Kontextszenarien. Ein Konzept zur Behandlung von Kontext­unsicherheit und Kontextkomplexität bei der Entwicklung von Energieszenarien

Schwerpunkt: Energiewende 2.0 – vom technischen zum soziotechnischen System?

Kontextszenarien

Ein Konzept zur Behandlung von Kontextunsicherheit und Kontextkomplexität bei der Entwicklung von Energieszenarien

von Wolfgang Weimer-Jehle und Sigrid Prehofer, ZIRIUS, sowie Stefan Vögele, Forschungszentrum Jülich

Dass die geplante Transformation des deutschen Energiesystems als Transformation eines soziotechnischen Systems verstanden werden muss, ist heute eine breit akzeptierte Sicht in der Energieforschung und auch Grundverständnis der Helmholtz-Allianz ENERGY-TRANS[1]. Die praktische Umsetzung dieser Einsicht ist jedoch in vielen Bereichen der Energieforschung noch eine Herausforderung, für die Konzepte zu entwickeln, zu erproben und als Praxisstandards zu etablieren sind. Gegenstand dieses Beitrags ist ein Konzept mit den Zielen, die real vorhandene und folgenreiche Einbettung der Energiesystementwicklung in die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung analytisch zu erfassen und die Konstruktion von langfristigen Energieszenarien so zu gestalten, dass sie diese Einbettung widerspiegeln. Hierzu wird der Ansatz der Kontextszenarien diskutiert und seine Anwendung in der Helmholtz-Allianz skizziert.

1     Einleitung

Modellgestützte Energieszenarien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten als unverzichtbares Instrument in der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Debatte über energiepolitische Ziele etabliert. Sie dienen als Ausgangspunkt für politische und wirtschaftliche Entscheidungen sowie als Rahmen für die Konzipierung der Weiterentwicklung des Energiesystems. Insgesamt leisten Energieszenarien einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Politikberatung. Im Fokus traditioneller Energieszenarien stehen dabei die technisch-ökonomischen Parameter des Energiesystems wie Ausbaupfade, Energiemixe und Versorgungskosten. Ihre Stärken liegen in der quantitativen Erfassung der Energieflüsse und der Emissions- und Kostenwirkungen im komplexen System der Umwandlungs-, Verteilungs- und Nutzungsprozesse.

Direkt energierelevante gesellschaftliche Entwicklungen, wie z. B. die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, werden dabei in der Regel als fixe Rahmenannahmen verwendet. Viele indirekt relevante gesellschaftliche Entwicklungen, wie z. B. der Wertewandel, mögliche Änderungen in den Technologieeinstellungen der Bevölkerung und des Images der Energieträger oder die zukünftige Leistungsfähigkeit der Innovationssysteme, werden in der Regel nicht explizit als Rahmenannahmen thematisiert. Vielmehr schwingen die Vorstellungen der Szenario-Autoren zu diesen Themen oft nur implizit in der Wahl der technisch-ökonomischen Parameter der Modellierung mit.

Ein besonderes Problem dieses Vorgehens liegt darin, dass die Kontextbedingungen, die die Entwicklung des Energiesystems oft entscheidend prägen, auf lange Sicht extrem unsicher sind. Der Stand der Bevölkerungsentwicklung, der Wirtschaftsentwicklung, die physische, ökonomische und politische Verfügbarkeit verschiedener Rohstoffe, der Umfang des technologischen Fortschritts in den einen oder anderen Technologiefeldern, Werte, Lebensstile und Technikpräferenzen der Bevölkerung könnten im Jahr 2050 so unterschiedlich ausfallen, dass Modellresultate offensichtlich völlig verschieden ausfallen werden, je nachdem in welcher Weise und in welcher Zusammenstellung man sich aus diesem Unsicherheitsraum bei der Wahl der Inputdaten eines Energiemodells „bedient“. Neben anderem trägt dies vermutlich erheblich zur häufigen Diskrepanz zwischen Szenarien unterschiedlicher Quellen bei, die den Beobachter irritiert und zur Ursachenforschung aufruft (zum Diversitätsproblem bei Energieszenarien s. Grunwald 2011). Die Unbestimmtheit vieler Kontextbedingungen kann von den Szenario-Autoren potenziell auch zu taktischem Auswahlverhalten missbraucht werden, wenn bestimmte Ergebnisse erwünscht sind. Umgekehrt können die Autoren einer Szenario-Studie selbst bei bestem Willen leicht in den Verdacht einer taktischen Wahl geraten, wenn Kritiker sich andere Ergebnisse erhofft hatten. Eine unzureichend bedachte Auswahl kann angesichts der Interdependenzen zwischen den Kontextbedingungen außerdem zu einer inkonsistenten Auswahl führen, was die Relevanz der späteren Resultate beeinträchtigen würde. Das Ignorieren von Auswahl-Alternativen kann zu Resultaten und Ergebnisinterpretationen führen, die unerkannt auf der schieren Zufälligkeit der Auswahl beruhen.

