Schwerpunkt: Fragile Evidenz – Wissenssystematische und wissenspolitische Herausforderungen für TA
Einführung in den Schwerpunkt
Zur Einleitung: Fragile Evidenz - Wissenspolitischer Sprengstoff
Einführung in den Schwerpunkt
von Stefan Böschen, ITAS
1 Das Vorsorgeprinzip und das Problem fragiler Evidenz
Die Debatte um das Vorsorgeprinzip politisiert letztlich die Erzeugung von Risikowissen. Offenkundig besteht ja gerade der Witz des Vorsorgeprinzips darin, eine Abkürzungsregel anzugeben, um erwartete negative Folgen gerade nicht erfahren zu müssen. Jedoch ist die Angemessenheit einer solchen Abkürzung selbst eine politische Frage und in hohem Maße wissensabhängig. Vor diesem Hintergrund kann die Produktion von Risikowissen immer weniger in einem außerpolitischen Terrain stattfinden. Das paradoxe Ergebnis dieser Entwicklung besteht jedoch nicht notwendig in einer stärkeren Öffnung von Prozessen der gesellschaftlichen Produktion von Risikowissen, sondern es lassen sich vielmehr starke Tendenzen zu ihrer Schließung beobachten. Denn die risikogesellschaftliche Konstellation mit ihrer forcierten Unsicherheitsproduktion eröffnet nicht umstandslos einen aufgeklärten und weit gefächerten Umgang mit den beobachteten Unsicherheiten, der die Pluralität von Wissensperspektiven als eine Chance begreift. Vielmehr scheint gerade die wachsende Unsicherheitserfahrung die Rückkehr zu Konzepten eindeutiger Evidenzkonstruktion zu provozieren (vgl. z. B. Proctor 2008). Nun gibt es nicht nur unterschiedliche Formen der Evidenzkonstruktion, sondern diese prägen auch in wachsendem Maße die Konflikte bei der Erzeugung von Risikowissen. In den Implementations- und Legitimationsproblemen des Vorsorgeprinzips spiegelt sich mithin die elementare wissenspolitische Problemstruktur gegenwärtiger Gesellschaften und ihr Treiber ist die Erfahrung „fragiler Evidenz“.
2 Fragile Evidenz und die Problematisierung des Gewissheitspostulats
Die Erfahrung „fragiler Evidenz“ erschüttert letztlich das lange Zeit gültige Gewissheitspostulat methodisch gewonnenen wissenschaftlichen Wissens. Da die Erzeugung dieses Wissens bestimmten Standards gehorcht, die im Normengerüst moderner Wissenschaft festgehalten sind (dazu zählen Universalismus, Kommunismus, Nicht-Interessiertheit und organisierter Skeptizismus; Merton 1985), konnte diesem Wissen die Eigenschaft des sozial verlässlichen Wissens zugeschrieben werden. Und die akademische Wissenschaft war diejenige Institution, welche diesen Wissensstatus garantierte. Die Diskussion um das Vorsorgeprinzip reiht sich ein in eine ganze Serie von Debatten, welche letztlich eine Pluralisierung von Wissensperspektiven anzeigt. Im Zuge dieser bricht die Frage der Unabhängigkeit wissenschaftlichen Wissens und damit die nach dem sozialen und politischen Status dieses Wissens auf (vgl. Pielke 2004, S. 414). Die Konsequenzen scheinen vielgestaltig zu sein, da letztlich das Problem gelöst werden muss, wie trotz der Infragestellung bisheriger Wissensroutinen gleichwohl Wissen für Entscheidungsprozesse bereitgestellt werden kann, das den geforderten sozialen bzw. politischen Ansprüchen an Evidenz bzw. Gewissheit zu genügen vermag.
