Rezensionen
B. Klauer, R. Manstetten, T. Petersen, J. Schiller (unter Mitarbeit von B. Fischer, F. Jöst, M.-Y. Lee und K. Ott): Die Kunst langfristig zu denken. Wege zur Nachhaltigkeit
Das „Konzept der Bestände“: Passende Heuristik für eine Politik der Nachhaltigkeit?
B. Klauer, R. Manstetten, T. Petersen, J. Schiller (unter Mitarbeit von B. Fischer, F. Jöst, M.-Y. Lee und K. Ott): Die Kunst langfristig zu denken. Wege zur Nachhaltigkeit. Baden-Baden: Nomos, 2013, 337 S., ISBN 978-3-8329-5180-1, Euro 34,00
Rezension von Karl-Werner Brand, Technische Universität München
Das aus dem Kontext des BMBF-Förderschwerpunkts „Wirtschaftswissenschaften für Nachhaltigkeit“ erwachsene Buch verfolgt ein ambitioniertes Ziel. Gestützt auf das „Konzept der Bestände“ entwickelt es eine an Fallbeispielen illustrierte Heuristik, die es ermöglichen soll, die heterogenen, überwiegend disziplinär strukturierten, zugleich überkomplexen und unsicheren Wissensbestände so aufzubereiten, dass die Politik der Nachhaltigkeit „etwas an die Hand bekommt, mit dessen Hilfe sie komplexe Nachhaltigkeitsprobleme […] erschließen, zuschneiden und für sinnvolle Lösungen zugänglich machen“ kann (S. 26f.). Der zentrale theoretische Baustein dieser „Heuristik für eine Politik der Nachhaltigkeit“ (S. 33) ist das Konzept der Bestände. Dieses Konzept rückt die für die Politik der Nachhaltigkeit entscheidende Bedeutung der Zeit in den Mittelpunkt, aber nicht die lineare, chronologische Zeit, sondern die „Zeit der Dinge“, die Eigenzeit und Eigendynamik von „materiellen und immateriellen Beständen“. Damit soll ein „Denken in langen Fristen“ eingeübt und ein am „richtigen Zeitpunkt“ (kairos) orientiertes politisches Urteilen ermöglicht werden.
Im ersten und zweiten Abschnitt der Arbeit werden die Kernbegriffe dieses Konzepts erläutert und mit der Nachhaltigkeitsdebatte in Verbindung gesetzt. Im dritten Abschnitt wird dieses Konzept an zwei Fallbeispielen erprobt: dem des (erfolgreichen) Altlastenmanagements in Sachsen-Anhalt und dem der (weniger erfolgreichen) Politik der nachhaltigen Flächennutzung in der Bundesrepublik. Im vierten und letzten Teil werden die theoretischen Konzepte und empirischen Fallbeispiele für die Entwicklung der spezifischen Heuristik genutzt, die der Nachhaltigkeitspolitik als Handlungsorientierung dienen soll. Diese Heuristik wird dann abschließend noch einmal am Beispiel der Binnenschifffahrtspolitik erläutert und „getestet“. Dies alles wird in einer bestechend klaren, verständlichen Sprache präsentiert. Die im Spannungsfeld von Wirtschaftswissenschaften und Philosophie sich bewegende, inhaltlich stark von der „Heidelberger Schule für Ökologische Ökonomie“ geprägte Argumentation ist erfreulich offen, interdisziplinär und reflexiv angelegt.
Die Frage ist, wie überzeugend die Argumentation selbst ausfällt und wie brauchbar die entwickelte Heuristik ist. Als Soziologe mit politikwissenschaftlichem Hintergrund erscheint mir dabei von besonderem Interesse, inwieweit sozial- und politikwissenschaftliche Zugänge das zentrale Ergebnis der Arbeit, die „Heuristik für eine Politik der Nachhaltigkeit“, stützen oder inwieweit sie eher auf Blindstellen der Argumentation verweisen.
1 Das Konzept der Bestände als Heuristik für eine Politik der Nachhaltigkeit
„Zeit“, „Bestände“ und „Urteilskraft“ sind die drei Kernbegriffe des Beständekonzepts. Der Begriff des „Bestandes“ soll „eine Darstellung von Gegenständen unter dem Gesichtspunkt ihrer Zeitlichkeit, Veränderlichkeit und Trägheit“ ermöglichen (S. 64). Die Besonderheit dieses Begriffs ist, dass er sowohl materielle als auch immaterielle Bestände umfasst. Während zu ersteren Kapitalgüter, natürliche Ressourcen, technische Infrastrukturen, Bevölkerung, natürliche Systeme und bio-physische Gegebenheiten zählen, werden zu „immateriellen Beständen“ vorrangig soziale Institutionen gerechnet (S. 104). Im Anschluss an die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens und ihrer reflexiven Erweiterung durch Helmut Schelsky werden Institutionen dabei als normativ wirksame „Regeln“ und habitualisierte „Verhaltensmuster“ verstanden, die dem gesellschaftlichen Leben Orientierung, Stabilität und Erwartungssicherheit verleihen. Das öffnet die auf den „rationalen Nutzenmaximierer“ fokussierte modelltheoretische Perspektive der Ökonomie für ein sehr viel umfassenderes, sozialwissenschaftliches Verständnis sozialen Lebens als „institutionell eingebettetes Handeln“ (S. 136). Das schafft eine realistischere Sicht sowohl auf die „Beharrlichkeit von Institutionen“ als auch auf die komplexen Voraussetzungen institutioneller Transformation in Richtung Nachhaltigkeit (S. 145ff.).
