Visualisierung und Analyse von Evidenzen mit Hilfe von Argumentkarten

Schwerpunkt: Fragile Evidenz – Wissenssystematische und wissenspolitische Herausforderungen für TA

Visualisierung und Analyse von Evidenzen mit Hilfe von Argumentkarten

von Sebastian Cacean und Christian Voigt, ITAS

Evidenzen spielen eine zentrale Rolle bei der Rechtfertigung politischer Maßnahmen und also auch in der Politikberatung. Entgegen der landläufigen Auffassung ist ihr Status aber nicht immer so eindeutig wie gewünscht oder erforderlich. Ihre Bedeutung ist wesentlich durch die zur Anwendung kommenden Evidenzstandards und Handlungsprinzipien bestimmt, die von Kontext zu Kontext variieren können. Die Methode der Argumentkartierung kann behilflich sein, die dadurch entstehenden Debatten über Evidenzen und ihre praktischen Konsequenzen zu visualisieren, zu analysieren und zu evaluieren. In diesem Artikel stellen wir die Methode vor, diskutieren ihre Vorteile und Grenzen und berichten von den Erfahrungen, die wir in bisherigen Projekten gesammelt haben.

1    Einleitung

Evidenzen spielen im Alltag, in den Wissenschaften, in der Politik und in vielen anderen Gebieten eine bedeutende Rolle. Trotz dieser Allgegenwart ist der Evidenzbegriff selbst weitgehend vage und heterogen. Im alltäglichen Sprachgebrauch zählen beispielsweise materielle Gegenstände wie DNA-Spuren als Evidenzen, wohingegen es in der Philosophie verschiedene Positionen gibt, die u. a. Sinneswahrnehmungen, Beobachtungssätze oder alle Propositionen, die zum Wissen eines epistemischen Subjektes gehören, als Evidenzen betrachten.[1] Anstatt hier selbst eine begriffliche Analyse zu liefern, soll die Vagheit des Begriffes nur soweit eingegrenzt werden, wie es für das Verständnis der zu besprechenden Problemlage nötig ist. Drei wesentliche Merkmale von Evidenzen wollen wir dabei hervorheben.

Erstens sind Evidenzen stets Evidenzen für etwas. Das heißt, Evidenzen werden benutzt, um Aussagen zu begründen. So kann beispielsweise eine DNA-Spur benutzt werden, um die Schuldigkeit einer Person zu begründen. Aussagen, die mit Hilfe von Evidenzen begründet werden, können dabei selbst mit einer Unsicherheit behaftet sein. Die generellen Prinzipien, die angeben, unter welchen Bedingungen etwas als Evidenz für eine Aussage zählt und mit welcher Unsicherheit die Aussage relativ zu dieser Evidenz behaftet ist, sollen Evidenzstandards genannt werden. Insofern Evidenzen etwas begründen, besitzen sie einen direkten oder indirekten propositionalen Charakter. Es sind nämlich immer Aussagen, die benutzt werden, um andere Aussagen zu begründen. Hält man sich z. B. an den umgangssprachlichen Gebrauch von Evidenzen als materielle Gegenstände, sind es Aussagen über diese Gegenstände, die in einer Begründung benutzt werden. So ist es eben nicht die DNA-Spur selbst, die etwas begründet, sondern eine Aussage über die DNA-Spur, die begründet, dass eine Person schuldig oder unschuldig ist.

Zweitens sind Evidenzen kontextabhängig. Oft muss eine Aussage selbst hinreichend sicher sein, um als Evidenz zu gelten. Und welche Sicherheit hinreichend für die Aussage ist, kann von Kontext zu Kontext variieren. Kriterien, die festlegen, unter welchen Bedingungen etwas als Evidenz in einem bestimmten Kontext zählt, sollen ebenfalls als Evidenzstandards bezeichnet werden. Statistische Signifikanzkriterien stellen ein typisches Beispiel dieser Kontextabhängigkeit dar. So unterscheiden sich z. B. tolerierbare Fehlerwahrscheinlichkeiten in unterschiedlichen Kontexten wie in der Physik oder der Medizin.