Nun galt für moderne Gesellschaften schon immer, dass sie ihre Entwicklungsdynamik der Transformation von Unsicherheit in partielle Gewissheiten verdankt. Entscheiden unter Unsicherheit bezog sich immer auf eine Zukunft, die im Moment des Entscheidens unerkannt war und das Potenzial unerwünschter Effekte in sich barg (z. B. Bechmann 1997; Luhmann 1992). Allerdings gab es eine Rationalitätsgewissheit in dem Sinne, dass man darauf vertrauen konnte, dass das noch Unerkannte im Prinzip erkennbar sei – entsprechender Aufwand oder Verfügbarkeit von Ressourcen vorausgesetzt. Diese Rationalitätsgewissheit hat sich nicht in Luft aufgelöst, jedoch hat sich ihre Form verändert. Immer noch gestehen die meisten Zeitgenossen der Wissenschaft eine bedeutende Rolle als Wissensproduzentin zu und erkennen ihre Autorität an. Aber der selbstverständliche Charakter der Zuweisung von Autorität hat sich verflüchtigt. Autorität des Wissens ist in wachsendem Maße abhängig von besonderen epistemischen Prozeduren und institutionellen Vorkehrungen der Legitimitätsstiftung. Oder kurz: Evidenzen werden fragil. Zwei Beispiele sollen hier genannt sein.
Ein erstes Beispiel ist der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). Der sog. Weltklimarat wird von vielen als Autorität in Sachen Klimawandelwissen anerkannt. Seine Geschichte belegt jedoch zweierlei. Zum einen, dass er sich diese Autorität des Wissens hart erkämpfen musste und immer wieder zu internen Lernprozessen gezwungen wurde, um diese Autorität bewahren zu können (Beck 2009). Zum anderen, dass es sich um eine fragile Autorität handelt, weil mit seinem Zuwachs an Bedeutung zugleich auch die Intensität der Angriffe auf den IPCC gesteigert wurde. Das Schwergewicht des Weltklimarates beruht auf dem ausführlichen Reviewprozess, in dem die Expertise verfertigt wird. Diese Form des „Evidenzrituals“ (Viehöver 2010, S. 143) ist in diesem Fall vergleichsweise gut zu organisieren, handelt es sich bei der bereitgestellten Form des Klimawissens um einen gut fokussierbaren Ausschnitt. Wie ist das aber bei anderen Problemfeldern, die sich nicht so prägnant fokussieren lassen? Das Modell IPCC wurde auf den IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) übertragen, also auf das Feld der Biodiversität – und in der Zwischenzeit auch auf das Feld der Chemikalienpolitik (IPCP – International Panel on Chemical Pollution). Jedoch zeigt sich hier, wie die Vielfalt zu integrierender Wissensperspektiven (z. B. lokales Wissen im Falle der Biodiversität) sich nicht umstandslos in das IPCC-Modell mit seinem intensiven inner-wissenschaftlichen Peer-Review fügt.
Eine zweite Entwicklung, die hier stichwortgebend ist, ist die Debatte um Formen der „Evidenzbasierung“. Wie viele Prozesse sollen nicht evidenzbasiert organisiert werden? Evidenzbasiertes Management, evidenzbasierte Human Resources oder evidenzbasierte Politik (vgl. z. B. Trindler/Reynolds 2001). Man kann behaupten, dass sich dahinter nicht allein eine Lösung verbirgt, sondern dass dieser Diskurs zunächst als eine Problemanzeige zu lesen ist. Das Problem ist, wie vor dem Hintergrund weitreichender Wissenspluralisierung überhaupt Möglichkeiten der Stiftung von Eindeutigkeit aufgebaut werden können. Der Diskurs um Evidenzbasierung kann in manchen seiner Ausprägungen als eine nicht-reflexive Form der Eindeutigkeitsstiftung interpretiert werden. Denn er setzt voraus, was überhaupt erst bedacht werden müsste: Was wird denn als Evidenz zugelassen und wie machen wir das transparent? Die Proponenten der Evidenzbasierung wissen immer schon, was die Methodologie der Evidenz ist – dabei generalisieren sie ein Modell der Evidenzkonstruktion ohne die Bedingungen der Generalisierbarkeit zu überprüfen. Kurzum: Es muss zunächst einmal erforscht werden, welche Formen der Evidenzproduktion es in Abhängigkeit von unterschiedlichen Wissensanbietern gibt. Ein Argument ist, dass die jeweiligen Wissensanbieter unterschiedlichen Evidenzkulturen folgen, durch welche die Standards zur Evidenzfeststellung gesteuert werden (Böschen 2009).