Ein Verfahren, das mit den Kontextunsicherheiten auf systematische und transparente Weise umgeht, könnte daher die analytische Stringenz der Konstruktion von Energieszenarien verbessern. Es könnte auch dazu beitragen, einen kritischen und bislang eher vernachlässigten Teil des Konstruktionsverfahrens zu „verwissenschaftlichen“, indem es ihn besser nachvollziehbar und damit der Kritik zugänglich macht. Das im Folgenden vorgestellte Verfahren der „Kontextszenarien“ bietet der Energieszenarioanalyse aus Sicht der Autoren die Chance, in dieser Hinsicht einen Schritt voran zu gehen.

2     Kontextunsicherheit und Kontextkomplexität in der Energieszenarioanalyse

Energiemodelle ermöglichen die Berechnung der Energieflüsse und der Emissions- und Kostenwirkungen im Energiesystem. Wie in der Einleitung ausgeführt, benötigen sie hierfür jedoch zahlreiche Annahmen über die Gesellschaft, die das Energiesystem baut, nutzt, mit Produktionsmitteln versorgt, kritisch beobachtet und reguliert: Demografische und wirtschaftliche Strukturen, technologische Innovationen, politische Leitbilder und daraus resultierende Politikmaßnahmen, Wertewandel, Lebensstile und Technikakzeptanz und das davon bestimmte Kauf- und Nutzungsverhalten sowie viele andere gesellschaftliche Größen beeinflussen explizit und implizit, welche Nachfrage nach Energiedienstleistungen in das Modell eingespeist werden, welche Technologien dem System zur Verfügung stehen, welche Technologiereife diese zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen und welche Kosten daher bei ihrer Nutzung entstehen. So wie das reale Energiesystem in die Gesellschaft eingebettet ist, so findet sich auch die modellgestützte Energiesystemanalyse inmitten einer „Wolke“ von gesellschaftlichen Faktoren wieder, die explizit und implizit den Antrieb des Modells und damit auch seine Ergebnisse bestimmen (Abb. 1). Diese Einbettung ist keineswegs eine Marginalität, sondern viele der gesellschaftlichen Rahmenannahmen haben massiven Einfluss auf die Ergebnisse der Modellrechnung.

Abb. 1:   Einbettung modellgestützter Energiesystemanalyse in eine Gesellschaftsbeschreibung*

Einbettung modellgestützter Energiesystemanalyse in eine Gesellschaftsbeschreibung

* Die Themennennungen sind beispielhaft.

Quelle:  Eigene Darstellung

Zum Problem wird diese Abhängigkeit, sobald das Modell nicht für Gegenwartsanalysen verwendet, sondern zur Konstruktion von Energieszenarien eingesetzt wird und daher zukünftige Zustände des Energiesystems berechnen soll. Hierfür erfordert das Modell nicht mehr nur eine Beschreibung der gegenwärtigen, sondern Beschreibungen der zukünftigen Gesellschaft als Input. Modellgestützte Energieszenarien erfordern also unausweichlich und zu allererst einen Blick auf die Zukunft unserer Gesellschaft – also ein Gesellschaftsszenario, das dem Modell als „Kontextszenario“ dienen kann. Der Entwurf dieses einbettenden Kontextszenarios erweist sich, wenn man ihn aus dem Blickwinkel der Szenariomethodik betrachtet, als keinesfalls trivial. Dafür gibt es zwei Gründe:

Dies ist auf der anderen Seite auch ein Segen, denn eine komplette Abtastung des Kontextunsicherheitsraums wäre angesichts der Laufzeiten hochentwickelter Energiemodelle vollkommen außerhalb jeder Möglichkeit. Erst der Umstand, dass die Interdependenz der Kontextentwicklungen den ganz überwiegenden Teil des Unsicherheitsraums irrelevant macht, rückt eine umfassende Behandlung der Kontextunsicherheiten in den Bereich des Möglichen.

Es ist diese Kombination von Kontextunsicherheit und Kontextkomplexität, die die Konstruktion von Kontextszenarien zu einer Herausforderung macht, die hinsichtlich der methodischen Anforderungen und auch hinsichtlich der Planung der Projektressourcen nicht als Beiläufigkeit abzuhandeln ist.

Das Verständnis der Auswahl der Rahmenannahmen als einer eigenständigen Szenarioaufgabe mit eigenen Forderungen nach methodischer Güte und nach Ressourcen entspricht kaum dem traditionellen Verständnis in der Energieszenarioanalyse. Es ist aber bei genauerer Betrachtung unausweichlich. Jedem Energieszenario, das jemals erstellt wurde, ging notwendigerweise die explizite oder implizite Erstellung (mindestens) eines Kontextszenarios voraus, unabhängig davon, wie sorgfältig oder beiläufig dies erfolgte, oder wie dieser Arbeitsschritt von den Autoren selbst bezeichnet wurde.

Sobald man sich dieser Sicht der Dinge angeschlossen hat, stellt sich umgehend die Frage, ob die traditionell eher beiläufige Behandlung dieses Arbeitsschritts ausreichend ist oder wie die Kontextszenarien womöglich besser zu erstellen wären. Glücklicherweise ist die Energieszenarioanalyse nicht darauf angewiesen, ihre Konzepte für die Konstruktion und Verwendung von Kontextszenarien von Grund auf neu zu entwickeln. Hilfreich ist hier ein Blick auf die Praktiken eines, mit dem Energiethema eng verknüpften, anderen Forschungsgebietes: der Klimaforschung.

3     Kontextszenarien in der Klimaforschung

Das Gebiet der Klimaszenarien ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil sich die Entwickler von Klimaszenarien in einer sehr ähnlichen Lage befinden wie die Entwickler von Energieszenarien: Sie verwenden aufwändige Modelle, deren komplexe Ergebnisse politische Relevanz für die Zukunftsgestaltung haben. Im Fall der Klimamodelle sind es Aussagen über den zukünftigen Klimawandel. Die Klimamodelle benötigen für ihren Betrieb jedoch Aussagen über die künftigen Treibhausgas-Emissionen und dazu müssen Vorstellungen für die zukünftige Entwicklung der globalen Bevölkerung, der Wirtschaft, der Konsumformen, der Technologieentwicklung, der Technologiepräferenzen etc. formuliert werden. Erst dann kann die Modellanalyse beginnen. Angesichts dieser Ähnlichkeiten lohnt ein Blick darauf, wie bei der Entwicklung von Klimaszenarien mit dem Problem der Kontextunsicherheit und Kontextkomplexität umgegangen wird.