Drittens sind Evidenzen normativ relevant. Insbesondere werden Evidenzen häufig benutzt, um für Handlungsempfehlungen zu argumentieren. So begründen manche Evidenzen Eintrittswahrscheinlichkeiten für Handlungskonsequenzen, während andere lediglich mögliche Handlungskonsequenzen zu begründen vermögen. Im ersten Fall lässt sich das Prinzip der Maximierung des Erwartungsnutzens benutzen, um Handlungsempfehlungen zu begründen, während im letzteren Fall andere Entscheidungsprinzipien wie Vorsorgeprinzipien herangezogen werden müssen.

Die genannten Merkmale weisen auf die zentrale Dimension der Begründungszusammenhänge bei der Beurteilung von Evidenzen hin (vgl. Abb. 1). Mit Hilfe von Evidenzstandards wird etwas als Evidenz in einem bestimmten Kontext begründet. Die so gewonnenen Evidenzen können dann wiederum unter Rückgriff weiterer Evidenzstandards benutzt werden, um andere Aussagen und deren Unsicherheit zu begründen. Letztendlich können letztere dann verwendet werden, um mit Hilfe von Entscheidungsprinzipien Handlungsempfehlungen zu begründen.

Abb. 1:  Überblick der Begründungszusammenhänge

Überblick der Begründungszusammenhänge

Quelle:  Eigene Darstellung

Die heutige Wissensgesellschaft ist allerdings so komplex, dass wir es mit einer Pluralität von Evidenzstandards zu tun haben. So gibt es beispielsweise Standards dafür, unter welchen Bedingungen Aussagen von Experten als Evidenzen zählen, statistische Kriterien, die festlegen, wann relative Häufigkeiten in einer Stichprobe eine Evidenz für relative Häufigkeiten in einer Gesamtheit darstellen, abduktive Kriterien, u. v. m. Evidenzstandards sind selbst begründungsbedürftig und kritisierbar, womit es zu Konflikten zwischen Evidenzstandards kommen kann. Ein Beispiel soll das illustrieren: In den Klimawissenschaften wird eine Fülle unterschiedlicher Evidenzen angesammelt, die u. a. quantitative Aussagen über die Klimasensitivität begründen sollen. Relativ zu diesen Evidenzen besteht ein Dissens darüber, mit welchen Unsicherheiten diese Aussagen behaftet sind. Während man im vierten Sachstandsbericht des IPCC (IPCC 2007) diese Unsicherheiten mit Wahrscheinlichkeiten quantifiziert, wird dies von Betz (2007) kritisiert, der argumentiert, dass die vorhandenen Evidenzen nicht ausreichen, um gut begründete Wahrscheinlichkeitsaussagen zu rechtfertigen. Vielmehr seien diese Aussagen als ernsthafte Möglichkeiten zu interpretieren, wobei etwas als ernsthaft möglich gilt, wenn es konsistent mit dem relevanten Hintergrundwissen ist.

Diese Konflikte stellen aufgrund der normativen Relevanz von Evidenzen ein ernsthaftes Problem dar, denn letztendlich sollen Entscheidungen getroffen werden, die möglichst rational sind und von allen Betroffenen getragen werden können. Verschärft wird dieses Problem dadurch, dass die benutzten Evidenzstandards meist implizit bleiben, wodurch oft gar nicht klar ist, welche Evidenzstandards benutzt werden und worin die Konflikte bestehen. Hinzu kommt, dass wir es bei den großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel mit einer meist unüberschaubaren Anzahl von Evidenzen und Evidenzstandards zu tun haben. Die dadurch entstehende Komplexität kann nur noch schwer überblickt werden.

Die Methode der Argumentkartierung kann behilflich sein, Debatten über Evidenzen, Evidenzstandards und ihre praktischen Konsequenzen zu visualisieren, zu analysieren und zu evaluieren. In den folgenden Abschnitten stellen wir die Methode vor, berichten von den Erfahrungen, die wir in bisherigen Projekten gesammelt haben und gehen abschließend auf mögliche Einwände gegen die Methode ein.

2    Die Methode der Argumentkartierung

Die Methode der Argumentkartierung setzt genau bei diesen Herausforderungen an und kann helfen, die in Abbildung 1 erwähnten Begründungszusammenhänge transparent darzustellen. Mit Hilfe von Argumentkarten kann man explizit machen, welche Evidenzstandards benutzt werden, wie sie untereinander und mit Evidenzen zusammenhängen, wie sie selbst begründet werden und wie Evidenzen mit Hilfe von Entscheidungsprinzipien in die Begründung von Handlungsempfehlungen eingehen.