3 Fragile Evidenz als wissenspolitisches Problem
Warum stellen fragile Evidenzen ein wissenspolitisches Problem dar? Problemlagen, denen sich Gesellschaften ausgesetzt sehen, stellen erstens zumeist komplexe Problemlagen dar. Komplexe Problemlagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie je nach Beobachtungsstandpunkt eine deutlich verschiedene Charakteristik erhalten. Wissensakteure greifen zumeist spezifische Ausschnitte des Problems – gemäß der eigenen Muster der Evidenzkonstruktion – heraus. Vielmehr noch: Das Problem wird überhaupt erst durch solche Muster der Konstruktion von Evidenz konstituiert und damit in Abhängigkeit von den verschiedenen Evidenzkulturen eben auch unterschiedlich. Zweitens werden bei der Lösung von solchen Problemlagen nicht allein epistemische Probleme gewälzt, wie die Lage sachadäquat eingeschätzt und damit auch gelöst werden kann. Vielmehr geht es immer auch um die Thematisierung von Entwicklungskonflikten. In welche Richtung soll das Problem gelöst werden? Das entzündet sich an der Frage: Stellt das, was als Problem von manchen thematisiert wird, überhaupt ein Problem dar und wenn ja, für wen und in welcher Hinsicht? Welche Handlungskapazitäten und damit Ressourcen sollen bereitgestellt werden, um die Behandlung des Problems zu ermöglichen? Damit zeigen sich analytisch also zwei wesentliche Problemkreise, die bei der Befassung mit Fragen fragiler Evidenz entscheidend zu sein scheinen: der Problemkreis der Evidenzkonstruktion einerseits, der Problemkreis der Evidenzpolitik andererseits.
Ad a) Problemkreis Evidenzkonstruktion: Solange der Glaube an eine übergeordnete Form wissenschaftlicher Rationalität aufrechterhalten werden konnte, stellte sich die Frage nach unterschiedlichen Formen der Konstruktion von Evidenz im Grunde nicht ernsthaft. Erst mit dem Aufkommen der Kritik wissenschaftlicher Objektivität zeigten sich Risse in diesem Bild und stellten sich schwierige epistemologische Fragen. Die Herausforderung besteht darin, die vielfach ja konfligierenden Wissensangebote von Wissensakteuren hinsichtlich ihres Evidenzanspruchs zu klassifizieren, gegeneinander abzugleichen und diese Puzzleteile dann zu einem Evidenzbild zusammenzufügen. Hierfür fehlen bisher zumeist die analytischen Werkzeuge (Hinweise dazu finden sich bei Weiss 2003 und Wiedemann 2009). Neben dieser ganz generellen Problemstellung stellt sich aber auch die Frage, wie im Falle von Unsicherheit oder gar Nichtwissen ein Bild der Problemlage entstehen kann. Hier ist also nicht die konfligierende, sondern vielmehr die nur mit „schwachen Signalen“ versehene oder gar absente Evidenz das entscheidende Problem. Deshalb müssen Wege gefunden werden, solche schwachen Signale auszuwerten und in das Evidenzbild einfügen zu können. Wie lassen sich also Indizien, Hinweise und Ahnungen klassifizieren und in Bezug zu Evidenzen setzen? Inwieweit bedarf es unter dem Gesichtspunkt der Vorsorge neuer Logiken der Sortierung von Hinweisen, die vielfach nur ungesättigte Evidenzen darstellen?