Dass die unterschiedlichen materiellen (technischen und natürlichen) „Bestände“ einer jeweils eigenen Entwicklungsdynamik folgen, eine bestimmte „Eigenzeit“ aufweisen, ist intuitiv einsichtig. Weniger offenkundig sind die Eigenzeiten institutioneller Bestände. Gesellschaftliche Umbrüche und Transformationsprozesse unterliegen weniger fixen Rhythmen. Als methodische Anhaltspunkte werden hier statistische (Makro-)Daten und internationale, historische Vergleiche genutzt; welche Aufschlüsse diese für eine, rapiden sozialen Umbrüchen unterworfene, globalisierte Welt liefern, ist allerdings offen. Ziel des Beständekonzepts ist es auf jeden Fall, das Zusammenspiel der miteinander verknüpften materiellen und immateriellen Bestände mit ihrer je eigenen Zeitlichkeit und Dynamik besser zu verstehen (S. 63). Die Autoren unterscheiden dabei zwischen einer Systemperspektive, in der die strukturellen Zusammenhänge der verschiedenen Elemente eines Handlungsfelds im Vordergrund stehen und einer Beständeperspektive, die ihr Augenmerk primär auf die Zeitlichkeit der relevanten Elemente eines Untersuchungsfelds richtet. Auch das setzt allerdings ein bestimmtes Vorwissen über Systemzusammenhänge voraus und schafft ihrerseits wieder ein verbessertes Verständnis der Systemzusammenhänge; Bestände- und Systemperspektive sind somit einander ergänzende Zugänge zur „Generierung von Handlungswissen“ (S. 256f.).
Die Einsicht in die komplexe Zeitlichkeit der Bestände ist für die Autoren nicht Selbstzweck, sondern Mittel für die Schärfung des praktischen Urteilsvermögens. In der Politik, so die Autoren, ist nicht kausales, sondern „praktisches Wissen“ gefordert, um zu angemessenen, auf das individuelle Problem bezogenen Urteilen zu kommen. Im Rahmen der Nachhaltigkeitspolitik erfordert dies vor allem einen praktischen „Sinn für die rechte Zeit“ (S. 189ff.). Dem dient die von den Autoren aus dem Beständekonzept entwickelte „Heuristik“. Diese besteht aus sieben Schritten, deren Kern die Schritte 3 bis 5 darstellen: „Relevante Bestände identifizieren“, „Eigendynamik der Bestände beschreiben“, „Wissen über relevante Bestände und ihre Eigendynamik ordnen und zu einem Gesamtbild integrieren“.
2 Der konservative Bias des Beständekonzepts
Dieses hier, in groben Strichen skizzierte, Konzept und die daraus entwickelte Heuristik haben durchaus Charme. Wie das Fallbeispiel der Binnenschifffahrt zeigt, lassen sich damit auch die wesentlichen, auf diesem Feld wirksamen Einfluss- oder Bestandsfaktoren erfassen und die Erfordernisse und Möglichkeiten einer nachhaltigeren Binnenschifffahrts- und Verkehrspolitik herausarbeiten. Das Beständekonzept hat gleichwohl einen ausgesprochen konservativen Bias. Das liegt nicht nur an der explizit „realistischen“ Zielsetzung, die sich am gegebenen Bestand, an den „realen Handlungsmöglichkeiten“ (S. 310) orientiert, und von allzu radikalen Forderungen nach einem „fundamentalen Wandel unserer Produktions-, Konsumtions- und Lebensweise“ abgrenzt (S. 309f.). Das liegt wesentlich auch an den zentralen theoretischen Bausteinen des Beständekonzepts.
Philosophisch stützen sich die Autoren primär auf Kants Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft. Diese, an der mechanistischen Physik Newtons orientierte Begrifflichkeit, wird, was die Kategorie der Zeit betrifft, durch das antike, aristotelische Verständnis von Zeit ergänzt. Die Verknüpfung dieser beiden philosophischen Versatzstücke schafft einen eigentümlich traditionellen Duktus der Argumentation. Auf der einen Seite steht ein klassisch-positivistisches Wissenschaftsverständnis, das kausales „Fakten- und Regelwissen“ (S. 306) liefert, auf der anderen Seite die „praktische Urteilskraft“, der alle unscharfen, erfahrungsbasierten Wissensformen zugeordnet werden, und die mithilfe der Beständeheuristik in der „Kunst langfristig zu denken“ geschult werden soll. Die Aufwertung des „praktischen Wissens“ ist zwar zu begrüßen. Sie bleibt aber im dualistischen Modell des klassisch modernen Denkens gefangen.