Um verstehen zu können, wie diese Ansprüche eingelöst werden, wollen wir kurz erläutern, was eine Argumentkarte ist und wie sie erstellt wird.[2] Eine Argumentkarte besteht aus rekonstruierten Argumenten und Thesen. Während eine These einem Satz entspricht, der in einer Debatte von jemandem behauptet wird, besitzen Argumente eine komplexere Struktur. In einem Argument wird eine Aussage mit Hilfe anderer Aussagen begründet. Der zu begründende Satz wird Konklusion und die begründenden Sätze Prämissen genannt. Da nicht jede beliebige Menge von Aussagen eine andere Aussage begründen kann, müssen die Prämissen eines Arguments in einer spezifischen Begründungsbeziehung zur Konklusion stehen. Argumente so zu rekonstruieren, dass die Konklusion aus den Prämissen logisch folgt, ist eine Möglichkeit, diese Beziehung zu konkretisieren.[3] In diesem Fall wird ein Argument logisch gültig genannt.[4] Wichtig hervorzuheben ist hierbei, dass diese Beziehung unabhängig vom Wahrheitswert der Prämissen und der Konklusion ist. Umgangssprachlich geäußerte Argumente müssen allerdings erst in diese Prämissen-Konklusion-Struktur überführt werden, da selten alle notwendigen Prämissen eines Arguments explizit geäußert werden. Damit ist es notwendig, implizite Prämissen zu ergänzen sowie geäußerte Sätze umzuformulieren, damit das rekonstruierte Argument deduktiv gültig ist. Der Prozess der Rekonstruktion von Argumenten setzt dadurch gewisse Kenntnisse der formalen Logik und Argumentationsanalyse voraus. Argumente und Thesen stehen jedoch selten zusammenhangslos nebeneinander, sondern beziehen sich aufeinander. So können Argumente andere Argumente stützen oder angreifen, indem sie die Prämissen eines Arguments bzw. deren Verneinung begründen.

Ein nicht zu unterschätzender Vorteil der Argumentkartierung ist der mit der Methode verbundene Neutralitätsanspruch. Argumentkarten stellen lediglich Begründungszusammenhänge dar, ohne selbst etwas über den Wahrheitswert oder die Plausibilität der Sätze auszusagen. Ob also die in den Argumenten benutzten Sätze wahr oder falsch sind, geht über die Argumentkartierung hinaus. Somit vertritt eine Argumentkarte weder eine eigene Position noch favorisiert sie eine. Allerdings kann es vorkommen, dass relevante Argumente innerhalb einer Debatte noch nicht als Rekonstruktionen in der Argumentkarte vorhanden sind. Durch die Rekonstruktion weiterer Argumente kann man allerdings erreichen, dass sich jede relevante Position innerhalb der Karte wiederfindet – zumindest solange keine weiteren Argumente innerhalb der Debatte vorgebracht werden. In diesem Fall kann die Argumentkarte dazu benutzt werden, Positionen innerhalb der Karte zu identifizieren und sie auf Kohärenz zu prüfen (z. B. Betz/Cacean 2012; Cacean 2012).