Das hierfür zentrale Konzept, das insbesondere auch im Zusammenhang mit den IPCC-Klimaszenarien zur Anwendung kam (Nakicenovic et al. 2000), wird als Story-and-Simulation-Ansatz bezeichnet (SAS; z. B. Alcamo 2008). Sein grundsätzlicher Ablauf ist in verkürzter Form in Abbildung 2 gezeigt: Um die Vielfalt denkbarer Zukünfte für den globalen politisch-wirtschaftlich-technologischen Kontext in eine praktikable Anzahl von Alternativen zu fassen, werden einige Gesellschaftsszenarien entwickelt, die „Storylines“. Diese sollten sowohl die Unsicherheiten der Kontextentwicklungen als auch die bekannten Interdependenzen zwischen ihnen zumindest im Groben repräsentieren. Im klassischen SAS-Ansatz werden die Storylines in Anlehnung an traditionelle Vorgehensweisen im Bereich der Unternehmensszenarien („Intuitive Logics“, Huss/Honton 1987) im Kern argumentativ durch Expertengruppen erarbeitet. Die Storylines werden dann hinsichtlich ihrer Aussage für die Input-Parameter der Modelle interpretiert (quantifiziert) und bieten dadurch die Grundlage dafür, die spezifischen klimaphysikalischen Konsequenzen für jede Storyline zu berechnen. Grundsätzlich sieht das SAS-Konzept abschließend noch eine Konsistenzkontrolle zwischen Modellergebnissen und ihren Storylines vor, um zu prüfen, ob sich aus den Modellergebnissen keine Widersprüche zu den a priori-Annahmen der Storyline ergeben. Gegebenenfalls wäre eine Iteration erforderlich.

Abb. 2:   Zusammenwirken von Kontextszenarien (Storylines) und Modellanalysen im SAS-Konzept

Zusammenwirken von Kontextszenarien (Storylines) und Modellanalysen im SAS-Konzept

Quelle:   Eigene Darstellung

Im günstigen Fall ergibt die Prozedur einen stimmigen Komplex aus gesellschaftlichen Rahmenannahmen und Modellanalysen, oder wie man auch sagen könnte, ein hybrides Szenario, bestehend aus einem qualitativen Kontextszenarioteil und einem quantitativen Klimaszenarioteil, das jeweils den klimatischen Fingerabdruck des zugehörigen Kontextszenarios ausweist.

4     Transfer in die Energieszenarioanalyse

Der naheliegende Schritt wäre die Übernahme des SAS-Konzeptes in die Energiesystemanalyse. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass es auch im Bereich der Klimaszenarien eine aktuelle Diskussion darüber gibt, wie speziell die Erstellung der Storylines noch weiter verbessert werden könnte. Als wichtig wird hier von verschiedenen Autoren eine systematischere und transparentere Erstellung der Storylines genannt und u. a. das Instrument der Cross-Impact-Bilanzanalyse (CIB; Weimer-Jehle 2001, 2006) als in Frage kommende Methode thematisiert. So befinden Girod et al. (2009, S. 112): „…there are further potentials for improvement in terms of formal storyline construction, narrative coherence and consistency analysis“ und verweisen auf neue methodische Entwicklungen, darunter CIB. Schweizer und Kriegler (2012, S. 1) schreiben: „The dominant approach to scenario design for environmental change research has been criticized for lacking sufficient means of ensuring that storylines are internally consistent“ und verwenden CIB für eine Konsistenzprüfung der IPCC „SRES“-Emissionsszenarien[3]. Kemp-Benedict (2012, S. 2) bemerkt in einem Kommentar zu den Arbeiten von Schweizer und Kriegler: „Futures studies has moved forward from the time the SRES was published, and new techniques are now available that can help us to tell better stories of the future“ und empfiehlt CIB in Kombination mit anderen Methoden als möglichen Teil eines fortgeschrittenen Instrumentariums. Wird diese „Modernisierungsdiskussion“ im Feld der Klimaszenarien bei grundsätzlicher Beibehaltung des SAS-Konzeptes auf das Feld der Energieszenarien übertragen, so ergibt sich ein Bild wie in Abbildung 3 dargestellt.

Abb. 3:   Die vorgeschlagene Rolle von Kontextszenarien bei der Erstellung von Energieszenarien

Die vorgeschlagene Rolle von Kontextszenarien bei der Erstellung von Energieszenarien

Quelle:   Eigene Darstellung

Bei der Übertragung des modifizierten SAS-Ansatzes auf die Erstellung von Energieszenarien muss ein bedeutsamer Unterschied zwischen Klima- und Energieszenarien beachtet werden. Klimaszenarien sind in der Regel explorativer Natur, d. h. sie sollen den Raum möglicher Zukünfte beleuchten, unabhängig davon, welche Zukunft gewünscht wird. Erst nach der Konstruktion des Möglichkeitsraums wird nachträglich bewertet, welche Entwicklungen wünschens- bzw. vermeidenswert wären und welche Maßnahmen hierfür notwendig sind. Das SAS-Konzept leistet in diesem Fall eine verbesserte Einschätzung des Möglichkeitsraums, denn die Unsicherheit für das Klimasystem ist eine Verknüpfung der Unsicherheit der Kontextentwicklungen mit den immanenten Unsicherheiten der Klimadynamik und ihrer Modellierung.

