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Radioaktive Reststoffe. Lösungsoptionen aus Sicht der Rechtswissenschaft
Radioaktive Reststoffe
Lösungsoptionen aus Sicht der Rechtswissenschaft
von Ulrich Smeddinck, TU Braunschweig
Das vertrackte Problem des Umgangs mit radioaktiven Abfällen braucht das Recht wie die rechtswissenschaftliche Analyse, damit disziplinenübergreifende Lösungen erreicht werden können. Der Beitrag führt in das Thema ein, stellt aktuelle Forschungsanstrengungen vor, akzentuiert die Offenheit der Rechtswissenschaft für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, skizziert den Rechtsrahmen, streift mit dem „Standortauswahlgesetz“ die neueste Rechtsentwicklung und formuliert über den Tag hinaus gehende Forschungsfragen.
1 Einleitung
Die Suche nach Zwischenlagern für Castoren wie nach einem Standort für ein Endlager hat sich erneut zum tagesaktuellen Politikthema entwickelt. Die Bemühungen um Lagerstätten sowie politische, rechtliche und zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen um den Umgang mit Atomkraft haben bereits eine jahrzehntealte Tradition (Radkau 2012). Wohin mit dem Atommüll? Die Frage ist über lange Zeit verdrängt worden. Bisher ist kein Endlager gefunden. Gerade die bislang überwiegend disziplinäre Bearbeitung des Themas gilt als eine der Hauptursachen für das „Versagen im Sektor Endlagerung“ (Kromp/Lahodynsky 2006, S. 79).
2 Forschungsplattform ENTRIA
Auf dieses Versagen im Sektor Endlagerung reagiert die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsplattform „ENTRIA – Entsorgungsoptionen für radioaktive Reststoffe“ (http://www.entria.de). Die Entsorgung hat sich zu einem Themenkomplex entwickelt, der nicht mehr allein technisch-naturwissenschaftlich angegangen werden kann. Nicht nur die Vielzahl denkbarer Entsorgungsoptionen, sondern auch die sich hieraus ergebenden gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Aspekte erfordern eine umfassende, interdisziplinär geprägte multikriterielle Bewertung. Die Plattform (Laufzeit bis 2017) fördert daher den wissenschaftlichen Austausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den mit der Entsorgung radioaktiver Reststoffe befassten Natur-, Ingenieur-, Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaftlern, die Durchführung einschlägiger Forschung sowie die disziplinäre und interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
3 Rechtswissenschaft als Partner in der interdisziplinären Zusammenarbeit
Klassische juristische Aufgaben sind die Klärung der Rechtslage sowie die Bearbeitung der Frage nach der Zulässigkeit einer bestimmten Maßnahme. Insofern kommt dem rechtlichen Teilprojekt im Rahmen der Plattform auch die Funktion des „Rechtsexperten“ und „Dienstleisters“ für rechtliche Fragen zu – sei es bei der Begutachtung rechtlicher Fragestellungen aus anderen Teilprojekten oder dem Bereitstellen von Service-Informationen. Die Bearbeitung von Rechtsproblemen aus eigener Initiative schließt das nicht aus.
Wenig bekannt ist häufig noch die Anschlussfähigkeit in der interdisziplinären Zusammenarbeit: Die Rechtswissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten ihr Selbstverständnis und das Verhältnis zu anderen Disziplinen in vorbildlicher Weise geklärt. Ausschlaggebend dafür war einerseits der zeitliche Druck, in Konfliktfällen gerichtlich in überschaubarer Zeit zu einer Entscheidung zu kommen. Andererseits muss das Recht auf Informationen aus der Lebenswelt sowie auf Daten und Materialien anderer Disziplinen zurückgreifen, um zu belastbaren Ergebnissen kommen zu können (Augsberg 2013). Interdisziplinär musste die Einbeziehung z. B. sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in konfliktreichen Auseinandersetzungen erkämpft werden (Hoffmann-Riem 2007). Heute gehört die interdisziplinäre Ausrichtung zum state of the art der Rechtswissenschaft, die sich nicht nur in theoretischen Überlegungen erschöpft, sondern auch ganz konkrete Ansätze und Methoden zur Zusammenarbeit entwickelt hat (Voßkuhle 2012).
Innerhalb von ENTRIA ist konsequenterweise eine gesonderte Zusammenarbeit mit dem Teilprojekt „Umweltethik“ vorgesehen, die darauf zielt, die Rechtfertigungsrationalität bezogen auf Lösungsoptionen für radioaktive Reststoffe zu untersuchen und zu befördern. Inhaltliche Verbindungslinien ergeben sich vom Recht aus darüber hinaus insbesondere zu den weiteren Teilprojekten „Technikfolgenabschätzung und Governance“ und „Interdisziplinäre Risikoforschung“.