Wie spezifische Begründungszusammenhänge in einer Argumentkarte abgebildet werden, soll an einem einfachen Beispiel illustriert werden. Abbildung 2 stellt einen Ausschnitt aus einer komplexen Argumentkarte dar, die die Debatte um die ethischen Aspekte von Cognitive Enhancement abbildet (vgl. Cacean 2012). Schon ohne die Detailrekonstruktionen der zahlreichen Argumente, zu betrachten, wird aufgrund der Argumentkarte Folgendes klar: In der Debatte wird einerseits zwischen lang- und kurzfristigen Risiken (T7, T8) und andererseits zwischen lang- und kurzfristiger Nützlichkeit (T10) von Enhancement-Maßnahmen unterschieden, und die Zusammenhänge zwischen den Argumenten verdeutlichen die Bedeutung dieser Differenzierung. Eines der zentralen Argumente (A17) der Debatte begründet das Anwendungsverbot von Enhancement-Maßnahmen (T2) damit, dass das Erlaubtsein solcher Maßnahmen zu einem Zwang zu Enhancement führen wird (T9). Diese entscheidende Prämisse des Arguments wird wiederum durch das Argument A27 begründet, in welches die kurzfristige Nützlichkeit (T10) als Prämisse eingeht. Argument A28 macht nun wieder transparent, dass eine Enhancement-Maßnahme wohl nur dann kurzfristig nützlich ist, wenn sie mit keinen kurzfristigen Risiken verbunden ist. Ferner hängt die Frage um die lang- und kurzfristigen Risiken mit dem Zwangs-Verbots-Argument (A17) auf eine weitere Weise zusammen. Dass nämlich kein Zwang zu solchen Maßnahmen bestehen soll, kann u. a. damit begründet werden, dass dies einen Zwang, Risiken einzugehen, darstellen würde (A25). Damit deutet sich schon an, dass gerade Maßnahmen, die kurzfristig nützlich sowie mit keinen kurzfristigen, jedoch langfristigen Risiken verbunden sind, besonders kritisch betrachtet werden können.

Abb. 2:  Argumentkarte Enhancement

Argumentkarte Enhancement

Quelle:  Eigene Darstellung

Während das Zwangs-Verbots-Argument (A17) mit einer deterministischen Prognose argumentiert und sich dadurch eines recht einfachen konsequentialistischen Entscheidungsprinzips bedient, wird im Argument A8 bereits mit einer Variante des Vorsorgeprinzips argumentiert. Solange nicht weitgehend sicher ist, dass eine Enhancement-Maßnahme mit keinen gesundheitlichen Risiken verbunden ist, sollten entsprechende Maßnahmen verboten werden, so das Argument. Hier wird deutlich, wie sich die in Abbildung 1 schematisch angedeuteten Begründungszusammenhänge zwischen Evidenzen, Evidenzstandards und normativen Aussagen in einer konkreten Argumentkarte wiederfinden. Das Argument macht darauf aufmerksam, dass es bisher einfach keine Evidenzen gibt, die nachweisen, dass Enhancement mit keinen langfristigen Risiken verbunden ist. Im Kontext spezifischer Maßnahmen, wie beispielsweise der Einnahme von Modafinil, muss dann geprüft werden, ob angesichts vorhandener Evidenzen diese Behauptung stimmt oder nicht (z. B. Förstl 2007), was wiederum durch die Rekonstruktion weiterer Argumente, die A8 stützen oder angreifen, explizit gemacht werden kann. Das Enhancement-Verbot wird dann unter Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip begründet, welches zudem durch weitere Argumente untermauert wird (A9 und A10).

Darüber hinaus verdeutlicht dieses Beispiel, dass Argumentkarten zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtet werden sollten. Im vorliegenden Beispiel gibt es keine Argumente, die die Nützlichkeit (T10) von Enhancement-Maßnahmen stützen oder angreifen, obwohl diese These selbstverständlich begründungsbedürftig ist. Die damit verbundenen Evidenzen und Evidenzstandards würden dann wiederum als Prämissen in noch zu rekonstruierende Argumente eingehen.

3    Argumentkartierung im Kontext der Politikberatung

Neben der angedeuteten Überschaubarkeit der komplexen Begründungszusammenhänge durch Argumentkarten und den damit verbundenen Erkenntnisgewinnen ergeben sich eine ganze Reihe praktischer Vorteile und Resultate, die gerade im Kontext der Politikberatung eine Rolle spielen können. Unsere eigenen Erfahrungen in unterschiedlichen Projekten sollen das beispielhaft skizzieren.

Zusammen mit dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung und dem Hannover Institut für Systems Engineering hat Voigt (2010) die Auftragsstudie „Selbst-organisierende adaptive Systeme“ für das BMBF erstellt. Auf Grundlage von Experteninterviews wurde eine Argumentkarte zu den möglichen Risiken solcher Systeme entwickelt. Ergebnis war eine Checkliste für zukünftige Einsatzszenarien. Da diese Technologien sich noch in der Entwicklung befinden, mangelt es noch an Evidenzen, welche Systeme zukünftig zum Einsatz kommen werden. Stattdessen hatte die Analyse hypothetischen Charakter. Es wurde jeweils mit allgemeinen Eigenschaften selbstorganisierender Systeme argumentiert. Diese Eigenschaften wurden dann in der Checkliste abgefragt. Auf diese Weise war es möglich, einfache Anknüpfungspunkte für zukünftige Evidenzen zu schaffen.

