, J.; Paetau, M.; Banse, G.; Coenen, R.; Grunwald, A., 2001:
Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin: edition sigma (Global zukunftsfähige Entwicklung - Perspektiven für Deutschland, Band 1)

Kurt, H., 2002:
Impulse aus der Kunst für eine nachhaltige Konsumkultur. In: Scherhorn, G.; Weber, C. (Hrsg.): Nachhaltiger Konsum. Auf dem Weg zur gesellschaftlichen Verankerung. München: ökom Verlag

Nussbaum, M.C., 1999:
Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Schäfer, M.; Nölting, B.; Illge, L., 2003:
Zukunftsfähiger Wohlstand. Analyserahmen zur Evaluation nachhaltiger Wohlstandseffekte einer regionalen Branche. Discussion paper des Zentrums Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin Nr. 10/03; http://www.regionalerwohlstand.de

Schenkel, W., 2002:
Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit? In: Kurt, H.; Wagner, B. (Hrsg.): Kultur - Kunst - Nachhaltigkeit. Essen: Klartext Verlag, S. 31-42

Staveren, I. van, 2001:
The Values of Economics. An Aristotelian perspective. London: Routledge (Economics as social theory)

Weller, I., 2003:
Kommentar zum Einbezug der Gender-Perspektive in das Projekt „Regionaler Wohlstand neu betrachtet“. Experten-Workshop „Was macht eine Region lebenswert?“ am 16./17.6.03 in Berlin; http://www.regionalerwohlstand.de

Kontakt

Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer
Zentrum Technik und Gesellschaft
der Technischen Universität Berlin
Sekr. P2-2
Hardenbergstr. 36 A, 10623 Berlin
E-Mail: schaefer∂ztg.tu-berlin.de
Internet: http://www.regionalerwohlstand.de