Wissenstransfer von der Gesellschaft in die Wissenschaft? Formen und Potenziale nicht-zertifizierter Expertise für Lebenswissenschaften und Medizin

TA-Projekte

Wissenstransfer von der Gesellschaft in die Wissenschaft?

Formen und Potenziale nicht-zertifizierter Expertise für Lebenswissenschaften und Medizin

von Anne Brüninghaus, BIOGUM Universität Hamburg, und Nils Heyen, Fraunhofer ISI Karlsruhe

Produktion und Kommunikation lebenswissenschaftlichen und medizinischen Wissens befinden sich im Umbruch und verändern den Wissenstransfer zwischen Gesellschaft und Wissenschaft. Zwischen die klassischen Rollen des Experten und des Laien tritt zunehmend die des „Prosumers“, der Wissensproduktion und -konsumtion vereint. Inwieweit dessen „nicht-zertifizierte“ Expertise das Verhältnis von Lebenswissenschaften und Gesellschaft verändern kann und welche Potenziale und Risiken diese Entwicklung birgt, ist die zentrale Frage des vom BMBF geförderten Verbundprojekts „Wissenstransfer 2.0.“, das in diesem Artikel vorgestellt wird. Im Fokus stehen beispielhaft die Nutzung von Direct-to-Consumer-Gentests und entsprechenden sozialen Web-Plattformen („Health Social Networks“) sowie die Anwendung von Techniken der Selbstvermessung („Quantified Self“). Partner sind der FSP BIOGUM, Universität Hamburg, und das Fraunhofer ISI.[1]

1     Hintergrund[2]

Die Produktion und Kommunikation lebenswissenschaftlichen und medizinischen Wissens befinden sich im Umbruch. Individuen konsumieren nicht nur wie bislang wissenschaftliches Wissen, um sich zu informieren und eine Meinung zu bilden, sondern nutzen dieses Wissen zunehmend auch, um sich selbst an der Produktion von Wissen zu beteiligen. Damit tritt neben die klassischen Rollen des Wissensproduzenten (des Experten) und des Wissenskonsumenten (des Laien) die neue Sozialfigur des „Prosumers“, die eine Hybridform aus Produzent und Konsument bildet (Hellmann 2010) und das Potenzial hat, den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu verändern. Ganz besonders zeigt sich dieses Phänomen im Bereich der Lebenswissenschaften: Hier erwächst aus der Konsumtion von Wissen eine neue Art der Produktion von Wissen.

Entsprechend sind sich neu konstituierende Felder zu beobachten, in denen üblicherweise als Laien bezeichnete Akteure längst Teil einer neuartigen „Peer2Peer“-Wissensproduktion (Delfanti 2010) sind. Dabei kommt es zu einem Rückfluss von außerhalb institutioneller Wissenschaft generierter Expertise in die Wissenschaft. In Abgrenzung zur traditionellen Gleichsetzung von Wissenschaft und Experten auf der einen und Gesellschaft und Laien auf der anderen Seite unterscheiden wir daher zertifizierte und nicht-zertifizierte Expertise (vgl. Collins/Evans 2002), wobei sich letztere weitgehend der Bewertung durch institutionalisierte Kontrollinstanzen entzieht.

Wir gehen davon aus, dass der nicht-zertifizierten Expertise das Potenzial innewohnt, den Erwerb, Transfer und die Produktion von lebenswissenschaftlichem Wissen wie auch das Verständnis von Expertise zu verändern. Drei sich gegenseitig beeinflussende Kommunikationsrichtungen spielen dabei eine Rolle:

  1. Wissenschaft (zertifizierte Expertise) → Gesellschaft (nicht-zertifizierte Expertise). Lebenswissenschaftliches Wissen wird im Kontext nicht-zertifizierter Expertise nicht nur passiv rezipiert oder durch professionelle Vermittler transferiert, sondern von Mitgliedern der Gesellschaft gezielt bewertet und eigenständig verwendet.
  2. Gesellschaft (nicht-zertifizierte Expertise) ↔ Gesellschaft (nicht-zertifizierte Expertise). An den etablierten Kommunikationskanälen der Wissenschaft vorbei bilden sich Netzwerke des Wissensaustauschs, in denen eigenständige Formen der Attribution und Bewertung von Expertise entstehen.
  3. Gesellschaft (nicht-zertifizierte Expertise) → Wissenschaft (zertifizierte Expertise). Die zunehmende Etablierung nicht-zertifizierter Expertise wirkt auf die institutionalisierte lebenswissenschaftliche Forschung zurück. Der Wissenstransfer erfolgt durch die direkte Interaktion zertifizierter und nicht-zertifizierter Experten.

Zu den wichtigsten Feldern, in denen diese Dynamiken zu beobachten sind, gehören Direct-To-Consumer-Gentests (DTC-Tests) und entsprechende Health Social Networks (HSN) sowie die Quantified-Self-Bewegung (QS-Bewegung).

1.1   Beispielfeld 1: Direct-to-Consumer-Gentests und angeschlossene Health Social Networks

Zugang zu genetischem Wissen ist heute nicht mehr ausschließlich über den Weg der ärztlichen Expertise möglich, sondern auch direkt über frei verkäufliche Gentestangebote, die etwa über das Internet verfügbar sind. Auch wenn die Begleitforschung dies beispielsweise in Hinblick auf Aussagekraft, Beratungsleistung oder Fehlinterpretationen kritisch diskutiert, steigt die Nachfrage in Deutschland.

In Zusammenhang mit diesen Gentests gewinnen das Web 2.0 und soziale Web-Plattformen im Bereich Gesundheit (Health Social Networks) an Bedeutung. Überlegungen zur Inanspruchnahme eines Tests können hier ebenso wie die Testergebnisse oder das Interesse einer Teilnahme an Forschungsprojekten mit anderen Nutzern und Experten diskutiert werden (Su et al. 2011). Darüber hinaus besteht in vielen HSN die Möglichkeit, die resultierenden Daten online der Forschung zu Verfügung zu stellen (Dolgin 2010) oder sich auf Basis der persönlichen genomischen Daten aktiv um eine Beteiligung an wissenschaftlichen oder medizinischen Forschungsvorhaben zu bemühen. DTC-Gentests, die daraus hervorgehenden Rohdaten und die Diskussion der interpretierten Daten in HSN werden damit als bedeutsam für neue Forschungsvorhaben gewertet. Die Nutzer als nicht-zertifizierte Experten werden im Sinne eines Co-Creating an Wissenschaft beteiligt und erhalten eine zunehmend aktivere Rolle.

1.2   Beispielfeld 2: Quantified-Self-Bewegung

„Quantified Self“ (QS) ist der Name einer sich rasant ausbreitenden internationalen Bewegung von Menschen, die mit Hilfe von Smartphone-Apps und Sensor-Geräten laufend Daten über ihren eigenen Körper und ihre Lebensführung erheben, sammeln und analysieren, um daraus Erkenntnisse insbesondere für ihre Gesundheit zu gewinnen. Diese QS-Bewegung kann als Fall nicht-zertifizierter Expertise gesehen werden, denn das sog. Self-Tracking wie auch die Datenauswertung finden außerhalb traditioneller wissenschaftlicher Institutionen statt. Zudem kommen beim Selbstvermessen, Selbstexperimentieren und bei der Analyse der Daten (quasi-)wissenschaftliche Methoden zum Einsatz und die Ergebnisse werden ggf. auch mit wissenschaftlichem Wissen in Beziehung gesetzt (vgl. Roberts 2010). Dadurch erwerben sich die Selbstvermesser eine (nicht-zertifizierte) Expertise über den eigenen Körper, die über die alltägliche Selbstbeobachtung weit hinausgeht. Sie vernetzen sich, tauschen Daten und Befunde aus, evaluieren und diskutieren Schlussfolgerungen und nutzen für diesen Wissenstransfer vor allem das Web 2.0. Dabei werden Datenbanken aufgebaut und (nicht-zertifizierte) Expertisen entwickelt, die auch für die traditionellen Gesundheits- und Lebenswissenschaften von potenziell großer Relevanz sind. Neben diesen Chancen bergen die skizzierten Entwicklungen aber auch Risiken, etwa im Hinblick auf den Datenschutz oder auch die Gesundheit der Anwender.