Bei Energieszenarien liegen die Dinge etwas anders. Zwar spielen explorative Energieszenarien ebenfalls eine wichtige Rolle, und der potenzielle Nutzen von Kontextszenarien ist in diesen Fällen ganz analog zum Fall der Klimaszenarien. Von großer Bedeutung sind in diesem Gebiet jedoch auch normative Szenarien (Zielszenarien). Diese adressieren nicht die Frage, welche Vielfalt von Entwicklungen möglich ist, sondern sie konzentrieren sich auf die eingegrenzte Fragestellung, ob ein bestimmter, erwünschter Zukunftszustand grundsätzlich erreichbar ist und wie der Weg dahin aussehen könnte.

Die potenzielle Bedeutung von Kontextszenarien ist für den normativen Szenariotyp eine andere als für den explorativen Typ: Zum einen müsste die Gültigkeit eines Zielszenarios als Machbarkeitsnachweis in Frage gestellt werden, wenn es die Machbarkeit nur für einen singulären Satz von Kontextbedingungen darstellt und den großen Rest möglicher Kontextentwicklungen mit seinen möglicherweise völlig anderen Impulsen auf das Energiesystem ignoriert. Wenn hingegen mit Hilfe von Kontextszenarien glaubhaft gemacht werden kann, dass die Zielverfolgung für mehrere, den Möglichkeitsraum hinreichend erschließende Kontextentwicklungen erfolgreich sein kann, dann ist die Zielszenarioanalyse einem Machbarkeitsnachweis einen großen Schritt näher gekommen.

Zum zweiten wird es in aller Regel so sein, dass ein Ziel auf unterschiedliche Weise erreicht werden kann und Zielszenarien daher immer nur beispielhafte Zielpfade sein können und sollen. Hier kann das Zusammenspiel von Kontextszenarien und Energiemodell helfen, die Möglichkeitsvielfalt für die Zielpfade aufzuzeigen und den Zusammenhang zwischen Kontextimpulsen und Pfadvarianten zu analysieren.

Schließlich kann mit Hilfe der Verknüpfung von Kontextszenarien mit Zielszenarien diskutiert werden, welche Risiken der Zielerfüllung aufgrund verschiedener Kontextentwicklungen drohen könnten. So könnten Impulse für eine robustere Gestaltung des Zielpfads gegeben werden.

5     Systematische Entwicklung von Kontextszenarien mit CIB

Teil des vorgeschlagenen Konzeptes ist es, Kontextszenarien für Energieszenarien nicht im Stile des „Intuitive Logics“, sondern mit der CIB-Methode zu entwickeln. Dadurch wird Systematik und Transparenz des Prozesses verbessert und der systemanalytische Gehalt der Kontextanalyse gesteigert. All dies trägt dazu bei, die Kontextanalyse zu einem angemesseneren Partner der Modellanalyse zu machen. Methodenhistorisch hat CIB ihre Wurzeln in der Konsistenzanalyse (Rhyne 1974; Reibnitz 1987; Gausemeier et al. 1996) und in Cross-Impact-Methoden wie BASICS (Honton et al. 1985).