Ad b) Problemkreis Evidenzpolitik: Dieser Problemkreis verdankt seine Bedeutung den so klassifizierten „ungesättigten Evidenzen“, aber ebenso der Tatsache, dass die Rahmung des Problems die entscheidende Größe für Bearbeitung und Bewältigung desselben sowie der Verteilung dabei anfallender Kosten darstellt. Der IPCC kann deshalb noch so oft auf den evidenten Zusammenhang von Klimawandel und anthropogenem Einfluss hinweisen. Solange sich nicht der entsprechende politische Wille formiert, um dieses Problem auch tatsächlich anzugehen, solange ist es leichter, die Triftigkeit der Aussagen des IPCC in Zweifel zu ziehen (Oreskes/Conway 2010). Evidenzpolitik stellt also den institutionellen Ort dar, um epistemische und kulturelle Werte zu verknüpfen, und für die dadurch entstehenden Konflikte Lösungen zu finden (Kitcher 2011). Dabei sind die Fragen zu stellen: Welche Rolle spielen unterschiedliche Formen von Evidenz im politischen Raum? Was ist, wenn der Raum möglicher Effekte mehr oder weniger im Dunklen liegt, also die Szene von Nichtwissen bestimmt ist? Aber es stellen sich hier auch Fragen nach der institutionellen Ordnung, in denen Evidenzprobleme gelöst werden: Lassen sich institutionelle Mechanismen des Abgleichs zwischen unterschiedlichen Formen von Evidenz gestalten, gleichsam „Wissensprozessordnungen“ etablieren? Schließlich: Weisen Fragen der Evidenzpolitik auch demokratiepolitischen Implikationen auf – und wenn ja, welche? Welche Rolle kommt dabei Experten zu? Nur der Honest Broker macht deutlich, welche epistemischen Quellen für ihn wichtig sind und welchem Demokratieverständnis er folgt (Pielke 2007).
4 Zu den Beiträgen
Die in diesem Schwerpunktheft versammelten Beiträge nehmen in je unterschiedlicher Gewichtung die beiden analytischen Dimensionen der Evidenzkonstruktion wie Evidenzpolitik auf.
Mit ihrem Beitrag zu „Evidenzbasierte Politik zwischen Eindeutigkeit und Reflexivität“ nimmt Sabine Weiland einen analytischen Faden auf, der für die hier verhandelte Themenstellung als einem wissenspolitischen Prozess von großer Bedeutung ist. Denn die Frage nach dem Modus von Politik, welcher für die Lösung von Regulierungsproblemen genutzt wird, stellt sich als eine Kernfragestellung heraus. Geht es um die Steigerung von Rationalität oder die der Steigerung von Diskursivität? Beide Modi sind für die Gestaltung von Evidenzpolitik erforderlich, basieren aber auf unterschiedlichen epistemischen Politikmodellen und sind unterschiedlich stark etabliert. Es muss konstatiert werden, wie die Verfechter eines rationalistischen Modells weiterhin dominant sind und dieses Modell über eine ungebrochene Persistenz verfügt. Denn das in diesem Modell artikulierte Objektivitätsversprechen nimmt die Akteure ein und erschwert die Nutzung reflexiver Politikmodelle.
Arnim von Gleich, Christian Pade und Henning Wigger nehmen sich systematisch der Frage an, inwieweit denn zur Unterstützung des Vorsorgeprinzips eine Umstellung auf Indizien und Indikatoren in ausgesuchten Feldern der Risikopolitik zu beobachten ist. Dabei exponieren sie nicht nur den Ansatz einer auf Indizien basierenden Risikopolitik, sondern erläutern diesen auch konkret am Beispiel der NanoKommission. Im Zuge dessen entfalten sie das Argument, dass das im Rahmen der Kommissionsarbeit entwickelte Setting von Besorgnis- und Entlastungskriterien einen ersten Schritt zu einer differenzierten Evidenzpolitik darstellt. Die Bedeutung einer solchen Evidenzpolitik begründet sich insbesondere mit dem Hinweis auf eine am Vorsorgeprinzip orientierten Politik, der es daran gelegen sein muss, schon früh im Innovationsprozess Hinweise auf mögliche Gefährdungen zu erhalten und die entsprechenden Entwicklungsrandbedingungen für die gesellschaftliche Einbettung der in der Diskussion stehenden Innovation zu gestalten helfen.