Die Sondierungsstudie „Ethische Aspekte von Climate Engineering“ (Betz/Cacean 2012) ist eine von insgesamt sechs vom BMBF in Auftrag gegebenen Sondierungsstudien, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Climate Engineering auseinandersetzen, wobei sich die Autoren der Methode der Argumentkartierung bedient haben, um den damaligen Debattenstand zu analysieren. Die Sondierungsstudie zeigt deutlich, dass Vorsorgeüberlegungen in der Debatte sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern eine entscheidende Rolle spielen, und die rekonstruierten Argumente enthüllen die spezifischen Vorsorgeprinzipien, die sich oft auf possibilistisches Wissen beziehen. Darüber hinaus spielt die Abwägung von Handlungskonsequenzen, die sich in ihren epistemischen Modi (deterministisch, probabilistisch und possibilistisch) unterscheiden können, eine bedeutende Rolle. Insbesondere gibt es eine Fülle von Argumenten, die auf negative sowie positive Konsequenzen der Erforschung von CE-Maßnahmen hinweisen. Überraschend ist allerdings, dass die entsprechend notwendigen Abwägungsprinzipien innerhalb der ganzen Debatte weder explizit geäußert noch diskutiert werden und hier somit ein weiterer Forschungs- und Diskussionsbedarf besteht.

Neben den sechs Sondierungsstudien wurde im Rahmen des BMBF-Projekts überdies ein Gesamtbericht in interdisziplinärer Zusammenarbeit erstellt (Rickels et al. 2011). Auch hier haben sich die Argumentkarten als hilfreiches Werkzeug erwiesen, indem sie die Struktur des Gesamtberichtes maßgeblich geprägt haben. Die ethischen Aspekte von Climate Engineering in Form der erstellten Argumentkarten stehen nämlich nicht quer zu naturwissenschaftlichen, ökonomischen, sozialen, rechtlichen und politischen Aspekten. Vielmehr findet man die unterschiedlichen Aspekte in der Argumentkarte selbst wieder. Aussagen, die innerhalb der Fachdisziplinen diskutiert werden, tauchen in Form von Prämissen und Konklusionen innerhalb der Argumentkarte an unterschiedlichen Stellen in den Argumenten auf. So strukturieren Argumentkarten die interdisziplinäre Zusammenarbeit und machen gleichzeitig deutlich, wie die unterschiedlichen Aspekte über die Angriffs- und Stützungsrelationen zusammenhängen und inwieweit sie relevant für die Begründung von Handlungsempfehlungen sind.

In der Helmholtz-Allianz Energy-Trans ist die Lobster-Forschungsgruppe[5] derzeit mit dem Projekt „Konflikte in Planungsprozessen“ vertreten. Christian Voigt beobachtet in diesem Projekt seit 2012 die Konsultationsprozesse zum Netzausbau. In einer Argumentkarte wurde zunächst ausgewertet, inwieweit die Stellungnahmen von Bürgerinitiativen, Verbänden und Unternehmen argumentativ auf die zur Diskussion gestellten Planungen Bezug nehmen und inwieweit auf diese Argumente wiederum von den Übertragungsnetzbetreibern und der Bundesnetzagentur (BNetzA) eingegangen wurde. Fokus der Analyse war der „Szenariorahmen“ des Netzentwicklungsplans, der drei Zukunftsszenarien des Energiesystems beschreibt. Das Energiewirtschaftsgesetz schreibt vor, dass damit „die gesamte Bandbreite wahrscheinlicher Entwicklungen“ abzudecken sei. Unklar ist aber, anhand welcher Evidenzen und Evidenzstandards entschieden werden soll, dass diese Vorgabe erfüllt wurde. Eine Argumentationsanalyse ergab, dass solche Standards in den Genehmigungen der BNetzA nur implizit zur Anwendung kommen und höchst problematisch sind. Die Ursache dafür ist, dass sich mit den bestehenden fragilen Evidenzen eigentlich nur Möglichkeitsaussagen begründen lassen. Hier zeigt sich also auch, dass die problematischen Evidenzstandards der BNetzA wesentlich durch die zu ambitionierten gesetzlichen Vorgaben bedingt wurden.