Im Verlauf einer CIB werden zunächst die wichtigsten Faktoren identifiziert, die als Szenariothemen behandelt werden sollten. Dies erfolgt i. d. R. durch Expertenbefragungen. Für jeden dieser Faktoren wird dann die Zukunftsunsicherheit durch die Formulierung von typischerweise zwei bis vier alternativen Entwicklungen repräsentiert. Schließlich werden die Einflussbeziehungen zwischen den Faktoren auf qualitative, aber systematische Weise mit Experten erörtert. Als Ergebnis entsteht ein qualitatives Wirkungsnetzwerk der Faktoren. Abbildung 4 zeigt als Beispiel ein Wirkungsnetzwerk zum Thema „Gesellschaftlicher Kontext der Energiewende 2011–2040“, wie es als Konzeptdemonstration in der Helmholtz-Allianz ENERGY-TRANS entwickelt wurde. Für jeden Einflusspfeil muss auf einer Ordinalskala konkretisiert und verbal begründet werden, wie der Einfluss für jede Kombination der an diesem Pfeil beteiligten, alternativen Entwicklungen fallspezifisch eingeschätzt wird. Ein Beispiel zeigt der vergrößerte Bildausschnitt in Abbildung 4, der den Zusammenhang zwischen „Globaler Entwicklung“ und „Ölpreis“ behandelt. Die Bewertung „3“ rechts unten in dem Bildausschnitt drückt z. B. aus, dass von einer ausgeprägt konfrontativen internationalen Entwicklung ein stark fördernder Einfluss auf das Auftreten eines starken Ölpreisanstiegs ausgehen dürfte.

Abb. 4:   Ein qualitatives Wirkungsnetzwerk von Kontextszenariofaktoren zum Thema Energiewende („ENERGY-TRANS Demonstrator“)

Ein qualitatives Wirkungsnetzwerk von Kontextszenariofaktoren zum Thema Energiewende

Quelle:   Eigene Darstellung

Das durch diese Detailbetrachtungen qualifizierte Netzwerk kann durch den CIB-Bilanzalgorithmus ausgewertet werden. So lassen sich aus der kombinatorischen Vielfalt möglicher Entwicklungen diejenigen Konfigurationen identifizieren, die ein „konsistentes“ Geflecht aus sich gegenseitig stützenden Annahmen bilden.[4] Im gezeigten Demonstrationsbeispiel identifizierte der Bilanzalgorithmus aus 31.104 Konfigurationen vier konsistente Kontextszenarien, die in Abbildung 5 dargestellt sind.

Die in Abbildung 5 gezeigten Szenarien spannen einen weiten Möglichkeitsraum für den gesellschaftlichen Kontext der Energiewende auf und reichen vom Fall eines rundum günstigen Kontextes (Szenario I) über den Fall einer durch rigide Maßnahmen verärgerten und skeptisch gewordenen Bevölkerung (Szenario II) zu einer Gesellschaft, in der äußerer Stress zur Priorisierung wirtschaftlicher (Szenario III) oder sicherheitsorientierter Zielsetzungen reicht (Szenario IV). Die angegebenen Szenariomotti sind Interpretationen der Szenarien durch das Szenarioteam.

Abb. 5:   Die konsistenten Kontextszenarien des „ENERGY-TRANS Demonstrators“

Die konsistenten Kontextszenarien des „ENERGY-TRANS Demonstrators“

* Die Grautöne deuten den Unterschied zu Szenario I an: Hellgrau steht für Entwicklungen, die (etwas) anders als in Szenario I verlaufen, Mittelgrau steht für deutlich andere Entwicklungen als in Szenario I.

Quelle:   Eigene Darstellung

Die Szenarien können nun für Modellrechnungen herangezogen werden, wozu einige Faktoren auch quantitativ interpretiert werden müssen. So könnte z. B. aufgrund von Literaturstudien (z. B. Nitsch et al. 2012) dem Merkmal „Industrial energy savings: strong“ eine outputbezogene Effizienzsteigerung des industriellen Endenergieverbrauchs von 1,9 Prozent pro Jahr zugeordnet werden. Abschätzungen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) für die Demonstrator-Szenarien haben gezeigt, dass eine Zielerfüllung für das Szenario I realistisch wäre und für Szenario II und III deutlich verfehlt würde. Für Szenario IV dagegen wäre eine annähernde Zielerfüllung wiederum denkbar, jedoch aus Gründen, die weniger das Ergebnis einer anhaltenden Nachhaltigkeitsorientierung wären, sondern eher der Sicherheitsorientierung und den umfeldbedingten Stressfolgen für Bevölkerung und Wirtschaft in dieser Gesellschaft geschuldet wären.