Für die Umsetzung des Vorsorgeprinzips auf der Ebene der EU-Politik nimmt die Chemikalienpolitik eine exponierte Rolle ein. Deshalb diskutiert Martin Scheringer am Beispiel der aktuellen Chemikalienpolitik die Wirksamkeit und Reichweite von Maßnahmen, die dem Vorsorgeprinzip verpflichtet sind. Sein Befund lässt sich knapp in der Weise charakterisieren: Die Verordnung zur Regulierung von Chemikalien (REACH: Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) stellt zweifelsohne eine innovative Regulierung dar, jedoch muss darauf geachtet werden, dass das ganze System nicht an der mangelnden Verfügbarkeit von Daten bzw. der Verfügbarkeit nur begrenzt verlässlicher Daten ad absurdum geführt wird. Diese Situation wird noch dadurch verstärkt, dass die ECHA (European Chemical Agency) ihre Rolle als Kontrolleurin der Daten nur begrenzt wahrnimmt und auf diese Weise viele Chemikalien registriert wurden, obgleich die Datenlage als zweifelhaft angesehen werden muss.
Silke Beck nimmt sich in ihrem Beitrag dem IPCC an. Dabei diskutiert sie die ambivalente Rolle, die eine solch ambitionierte Institution einnehmen kann. Auf der einen Seite ist es dem IPCC gelungen, Evidenzen für den von Menschen gemachten Klimawandel beizubringen. Auf der anderen Seite steht er selbst in Gefahr, aufgrund seines eigenen szientistischen Politikverständnisses zu einer Verkürzung von Klimapolitik beizutragen. Denn vor diesem Hintergrund kommt der Blick auf die spezifischen sozialen, politischen und ökonomischen Verflechtungen des Klimawandels zu kurz. Mehr noch kreiert dieses szientistische Verständnis ein Einfallstor für die Klimaleugner, weil es den IPCC in die, die Politik verzögernde Not bringt, unerschütterliche Beweise für den Klimawandel erbringen zu müssen. Jedoch unterhöhlt dieser Wettlauf um die Evidenzen wohl eher die Autorität des Weltklimarats als diese zu stärken. Und er verweist auf die Notwendigkeit von Politik.
Eine für die beratende TA-Praxis relevante Perspektive nehmen Sebastian Cacean und Christian Voigt in ihrem Beitrag „Visualisierung und Analyse von Evidenzen mit Hilfe von Argumentkarten“ ein. Dieses Tool erlaubt eine synoptische Darstellung von Argumenten, die auf einer systematischen Rekonstruktion der Statements von Akteuren in wissenspolitischen Debatten als rationalen Argumenten basiert. Das bedeutet, dass die Aussagen in einer Struktur von Prämissen und Conclusio rekonstruiert werden, um den argumentativen Gehalt und die darin vielfach implizit artikulierten Voraussetzungen sichtbar zu machen. Anwendung wie auch Kritik werden in diesem Beitrag gleichermaßen diskutiert, so dass die Frage der Nützlichkeit dieses Vorgehens für die je betrachtete Risikodebatte leichter gestellt und beantwortet werden kann.
5 Schlussfolgerungen für Technikfolgenabschätzung
Die Debatte um fragile Evidenz ist für das Nachdenken über Technikfolgenabschätzung (TA) wie für ihre Praxis von einigem Belang. Erstens und mit Blick auf den Problemkreis der Evidenzkonstruktion stellt sich eine doppelte Frage. TA muss zum einen aus den verschiedenen Wissensangeboten herausfiltern können, warum welche Aussagen den Status des Evidenten erhalten. Zum anderen hat TA selbst das Problem, wie sie ihre eigene Expertise mit Evidenzen versieht. Als heterogenes Wissensfeld operiert sie mit verschiedenen Evidenzmaßstäben. Zweitens und mit Blick auf den Problemkreis der Evidenzpolitik muss TA im Beratungsprozess die Evidenzen aus verschiedenen wissenskulturellen Quellen so sichten und aufbereiten, dass sich daraus nicht nur eine sinnvolle Beschreibung der Problemsachlage ergibt, sondern auch eine für das politische System anschlussfähige Kommunikation entsteht. Denn im Rahmen des Vorsorgeprinzips stellt sich die Frage nach „reasonable concerns“. Was heißt das aber im Einzelnen und inwieweit beeinflusst das die Legitimität von Entscheidungen?