4    Einwände

Zum Schluss wollen wir drei Einwände diskutieren, die immer wieder gegen die hier vorgestellte Methode vorgebracht werden. Ihre Diskussion kann helfen, die Ziele und Grenzen der Methode besser einzuschätzen.

Erster Einwand: Die Methode sei naiv, da sie nicht-rationale Einflussfaktoren vollständig ausblendet.

Eine Argumentkarte bildet nicht alle Aspekte einer Debatte ab, sondern filtert alles aus, was für die Darstellung der Begründungszusammenhänge irrelevant ist. Dadurch ist die Methode für vieles blind, z. B. für bloß rhetorische Aspekte, für Exklusionsmechanismen, Machtdynamiken oder die jeweiligen Motive, Interessen und Emotionen der Teilnehmenden, insofern sie nicht in Argumente eingehen.

Das ist aber kein Problem, weil Argumentkarten gar nicht die Ursachen für den Verlauf einer Debatte abbilden sollen. In unserem Beispiel soll die Karte z. B. gar nicht vorrangig erklären, aus welchen Ursachen heraus bestimmte Teilnehmer behaupten, dass Enhancement-Maßnahmen wie Modafinil einen bestimmten Nutzen oder bestimmte Risiken haben. Hier könnten die finanziellen Interessen der Pharmaindustrie oder die (vielleicht völlig unbegründeten) Ängste der Konsumenten eine wichtige Rolle spielen. Die Rekonstruktion soll stattdessen dabei helfen, die Gründe und deren Zusammenhänge transparent darzustellen, die die Teilnehmer jeweils auf ihrer Seite anführen. Und dafür sind die ignorierten Aspekte irrelevant, falls sie nicht selbst als Begründung herangezogen werden.

Diese Fokussierung ist gerade für die wissenschaftliche Politikberatung wichtig, weil sie ja keine strategische PR-Beratung liefern, sondern die rationale Diskussion und Rechtfertigung politischer Maßnahmen befördern soll.

Zweiter Einwand: Die Methode sei willkürlich, da sie vage und mehrdeutige alltagssprachliche Äußerungen logisch eindeutig formalisiert.

Alltagssprachliche Äußerungen enthalten häufig keine vollständigen Argumente. Prämissen fehlen häufig oder sind nur vage und verkürzt dargestellt. Zudem ist nicht immer klar, wie und auf welche vorausgehenden Argumente sich eine Äußerung überhaupt bezieht. All diese Lücken muss die logische Rekonstruktion ausfüllen.

Dieser Interpretationsspielraum kann jedoch meist hermeneutisch gut bewältigt werden: Jede Argumentrekonstruktion durchläuft einen iterativen Optimierungsprozess, in dem nach jeder Änderung drei Qualitätskriterien überprüft werden:

  1. Deduktive Gültigkeit: Welches logisch gültige Schluss-Schema passt zum Argument? Ist dieses Schema einmal identifiziert, so ergibt sich meist schon von selbst, welche Prämissen fehlen und welche umformuliert werden müssen.
  2. Einbettung in den dialektischen Kontext: Steht das rekonstruierte Argument in den richtigen Beziehungen zu anderen Argumenten? Dadurch, dass es derart in den Kontext eingespannt ist, werden die Freiheitsgrade erneut erheblich reduziert.
  3. Principle of Charity: Machen die Änderungen das Argument stärker oder schwächer? Zur rationalen Bewertung ist es notwendig, es so stark wie möglich zu machen. Auch dadurch lassen sich viele Interpretationsmöglichkeiten ausschließen.

Sollten am Ende immer noch mehrere Interpretationen die Kriterien vergleichbar gut erfüllen, so ist auch das ein interessantes Ergebnis. Außerdem ist es teilweise möglich, Rückmeldung von den Proponenten einzuholen, so dass sie sich selbst für eine Variante entscheiden können.

Dritter Einwand: Der Neutralitätsanspruch könne aufgrund der strengen normativen Rationalitätskriterien nicht eingelöst werden.

