Wann ist genug genug? Wie Wissenschaftler, Regulatoren und Innovatoren mit Wissenslücken umgehen
Wann ist genug genug? Wie Wissenschaftler, Regulatoren und Innovatoren mit Wissenslücken umgehen
Bericht über den Workshop „Wissenschaftliche Grundlagen zur Regulation von Nanomaterialien“
Dübendorf, Schweiz, 20.–21. Januar 2014
von Jutta Jahnel, ITAS
Mittlerweile sind Nanoprodukte in jedem Supermarkt zu finden. Sie werden z. B. in Sonnencremes, Reinigungsmitteln und Wundpflastern eingesetzt. Gleichzeitig besteht aber noch kein Konsens über die Bewertung der zahlreichen toxikologischen Studien, die mit immer aufwändigeren Methoden die Risiken von Nanopartikeln untersuchen. Analysemethoden zur Überwachung und Kontrolle von Kennzeichnungsvorschriften stehen zwar prinzipiell zur Verfügung, die Verfahren sind jedoch sehr aufwändig, die Instrumente sehr teuer und die Messmethoden nicht validiert. In dieser Situation stellt sich die Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit derartigen Unsicherheiten, nach dem möglichen Risiko für Verbraucher, aber auch nach den Voraussetzungen für Innovationsfreundlichkeit und Vertrauen in die Nutzung derartiger Technologien.
Der Workshop brachte insgesamt 30 Stakeholder aus Wissenschaft, Industrie, Behörden und Beratung – größtenteils aus den Bereichen Umwelt, Chemikalienbewertung, Analytik und Wasserversorgung – für zwei spannende Tage an einen Tisch. Er wurde vom Oekotoxzentrum der Eawag in Dübendorf organisiert. Die Teilnehmer hörten informationsreiche Vorträge, um einen gemeinsamen Wissensstand über aktuelle rechtliche Regelungen aufzubauen. Danach wurden wissenschaftliche Grundlagen aus der Human-, Ökotoxikologie und der Analytik vertieft und offene Fragen thematisiert. Die aktive Mitarbeit der Teilnehmer erfolgte in kleineren Diskussionsgruppen und konzentrierte sich auf gemeinsame Strategien für einen verantwortlichen Umgang mit Nanomaterialien.
1 Regulatorische Standortbestimmung
Andrej Kobe von der Europäischen Kommission gab einen Überblick über die regulatorische Situation von Nanomaterialien in der EU. In den letzten Jahren wurden auf europäischer Ebene zahlreiche Anpassungen in Sektor spezifischen Verordnungen für verbrauchernahe Nanoprodukte wie Kosmetika oder Lebensmittel zu Definitionen und Kennzeichnungen vorgenommen. Aber auch an Nanomaterialien, die als Rohstoffe in Nanoprodukten eingesetzt werden, wurden zusätzliche Vorgaben an die Hersteller bezüglich der Registrierung und Informationsweitergabe festgelegt.
Christoph Studer (Bundesamt für Gesundheit, Schweiz) stellte die spezifischen nationalen Vorgaben in der Schweiz vor, wobei er insbesondere die widersprüchliche Situation im Umgang mit Nanomaterialien herausarbeitete: Nach Einschätzung der OECD sei die Anwendung bestehender Testmethoden zur Risikoabschätzung von Nanomaterialien prinzipiell geeignet. In speziellen Fällen wäre zwar eine Anpassung der Richtlinien vorzunehmen, neue Verfahren müssten jedoch nicht entwickelt werden. Trotzdem wies er auf eine Vielzahl offener Fragen hin. Studer präsentierte eine Liste mit insgesamt vierzehn konkreten regulatorischen Fragen, u. a. zur Messmethodik, physikalisch-chemischen Eigenschaften, Langzeiteffekten, Gruppenbildung, Wirkmechanismen, Exposition, bis hin zur Risikobewertung und zum Risikomanagement. Die Einschätzung der OECD wurde im Anschluss an diese Präsentation von den meisten Teilnehmern für ihren Kontext als vertrauensbildend und beruhigend bewertet. Insbesondere Hersteller und Innovatoren erwarten dadurch eine gewisse Planungssicherheit für zukünftige Innovationen.
2 Wissenschaftliche Grundlagen der Regulation
Diese Session umfasste Vorträge zum Stand der Expositionsabschätzung, Messtechnik, Humantoxikologie und Umwelttoxikologie. Die Teilnehmer wurden über die Komplexität, über bestehende Wissenslücken, Grenzen von Expositionsszenarien und Schwierigkeiten bei analytischen und toxikologischen Methoden informiert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Entwicklung eines geeigneten Testdesigns für regulatorische Zwecke, das sowohl eine ausreichende Partikelcharakterisierung als auch spezifische und sensitive Wirkungstests umfasste. Peter Wick (EMPA, St. Gallen) referierte über eine sinnvolle und zweckgebundene Teststrategie und die Anforderungen und Aussagekraft von Methoden. Er zitierte in seinen Ausführungen den Nobelpreisträger Wolfgang Pauli: „Das Volumen des Festkörpers wurde von Gott geschaffen, seine Oberfläche aber wurde vom Teufel gemacht.“ Die Teilnehmer konnten durchaus nachvollziehen, wie schwierig es ist, diesem „Teufelszeug“ auf die Schliche zu kommen. Es wurde aber auch klar, dass die vorher dargestellten gesetzlichen Vorgaben nicht im Einklang mit den für eine Überwachung notwendigen Voraussetzungen und Techniken stehen.