2     Ziele des Projekts

Ziel des Verbundprojekts ist es, anhand der beiden Beispielfelder zu untersuchen, inwieweit nicht-zertifizierter Expertise das Potenzial innewohnt, das Verhältnis von Lebenswissenschaften und Gesellschaft zu verändern. Dabei gehen wir davon aus, dass sich eine zunehmende soziale Wirkmächtigkeit nicht-zertifizierter Formen von Expertise in den beiden Feldern beobachten lässt. Dies lässt die Möglichkeit eines veränderten Wissenstransfers („Wissenstransfer 2.0“) aufscheinen, in dessen Rahmen Prosumer das Web 2.0 nutzen, um mit zertifizierten und nicht-zertifizierten Experten in Austausch zu treten. Im Einzelnen verfolgt das Projekt folgende übergreifende Fragestellungen:

  1. Wie gestaltet sich in den beiden Beispielfeldern der Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unter Berücksichtigung moderner Kommunikationsmedien?
  2. Wie verändern sich Selbst- und Fremdbeschreibungsprozesse in Bezug auf Expertise und Zuschreibungsmodi von Expertise? Als wie trennscharf erweisen sich die Begriffe von zertifizierter und nicht-zertifizierter Expertise?
  3. Welche Einflusstendenzen nicht-zertifizierter Expertise auf die Wissenschaft zeichnen sich ab?
  4. Welche Potenziale und nicht-intendierten Folgen bringen die in den Beispielfeldern beobachteten neuen Formen nicht-zertifizierter Expertise für die Gesellschaft mit sich?
2.1   Ziele des Teilprojekts 1: Direct-to-Consumer Gentests und angeschlossene Health Social Networks

Auch wenn sich abzeichnet, dass der informierte, vor allem rezipierende Patient zu einem „active participant [und] investigating collaborateur“ (Swan 2009) wird, ist die weitere Entwicklung der Rolle von nicht-zertifizierter Expertise im Bereich der DTC und HSN offen. Ziel des ersten Teilprojekts ist es daher, zu klären, wie Wissen konsumiert und produziert wird und wie sich die Rolle des heutigen Wissenskonsumenten entsprechend entwickelt; wie sich Wissenskommunikation in Lebenswissenschaften und Medizin hinein vollzieht; wie nicht-zertifiziertes Wissen in der Wissenschaft verhandelt wird; inwiefern aus informierten Nutzern von DTC und HSN tatsächlich Prosumer werden; welche Potenziale und nicht-intendierten Folgen dies haben könnte; wie die Bedeutung nicht-zertifizierter Expertise in Zukunft aussehen und wie dies den Wissenstransfer und die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verändern könnte. Wir gehen von der Annahme aus, dass die Bedeutung von HSN zunehmen und sich die Rolle des „Laien“ verändern wird, nicht zuletzt, weil das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Wissens von (zertifizierten) Experten weiter abzunehmen droht.

2.2   Ziele des Teilprojekts 2: Quantified-Self-Bewegung

Ziel des zweiten Teilprojekts ist es, das transformative Potenzial der im Rahmen der QS-Bewegung generierten (nicht-zertifizierten) Expertise mit seinen Chancen und Risiken für Gesundheits- und Lebenswissenschaften abzuschätzen. Hierfür gilt es zu klären, welche Art von Wissen im Rahmen der QS-Bewegung entsteht; wie sich die Vernetzung, die Kommunikation und der Wissensaustausch der beteiligten Akteure gestalten; welche Rolle wissenschaftliches Wissen bei der Generierung der (nicht-zertifizierten) Expertise spielt; welche Nutzungspotenziale das QS-Wissen für Medizin und Lebenswissenschaften hat; wie sich Kommunikation und Wissensaustausch zwischen Selbstvermessern und institutioneller Wissenschaft gestalten; und welche nicht-intendierten Folgen und Risiken für die Gesellschaft das Self-Tracking mit sich bringt. Wir gehen davon aus, dass das im Zuge der QS-Bewegung generierte Wissen rasant zunehmen wird, dass sich die Datenverarbeitungsmethoden mit der Zeit professionalisieren werden und dass in dem Maße, in dem sie das tun, sowohl die erzeugten Datenbestände als auch das QS-Wissen für Lebenswissenschaften und Medizin interessanter werden.