Dieser Dualismus wird in Teilen der Sozial- wie der Naturwissenschaften seit Jahrzehnten hinterfragt. Die dekontextualisierten Modelle kausalen „Regelwissens“ erwiesen sich so gleichermaßen als soziale Konstrukte wie die Formen des praktischen Erfahrungswissens; es sind nur andere, technisch und institutionell hochgradig stabilisierte Konstrukte. Wie die modernen Risikokonflikte sinnfällig zeigten, enthalten wissenschaftliche Paradigmen (unvermeidlich) auch immer bestimmte Wertannahmen und Wirklichkeitsdeutungen, sind eng mit gesellschaftlichen Interessen- und Machtstrukturen verknüpft. Deutlich wurde nicht zuletzt, dass Ungewissheit, „Nichtwissen“, ein zentrales Merkmal moderner Umweltdebatten darstellt. Komplexitätstheoretische Modelle nicht-linearer Entwicklungsdynamiken haben deshalb das alte, mechanistische Kausalitätsdenken in der Umweltforschung weitgehend verdrängt. Daraus haben sich neue, transdisziplinäre Formen der Politisierung von Wissenschaft und der Verwissenschaftlichung von Politik entwickelt (z. B. IPCC). Das alles entgeht dem konventionellen wissenschaftstheoretischen Blick der Autoren, wird in seinen Implikationen nicht weiter thematisiert.
Ebenso irritierend ist, dass sowohl die auf eine lange Geschichte zurückblickende sozialwissenschaftliche Zeitforschung als auch die aktuelle, sozialökologische Zeit-Debatte völlig ausgeblendet werden. Zu ersterer zählen nicht nur die unterschiedlichen Studien der Vielfalt „sozialer Zeiten“, ihrer klassenspezifischen, geschlechts- und lebenszyklischen Ausprägungen, der unterschiedlichen zeitlichen Strukturierung gesellschaftlicher Teilsysteme und Lebenssphären; dazu zählen auch aktuelle Analysen der mit der informationstechnischen Revolution und der Herausbildung eines flexiblen, globalisierten Kapitalismus einhergehenden Veränderung gesellschaftlicher Zeitregime. Selbst der in der Nachhaltigkeitsdebatte so prominente, auf Möglichkeiten der „Entschleunigung“ fokussierte Zeit-Diskurs taucht im Rahmen des Beständekonzepts nicht weiter auf. Barbara Adam propagiert in diesem Zusammenhang bereits seit Längerem eine „Timescape“-Perspektive, die die Eigendynamiken, die Verknüpfung der unterschiedlichen Temporalitäten sozialer, technischer und natürlicher Prozesse und die daraus entstehenden Probleme systematisch in den Blick nimmt. Einschlägig wäre in diesem Zusammenhang auch die umfangreiche Forschung zu politisch-institutionellen wie zu soziotechnischen „Pfadabhängigkeiten“. Das Beständekonzept nimmt all diese Debatten und Forschungsstränge nicht, zumindest nicht erkennbar zur Kenntnis, obwohl es daran hochgradig anschlussfähig wäre.
Ausgeblendet bleibt auch, dass der Topos des „praktischen Wissens“ nicht nur in der antiken Philosophie, sondern u. a. auch in den soziologischen, praxistheoretischen Arbeiten Pierre Bourdieus einen zentralen Stellenwert besitzt. Darüber würden allerdings auch klassen-, macht- und herrschaftstheoretische Gesichtspunkte ins Blickfeld geraten, die in der Arbeit von Klauer et al. so gut wie vollständig ausgespart bleiben. Sozialwissenschaftliche Perspektiven fließen systematisch nur an einer Stelle in das Beständekonzept ein: über die Rezeption des wesentlich von Arnold Gehlen geprägten Institutionenbegriffs. Dieser leistet nun allerdings gerade einer an konservativer Bestandsicherung orientierten Perspektive Vorschub. So wichtig es ist, die Eigendynamik von Beständen und die (guten) Gründe für die „Beharrlichkeit“ und „Widerständigkeit“ kulturell eingebetteter Institutionen gegenüber ökonomistisch oder rationalistisch verkürzten Transformationsmodellen bewusst zu machen, so sehr erfordert der Sinn für den „rechten Zeitpunkt“ politischen Handelns aber auch einen (sozialwissenschaftlich informierten) Sinn für Transformationschancen in einem durch systemische Abhängigkeiten, Machtgefüge und Ungleichheiten strukturierten Handlungsfeld.