Argumentativ vage, mehrdeutige oder unvollständige Äußerungen werden aufgrund der strengen Rationalitätskriterien keinesfalls als minderwertig aussortiert. Vielmehr werden alle begründenden Äußerungen mit hohem Aufwand zu logisch validen Argumenten umgeformt und dabei so stark wie nur möglich gemacht.

Die Rationalitätskriterien dienen also nicht dazu, um bestimmte Äußerungen als Fehlschlüsse von der Rekonstruktion auszuschließen oder die Rationalität einzelner Teilnehmer zu bewerten. Stattdessen dienen sie dazu, die Qualität und Transparenz von Rekonstruktionen zu steigern. Sie fördern dadurch echte Chancengleichheit bei der Bewertung der Argumente.

Ist es dennoch inadäquat, alle Äußerungen in das Korsett eines logisch gültigen Argumentschemas zu pressen, weil die Normen der Logik keine Universalität beanspruchen können? Nein, denn dieser universelle Anspruch ist dadurch gerechtfertigt, dass nur Äußerungen rekonstruiert werden, mit denen Begründungsansprüche erhoben werden. Mit solchen Äußerungen wird nicht nur behauptet, dass irgendeine Aussage plausibel oder wahr ist, sondern beansprucht, dass die Plausibilität oder Wahrheit von den begründenden Aussagen auf die begründete Aussage übertragen wird. Genau das ist aber nur gewährleistet, wenn der Äußerung ein gültiges Argumentationsschema zugrunde liegt. Es handelt sich dabei auch deswegen um kein zu enges Korsett, weil es eine endlose Vielzahl gültiger deduktiver, induktiver oder abduktiver Schemata gibt, so dass sich für jedes Argument ein logischer Maßanzug schneidern lässt.

Anmerkungen

[1]  Einen Überblick gibt Kelly 2008.

[2]  Detailliertere Erläuterungen siehe Betz 2010.

[3]  Viele – allerdings nicht alle – Argumente lassen sich als deduktiv gültige rekonstruieren. Wie man Argumente adäquat rekonstruiert, die nicht in dieses Schema passen, muss an dieser Stelle offen gelassen werden.

[4]  Die Methode lässt weitgehend offen, wie dies auszubuchstabieren ist. Es muss insbesondere nicht unbedingt ein Nachweis für die Gültigkeit in einem ganz bestimmten logischen Kalkül erfolgen.

[5]  Nähere Informationen findet man unter http://srg-lobster.philosophie.kit.edu.

Literatur

Betz, G., 2007: Probabilities in Climate Policy Advice: A Critical Comment. In: Climatic Change 85/1 (2007), S. 1–9

Betz, G., 2010: Theorie dialektischer Strukturen. Frankfurt a. M.

Betz, G.; Cacean, S., 2012: Ethical Aspects of Climate Engineering. Karlsruhe; http://digbib.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/1000028245 (download 14.11.13)

Cacean, S., 2012: Ethische Aspekte von Cognitive Enhancement. In: Spitzer, G.; Franke, E. (Hg.): Sport, Doping und Enhancement – Ergebnisse und Denkanstöße. Köln

Förstl, H., 2009: Neuro-Enhancement. In: Der Nervenarzt 80/7 (2009), S. 840–846

IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change, 2007: Climate Change 2007 (AR4) – The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge, UK

Kelly, T., 2008: Evidence. In: Zalta, E.N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy; http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/evidence/ (download 14.11.13)

Rickels, W.; Klepper, G.; Dovern, J. (Hg.), 2011: Large-Scale Intentional Interventions into the Climate System? Assessing the Climate Engineering Debate. Scoping report conducted on behalf of the German Federal Ministry of Education and Research (BMBF), Kiel; http://www.kiel-earth-institute.de/scoping-report-climate-engineering.html (download 14.11.13)

Voigt, C., 2010: Argumentationsanalyse für und wider den Einsatz von Organic Computing. In: Conrad, J.; Petschow, U.; Pissarskoi, E. et al. (Hg.): Selbstorganisierende adaptive Systeme – Analyse der Chancen und Risiken sowie der Gestaltungsansätze neuer IKT Ansätze. BMBF

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