3     Konzeption und Vorgehen

Insgesamt folgt das Verbundprojekt einem explorativ-qualitativen Untersuchungsdesign. Um eine frühzeitige und regelmäßige vergleichende Diskussion zu ermöglichen und den Bezug zu den übergeordneten Fragestellungen zu gewährleisten, sind die beiden Teilprojekte weitgehend analog konzipiert. In einem umfangreichen ersten Projektteil richtet sich der Fokus zunächst auf die Seite der nicht-zertifizierten Expertise. Nach einer Bestandsaufnahme sind für die Datenerhebung in erster Linie qualitative Interviews mit den Nutzern bzw. Anwendern vorgesehen, für die Datenanalyse u. a. auch gemeinsame (teilprojektübergreifende) Analysesitzungen sowie die Analyse von Web-Foren, Blogs etc. In einem zweiten Schritt wird der Fokus auf die zertifizierte Expertise gelegt. Hier soll u. a. über die Analyse von Fachliteratur und Experteninterviews Art und Ausmaß der aktuellen und potenziellen Rezeption von nicht-zertifizierter Expertise innerhalb des institutionellen Wissenschaftsgeschehens beleuchtet werden. In einem dritten Schritt schließlich wird eine Folgenabschätzung der skizzierten Entwicklungen angestrebt, u. a. mittels eines Workshops mit Wissenschaftlern sowie Nutzern und Anwendern. Abschließend werden die beiden Beispielfelder vergleichend und in Bezug auf die übergeordneten Forschungsfragen analysiert und diskutiert, um so die Bedeutung von nicht-zertifizierter Expertise für das Verhältnis von Lebenswissenschaften/Medizin und Gesellschaft abschätzen zu können.

Anmerkungen

[1]Wir danken dem Verbundleiter PD Dr. Günter Feuerstein, BIOGUM Universität Hamburg, für die gemeinsame Diskussion.

[2]Der folgende Abschnitt geht auf gemeinsame Überlegungen mit Sascha Dickel zurück.

Literatur

Collins, H.M.; Evans, R., 2002: The Third Wave of Science Studies: Studies of Expertise and Experience. In: Social Studies of Science 32/2 (2002), S. 235–296

Delfanti, A., 2010: Users and Peers. From Citizen to P2P Science. In: Journal of Science Communication 9/1 (2010) E.

Dolgin, E., 2010: Personalized Investigation. In: Nature Medicine 16/9 (2010), S. 953–955

Hellmann, K.-U., 2010: Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte. In: Blättel-Mink, B.; Hellmann, K.-U. (Hg.): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden, S. 13–48

Roberts, S., 2010: The Unreasonable Effectiveness of My Self-experimentation. In: Medical Hypotheses 75 (2010), S. 482–489

Su, Y.; Howard, H.C.; Borry, P., 2011: Users’ Motivations to Purchase Direct-to-Consumer Genome-wide Testing: An Exploratory Study of Personal Stories. In: Journal of Community Genetics 2/3 (2011), S. 135–146

Kontakt

Dipl.-Päd. Anne Brüninghaus
FSP BIOGUM
Universität Hamburg
Lottestraße 55, 22529 Hamburg
E-Mail: anne.brueninghaus∂uni-hamburg.de

Dr. Nils Heyen
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
Breslauer Straße 48, 76139 Karlsruhe
E-Mail: nils.heyen∂isi.fraunhofer.de

Internet: http://www.wissenstransfer2punkt0.de