Das CIB-Verfahren eröffnet gute Möglichkeiten, qualitative, aber dennoch systemanalytisch begründete Kontextszenarien auf eine für Dritte nachvollziehbare Weise zu erstellen. Die gedankliche Basis für die Szenarien wird explizit gemacht, dokumentiert und ist dadurch der Kritik zugänglich. Auf der anderen Seite muss beachtet werden, dass die Faktorenauswahl und die Interdependenzen auf Experteneinschätzungen beruhen und die Analyse daher nur den Anspruch haben kann, die Implikationen der Systemsicht der beteiligten Experten deutlich zu machen und zu analysieren. Die Ergebnisse repräsentieren nicht die Wirklichkeit selbst, sondern die Rekonstruktion der Wirklichkeit durch die beteiligten Experten, wobei diese Rekonstruktion allerdings vollständig transparent gemacht wird. Weiterhin birgt die quantitative Interpretation der Faktoren, die für den Transfer zur Modellanalyse erforderlich ist, zahlreiche Schwierigkeiten, die von der Forschung bis heute nur unzureichend aufgearbeitet sind und daher einen pragmatischen Zugang erfordern.

6     Kontextszenarien in der Energieszenarioanalyse: Rück- und Ausblick

Die Idee, CIB-gestützte Kontextszenarien zu entwickeln und diese als Inspiration für die Gestaltung des Inputs von Energiemodellrechnungen zu verwenden, ist so alt wie die CIB-Methode selbst. CIB wurde 2001 an der Stuttgarter Akademie für Technikfolgenabschätzung für das Szenarioprojekt „Liberalisierung der Strommärkte“ entwickelt (Weimer-Jehle 2001). In diesem Projekt wurden, zunächst mit Hilfe von CIB, Rohszenarien für die Energiewirtschaft auf nationaler Ebene erstellt und diese dann als Treiber für Modellrechnungen des Instituts für Energiewirtschaft der Universität Stuttgart zur speziellen energiewirtschaftlichen Entwicklung in Baden-Württemberg verwendet (Förster 2002). Weitere Pilotanwendungen wurden im Rahmen des „Modellexperiments MEX III“ (Förster/Weimer-Jehle 2004) und in einem Projekt für das Umweltbundesamt durchgeführt (Weimer-Jehle et al. 2011). Der systemanalytische Nutzen des Konzeptes und der Vorschlag, Kontextszenarien als generelle Methode in der Energieszenarioanalyse zu verwenden, wurden 2011 in einem Thesenpapier von Weimer-Jehle und Kosow formuliert.

Die erste Adaption in großem Maßstab erfährt das Konzept aktuell im Rahmen der 2011 gestarteten Helmholtz-Allianz ENERGY-TRANS. Im Forschungsfeld „Technisch-gesellschaftliche Entwicklung“ der Allianz werden in drei Projekten Szenarien für die technologische Entwicklung, Gesamtszenarien für die angestrebte Transformation auf nationaler Ebene und Transformationsszenarien auf der Ebene ausgewählter Regionen entwickelt. Entsprechend dem Leitbild der Allianz, die Energiewende als Transformation eines soziotechnischen Systems aufzufassen, beschlossen die drei mit diesen Aufgaben befassten Projektgruppen[5], Kontextszenarien zur Vorbereitung der technischen Analyse zu entwickeln. Erste Ergebnisse zu Kontextszenarien für die technologischen Entwicklungen liegen bereits vor und sind publiziert (Vögele 2012; Hansen/Vögele 2013). Durch diese Kooperation von drei Projektgruppen wirkt das Konzept der Kontextszenarien in der Allianz nicht nur fachlich und disziplinär integrierend, sondern auch als projekt- und institutsübergreifendes Integrationselement in der Allianz.