4 Der Rechtsrahmen
Es gibt kein geschlossenes Rechtsgebiet „Atomausstiegsrecht“. Das ist nicht überraschend, denn in der Vergangenheit standen die mit dem Betrieb der Atomkraftwerke verbundenen Rechtsfragen im Vordergrund. Die hierfür einschlägigen Rechtsmaterien werden natürlich weiterhin gebraucht: Aus dem Verfassungsrecht sind der Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) gerade im Hinblick auf Entschädigungsfragen zu nennen. Im Verwaltungsrecht sind das Atomgesetz und die Strahlenschutzverordnung von zentraler Bedeutung. Herausforderungen in dem Bereich waren bereits in der Vergangenheit, die Verteilung der Reststrommengen sowie den Abbau und die Entsorgung stillgelegter Anlagen zu organisieren. Mit dem, nach dem Unglück von Fukushima beschlossenen, endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland stellen sich diese Aufgaben drängender, unter neuem Blickwinkel und in ganz anderen Dimensionen.
Nach Gerd Winter (2012) werde die bisher bescheidene Rolle des Verwaltungsrechts mit den Fragen der Entsorgung und des Abbaus stillgelegter Anlagen in Zukunft erheblich zunehmen. Zwar sei das Verfassungsrecht in Gestalt der Entschädigungsfrage bereits in der Wendezeit hin zum Atomausstieg von enormer Bedeutung gewesen, allerdings sei in der Abwicklungszeit der Atomkraftwerke nicht mehr viel zu bearbeiten gewesen. Auch diese Aussagen gilt es zu überprüfen.
5 Das Standortauswahlgesetz
Die Rechtsentwicklung hat in letzter Zeit an Fahrt aufgenommen (Brandt 2011). Zuletzt sorgte das Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und zur Änderung anderer Gesetze (Standortauswahlgesetz – StandAG) für Kontroversen. Das Standortauswahlgesetz schafft einen Rahmen für die Suche, die im nationalen Konsens zwischen Bund und Ländern, Staat und Gesellschaft, Bürgerinnen und Bürgern erfolgen soll.
Während des Gesetzgebungsverfahrens wurden von Umweltverbänden und -gruppen sowohl die mangelnden Möglichkeiten zur Öffentlichkeitsbeteiligung im Verfahren selbst wie im Gesetzentwurf kritisiert. Eine vom Bundesumweltministerium kurzfristig angebotene, im formalen Verfahren nicht vorgesehene Anhörung in Berlin wurde von etlichen Verbänden boykottiert. Niedersachsen verlangte, keine weiteren Castoren aufnehmen zu müssen. Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein erklärten sich zur Aufnahme von Castoren mit wiederaufgearbeitetem Material aus dem Ausland bereit – allerdings nur, wenn mindestens ein weiteres Bundesland mit anderen „Regierungsfarben“ ebenfalls Castoren aufnimmt. Eine Einigung zum Gesetz war nur um den Preis zu erzielen, dass diese Frage ausgeklammert und in die nächste Legislaturperiode verschoben wurde.
Im Anschluss hat das Oberverwaltungsgericht Schleswig die Genehmigung für das atomare Zwischenlager Brunsbüttel aufgehoben. Die Richter gaben der Klage eines Anwohners gegen das Bundesamt für Strahlenschutz statt (Az.: 4 KS 3/08). Der Kläger befürchtete Gefahren durch mangelnden Schutz vor terroristischen Angriffen. Damit ist die weitere Einigung zunächst erschwert worden.
Das Gesetz ist im Anschluss an sozialwissenschaftliche Vorarbeiten erarbeitet worden (z. B. Hocke/Grunwald 2006). Auch wenn die Ausgestaltung der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht den nach wie vor als maßgeblich anerkannten Ergebnissen des vom damaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin eingesetzten sog. AKEnd (Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte), der von 1999 bis 2002 arbeitete, entspricht (vgl. Kromp/Lahodynsky 2006), und nicht alle einverstanden sind: Die gewählte Ausformung bewegt sich in einem Rahmen von Good Governance (Smeddinck/Roßegger 2013). Da die Entwicklung der Öffentlichkeitsbeteiligung generell zwischen den Polen Rechtsstaatlichkeit und fortschrittliche partizipative Verfahren im Fluss ist und das Gesetz die Möglichkeit der Nachsteuerung vorsieht, ist es aber richtig, weiter – auch wissenschaftlich – über bessere Lösungen zu streiten.