Am zweiten Tag wurde anhand von Nanosilber ein konkretes Regulationsbeispiel betrachtet: Die unterschiedlichen Perspektiven eines Risikoabschätzers aus einem wissenschaftlichen Komitee der EU (SCENIHR: Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks) und eines Vertreters eines kleinen Unternehmens wurden gegenübergestellt. Der Unternehmer kritisierte die immer umfangreicheren Anforderungen bei der Registrierung und Risikoabschätzung von Nanomaterialien. Dadurch würde die Bewertung und Sicherheit nicht wesentlich vorangebracht, die der Verbraucher zu Recht erwarte. Er formulierte die zugespitzte Frage „Wann ist genug genug?“. Der Nachmittag bot Gelegenheit, diese Frage innerhalb einer Gruppenarbeit zu vertiefen und gemeinsame Strategien im Umgang mit Wissenslücken zu erarbeiten.
3 Handlungsempfehlungen aus der Praxis
In drei kleinen Gruppen zu den Themen „Exposition“, „Ökotoxikologie“ und „Humantoxikologie“ wurden die jeweils dringlichsten Probleme, Fragen und Bedürfnisse zusammengetragen, die in der konkreten alltäglichen Arbeitspraxis der unterschiedlichen Akteure von Bedeutung sind. In der Gruppe, die sich mit humantoxikologischen Fragestellungen befasste, wurde deutlich, dass es beachtliche Unterschiede in den Forschungsagenden von Risikoabschätzern sowie regulatorischen Toxikologen und rein wissenschaftlich arbeitenden Toxikologen gibt. Während bei der Risikoabschätzung die politischen Vorgaben in Richtlinien und Qualitätsnormen das Design und die Bewertung toxikologischer Studien maßgeblich bestimmen, engen formale Kriterien wie Standardisierung oder Validierung die Forschung der allgemeinen Toxikologen nicht auf spezifisch regulatorische Anforderungen ein. Dadurch wird eine andere Art von Testergebnissen produziert, die zwar für neue allgemeine Erkenntnisse und wissenschaftliche Reputation sorgt, die jedoch im politischen Kontext nicht aussagefähig sind. Es entwickelte sich eine Diskussion über eine mögliche zeit- und ressourcenschonende Zielführung der Forschung zu regulatorischen Zwecken, die gleichzeitig die Kriterien des Wissenschaftssystems erfüllt. Als wichtige Maßnahme wurde die Einbindung regulatorischer Kriterien in die Ausbildung und Lehre von Toxikologen vorgeschlagen. Aber auch die Kommunikation von behördlichen Richtlinien an die Wissenschaft wurde genannt. Eine Diskussion über verschiedene nationale Forschungskulturen und die Beziehung von Wissenschaft und Politik rundete dieses Thema ab.
Behörden und Industrie forderten am dringlichsten die Entwicklung validierter Analysemethoden durch Wissenschaftler, aber auch eine konkrete Handreichung für den Registrierungsprozess von Nanomaterialien durch die Regulatoren. Von Seiten des Vertreters der Europäischen Kommission wurde jedoch gewarnt, allzu große Erwartungen an die Politik zu adressieren. Zwar könnte die Politik proaktiv handeln, sie bliebe jedoch dem Abstimmungsprozess aller beteiligten Akteure unterworfen.
Insgesamt motivierte die Leitfrage „Wann ist genug genug?“ zu einer intensiven Reflexion. Die Diskussion zeigte, dass der Adressat für Fragen und Wissenslücken nicht länger ausschließlich die jetzige Art der Forschung und Wissenschaft sein kann. Andererseits sollten Hersteller auch keine Lösung durch konkrete Richtlinien aus der Politik erwarten, sondern durch verstärkten Austausch mit allen Akteuren einen Abgleich der dringendsten Punkte gemeinsam erreichen. Prinzipiell liegt zwar ein beachtliches Wissen über Verhalten und Wirkung von Nanomaterialien vor, dieses wird jedoch nicht effizient und verständlich genug zwischen Wissenschaft und Regulatoren ausgetauscht und für eine Korrektur der Forschungsagenda genutzt. Der Workshop bot eine gute Gelegenheit, diesen Austausch anzustoßen und zu üben, die Probleme der jeweils anderen in der eigenen Agenda zu berücksichtigen. Damit wurde deutlich, dass in der Weiterentwicklung der festgefahrenen Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik ein wichtiger Lösungsansatz zu finden ist: nicht für alle Probleme, aber genug für den Anfang!
Die Statements wurden in einer abschließenden Forumsdiskussion zusammengeführt und sollen in einem Synthesedokument in Kürze publiziert werden.