7     Schlussfolgerungen

Das Konzept der Kontextszenarien befasst sich mit den einflussreichen expliziten und impliziten gesellschaftlichen Rahmenannahmen, die beim modellgestützten Erstellen von Energieszenarien unausweichlich verwendet, in ihrer Unsicherheit und Interdependenz jedoch in der Regel nicht systematisch reflektiert werden. Es wird argumentiert, dass dadurch ein einflussreiches Glied der Analysekette zu Lasten der Ergebnisqualität geschwächt wird, da die Ergebnisqualität überproportional stark vom schwächsten Glied der Kette bestimmt wird. CIB-gestützte Kontextszenarien können zwar die methodische Stringenz für dieses „Vorfeld“ der Energieszenarioanalyse nicht auf das Niveau der Modellanalysen anheben, sie können die gegenwärtige Praxis aber deutlich verbessern. Allerdings erfordert eine systematische Kontextanalyse auch einen erhöhten Aufwand gegenüber der bisherigen Praxis. Mit Blick auf den großen Aufwand, der in der Vergangenheit mit beeindruckendem Erfolg zur Verbesserung von Energiemodellen betrieben wurde, wäre es aber methodisch unsinnig, den in der traditionellen Praxis bestehenden enormen Qualitätskontrast zwischen Kontext- und Energiesystemanalyse auf Dauer zu tolerieren. Leichte und projektökonomisch effiziente Fortschritte für die Analysequalität wird man nicht dort erzielen, wo die Analysekette schon heute besonders stark ist, sondern dort, wo sie gegenwärtig noch schwach ist.

Mit der breiten Anwendung des Konzeptes in der Helmholtz-Allianz ENERGY-TRANS ergibt sich die besondere Chance, gleich in mehreren thematischen Feldern Erfahrungen mit dem Konzept zu sammeln und auch die im Detail unterschiedlichen Vorgehensweisen der Projektgruppen, z. B. bei der Erhebung der Expertenurteile, vergleichen zu können. Auch die beabsichtigte Integration der drei Kontextanalysen zu einem Gesamtbild bringt besondere Herausforderungen mit sich, bietet jedoch auch zusätzliche Chancen auf Erfahrungsgewinn. Neben dem inhaltlichen Ziel der beteiligten Projektgruppen, die Ergebnisqualität ihrer Analysen zu steigern, verfolgen sie mit ihren Arbeiten auch die Vision, der internationalen Community am Ende eine Blaupause für eine stärkere Würdigung des soziotechnischen Aspektes in Energieszenarien vorlegen zu können. Perspektivisch sollte so eine Verbesserung der Gesamtkonsistenz der in politischen Entscheidungsprozessen verwendeten Energieszenarien und der Robustheit ihrer Aussagen möglich sein.

Danksagung

Die Autoren bedanken sich bei Jens Buchgeister, Patrick Hansen, Dirk Heinrichs, Jürgen Kopfmüller, Hannah Kosow, Tobias Naegler, Uwe Pfenning, Witold Poganietz, Thomas Pregger, Andreas Rieder, Matthias Toups für die fruchtbare und inspirierende Zusammenarbeit im Rahmen der Kooperation zwischen DLR, IEK-STE (FZJ), ITAS (KIT) und ZIRIUS (Uni Stuttgart) zur Kontextszenarioanalyse in ENERGY-TRANS und für die gemeinsamen Initiativen zur Weiterentwicklung des Konzeptes. Jens Buchgeister, Tobias Naegler, Uwe Pfenning, Witold Poganietz und Andreas Rieder sowie der Redaktion der TATuP danken wir darüber hinaus für wertvolle Anregungen zum Manuskript.

Anmerkungen

[1]  http://www.energy-trans.de.

[2]  Beispiele für die Unsicherheitsspanne einiger typischer Kontextfaktoren der Energiesystemanalyse finden sich im Anhang von Weimer-Jehle et al. 2011.

[3]  SRES: Special Report on Emission Scenarios (Nakicenovic et al. 2000)

[4]  Eine kurze Methodenbeschreibung und eine Auswertungssoftware ist auf http://www.cross-impact.de verfügbar.

[5]  An der Entwicklung der Kontextszenarien in ENERGY-TRANS sind das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, das Forschungszentrum Jülich, das Karlsruher Institut für Technologie und die Universität Stuttgart beteiligt.

Literatur

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Gausemeier, J.; Fink, A; Schlacke, O., 1996: Szenario-Management – Planen und Führen mit Szenarien. München

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