6 Forschungsfragen
Kürzlich wurde das Verwaltungsverfahrensgesetz unter dem Eindruck von „Stuttgart 21“ im Sinne der Öffentlichkeitsbeteiligung novelliert. Es bleibt zu prüfen, ob sich aus dem konkreten Beispiel der Lagerung radioaktiver Reststoffe Anstöße für die Weiterentwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts etwa im Hinblick auf die Behörden-, aber auch die Öffentlichkeitsbeteiligung selbst ergeben. Einen breiten Raum wird die Klärung der Verfassungsprinzipien Demokratie, Gewaltenteilung und Föderalismus sowie der Staatszielbestimmung Umweltschutz – bezogen auf die Problematik – einnehmen. Schlussfolgerungen daraus sind im Hinblick auf die einzelnen Entsorgungsoptionen zu ziehen. Im Anschluss müssen verfassungsrechtliche „Leitplanken“ für Instrumentenauswahl und Gesetzgebung formuliert werden. Schließlich bedarf es der kontinuierlichen, schrittweisen Prüfung von Lösungsoptionen am Verwaltungsrecht. Gerade hier könnte sich ein gesteigerter Rechtsetzungsbedarf ergeben.
Im Übrigen soll das StandAG, aufsetzend auf das Atomgesetz, lediglich eine Zwischenstufe in einer Phalanx weiterer gesetzlicher Regelungen sein. Insofern gilt es, auch die weitere Rechtsentwicklung im Bereich Gesetzgebung und Justiz zu begleiten und zu analysieren.
7 Fazit und Ausblick
Neuerdings sind Zeitprobleme im Umweltrecht thematisiert worden (Gärditz 2013). Tatsächlich bietet die Suche nach Lösungen für radioaktive Reststoffe eine zeitliche Perspektive, die alle Beteiligten technisch wie intellektuell herausfordert, ja zu überfordern droht: Nach § 1 StandAG soll ein Standort für die im Inland verursachten, insbesondere hochradioaktiven Abfälle für eine Anlage zur Endlagerung gefunden werden, die die bestmögliche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jahren gewährleistet.
Das setzt rechtsstaatliche Verfahren und staatliche Institutionen unter Druck. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Endlagerung radioaktiver Reststoffe um ein wicked problem handelt (Brunnengräber et al. 2012), werden möglicherweise rechtliche Stärken gefragt sein und eine Renaissance im Ansehen erfahren, die häufig stark kritisiert werden: schrittweise Entscheidungen, die die Komplexität runterbrechen und reduzieren.
Literatur
Augsberg, I. (Hg.), 2013: Extrajuridisches Wissen im Verwaltungsrecht: Analysen und Perspektiven. Tübingen
Brandt, E., 2011: Energierechtswende als geronnene Politik. Rechtswissenschaftliche Arbeitspapiere der TU Braunschweig. Braunschweig; https://www.tu-braunschweig.de/Medien-DB/svv/ratubs_4_2011_text.pdf (download 4.10.13)
Brunnengräber, A.; Mez, L.; Di Nucci, M.R. et al., 2012: Nukleare Entsorgung: Ein „wicked“ und höchst konfliktbehaftetes Gesellschaftsproblem. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 21/2 (2012), S. 59–65
Gärditz, K.F., 2013: Zeitprobleme des Umweltrechts. In: Europäisches Umwelt- und Planungsrecht (EurUP) 1 (2013), S. 216
Hocke, P.; Grunwald, A. (Hg.), 2006: Wohin mit dem radioaktiven Abfall? Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung. Berlin
Hoffmann-Riem, W., 2007: Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft. In: Juristen-Zeitung 13 (2007), S. 645–652
Kromp, W.; Lahodynsky, R., 2006: Die Suche nach dem Endlager – „Make Things Small“. In: Hocke, P.; Grunwald, A. (Hg.): Wohin mit dem radioaktiven Abfall? Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung. Berlin, S. 63–81
Radkau, J., 2012: Eine kurze Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Ende des Atomzeitalters? Von Fukushima in die Energiewende. Bonn, S. 109–126; http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/141329/ende-des-atomzeitalters (download 4.10.13)
Smeddinck, U.; Roßegger, U., 2013: Partizipation bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe – unter besonderer Berücksichtigung des Standortauswahlgesetzes. In: Natur+Recht (NuR) 35 (2013), S. 548–556
Voßkuhle, A., 2012: Neue Verwaltungsrechtswissenschaft. In: Hoffmann-Riem, W.; Schmidt-Aßmann, E.; Voßkuhle, A. (Hg.): Grundzüge des Verwaltungsrechts I. München
Winter, G., 2012: Aufstieg und Fall der Kernenergie in Deutschland. Verläufe, Erklärungen und die Rolle des Rechts. In: Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht 2 (2012), S. 209–246; http://www-user.uni-bremen.de/~gwinter/kernenergieausstieg.pdf (download 4.10.13)
Kontakt
PD Dr. Ulrich Smeddinck
Institut für Rechtwissenschaften
TU Braunschweig
Bienroder Weg 87, 38106 Braunschweig
E-Mail: u smeddinckFfv0∂tu-braunschweig de