Darüber hinaus entkommt TA selbst auch nicht dem „wissenspolitischen Verdacht“, nämlich, dass die eigene Expertise wissenspolitisch nicht als neutral wahrgenommen wird, sondern als Element in dem Spiel, bei dem es um die explizite oder implizite Durchsetzung von Innovationen geht. Deshalb kann TA ihre Aufgabe, Folgenreflexion für die Unterstützung demokratischer Entscheidungsprozesse, nur in dem Maße wahrnehmen, wie es ihr gelingt, nicht nur die jeweils angesetzten Evidenzmaßstäbe transparent zu machen, sondern ebenso die daraus abgeleiteten politischen Schlussfolgerungen. TA kann sich nicht mehr einfach in die Rolle einer Beobachterin zurückziehen, die sich allein gewissen Selbstverpflichtungen hinsichtlich der eigenen Wissensproduktion unterzieht. Vielmehr fordert die evidenzpolitische Situation TA gerade dazu auf, sich über die institutionellen Prozesse zur Verarbeitung fragiler Evidenz Gedanken zu machen und hierfür Vorschläge zu unterbreiten. Evidenzpolitik stellt eine demokratiepolitische Herausforderung dar. Die Untersuchung von fragiler Evidenz mündet also, neben der Beantwortung ganz praktischer Fragen der Folgenreflexion unter Bedingungen von Nichtwissen, in einer Selbstreflexion über die methodologischen wie wissenspolitischen Voraussetzungen bzw. Randbedingungen von TA selbst.
Literatur
Bechmann, G., 1997: Risiko und Gesellschaft. Opladen
Beck, S., 2009: Von der Beratung zur Verhandlung – der Fall IPCC. In: Halfmann, J.; Schützenmeister, F. (Hg.): Organisationen der Forschung. Der Fall der Atmosphärenwissenschaft. Wiesbaden, S. 120–144
Böschen, S., 2009: Hybrid Regimes of Knowledge: Challenges for Constructing Scientific Evidence in the Context of the GMO-debate. In: Environmental Science and Pollution Research 16/5 (2009), S. 508–520
Kitcher, P., 2011: Science in a Democratic Society. Amherst, NY
Luhmann, N., 1992: Ökologie des Nichtwissens. In: Luhmann, N.: Beobachtungen der Moderne. Opladen, S. 149–220
Merton, R.K., 1985: Die normative Struktur der Wissenschaft. In: Merton, R.K.: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Frankfurt a. M., S. 86–99
Oreskes, N.; Conway, E., 2010: Merchants of Doubt. New York
Pielke, R. Jr., 2004: When Scientists Politicize Science: Making Sense of a Controversy About the Skeptical Environmentalist. In: Environmental Science & Policy 7 (2004), S. 405–417
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Proctor, R.N., 2008: Agnotology. A Missing Term to Describe the Cultural Production of Ignorance (and Its Study). In: Proctor, R.N.; Schiebinger, L. (Hg.): Agnotoloy. The Making und Unmaking of Ignorance. Stanford, S. 1–33
Trindler, L.; Reynolds, Sh. (Hg.), 2001: Evidence-Based Practice: A Critical Appraisal. Oxford
Viehöver, W., 2010: Governing the Planetary Greenhouse in Spite of Scientific Uncertainty. In: Science, Technology & Innovation Studies 6 (2010), S. 127–154
WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, 1999: Welt im Wandel: Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998, Berlin
Weiss, Ch., 2003: Expressing Scientific Uncertainty. In: Law, Probability and Risk 2 (2003), S. 25–46
Wiedemann, P., 2009: Vorsorgeprinzip und Risikoängste: Zur Risikowahrnehmung des Mobilfunks. Wiesbaden
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PD Dr. Stefan Böschen
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