Energiewende als Herausforderung der Koordination im Mehrebenensystem

Schwerpunkt: Energiewende 2.0 – vom technischen zum soziotechnischen System?

Energiewende als Herausforderung der Koordination im Mehrebenensystem

von Dörte Ohlhorst, Kerstin Tews und Miranda Schreurs, FU Berlin

Deutschland verfolgt das Ziel, die Energieversorgung weitgehend auf erneuerbare Energien umzustellen. Kommunen, Regionen und Bundesländer haben dabei jeweils eigene Ziele und bauen mit beachtlicher Dynamik dezentrale Erzeugungsanlagen oder gar Versorgungstrukturen auf. Jedoch zeichnet sich ab, dass die dezentralen Initiativen nicht immer eine systemübergreifende Optimierung im Blick haben. Daher scheint ein Paradigmenwechsel notwendig: Nicht der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien ist prioritär, sondern er muss in den Kontext einer optimierten und integrierten Energieversorgung gestellt werden. Erforderlich ist ein richtungsweisender Rahmen, der gewährleistet, dass subnationale Innovationen nicht in Konflikt mit funktionalen Erfordernissen des Transformationsprozesses geraten. Dazu bedarf es Mechanismen, die Interessen- und Verteilungskonflikte zwischen Bund, Ländern und Kommunen austarieren.

1     Einleitung

Mit der Energiewende hat Deutschland ein Experiment größeren Ausmaßes in Angriff genommen. In den nächsten Jahrzehnten soll ein Energieversorgungssystem, das überwiegend auf fossilen Brennstoffen basiert (zurzeit fast 80 Prozent), auf einen hohen Anteil erneuerbarer Energien umgestellt werden. Das ist nichts weniger als eine Revolutionierung der Energieversorgung, die nicht nur die Erhöhung des Anteils der Erneuerbaren an der Energieerzeugung umfasst, sondern auch erhebliche Anpassungen der Infrastrukturen und Koordinationsmechanismen erfordert, um die erneuerbaren Energien in das System zu integrieren.

Die Energiewende ist durch immense Unsicherheiten gekennzeichnet, daher benötigt sie eine Governance-Struktur, die transparent und flexibel genug ist, um Korrekturen zu erlauben. Neue bzw. reformierte politische Entscheidungsprozesse und -strukturen sind erforderlich. Denn der Umbau des Systems bedeutet auch, dass etablierte Machtstrukturen der konventionellen Energieversorgung aufgebrochen und durch neue, einflussreiche Wirtschaftsakteure und Interessenskoalitionen, aber auch durch Bürgerinitiativen und neue Leitbilder einer nachhaltigen Energieversorgung herausgefordert werden.

Das föderale System der Bundesrepublik bietet große Chancen dafür, auf subnationaler Ebene soziale und institutionelle Innovationen voranzubringen. Aufgrund der überwiegend dezentralen Natur der erneuerbaren Energien bietet gerade diese Handlungsebene einen adäquaten Raum, für diese Technologien angepasste innovative Lösungen zu entwickeln. Diese müssen allerdings mehr als lokale oder regionale Optimierungsstrategien umfassen, sondern vielmehr das gesamte Energieversorgungssystem der Bundesrepublik berücksichtigen. Interessenskonflikte zwischen divergierenden Strategien und Prioritäten sowie Verteilungskonflikte bleiben dabei nicht aus. Es entsteht ein immens hoher Koordinierungsbedarf zwischen den Aktivitäten auf der lokalen, der Bundesländer- und der Bundesebene.

2     Governance verschiedener Optionen der Systemtransformation

Ein Großteil des Stroms aus erneuerbaren Quellen wird bereits jetzt dezentral erzeugt. Durch den steigenden Anteil erneuerbarer Energien wächst der Bedarf, die dezentrale Stromerzeugung stärker an den Erfordernissen des gesamten Stromversorgungssystems zu orientieren, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten und Kostenexplosionen zu vermeiden. Von zentraler Bedeutung ist das Ausbalancieren von Stromangebot und -nachfrage. Große Herausforderungen stellen dabei die Volatilität der Erzeugung, die ungleiche regionale Verteilung und die teilweise verbraucherferne Erzeugung in dünn besiedelten Regionen dar. Erforderlich ist daher eine Transformation des gesamten Stromversorgungssystems, da das bisherige zentralistisch angelegte Stromverbundsystem den Herausforderungen, die eine steigende Anzahl dezentraler Erzeugungsanlagen stellt, zunehmend nicht gerecht wird. Umstritten ist, welcher Grad an Zentralität oder Dezentralität und damit auch welcher Grad an Vernetzung für das gesamte Stromversorgungssystem in Deutschland optimal wäre.

Hinsichtlich dieser Frage wurden und werden umfangreiche Expertendiskurse geführt (vgl. UBA 2010; Leprich et al. 2005; IZES et al. 2008). In der politischen Praxis dagegen lässt sich ein Nebeneinander von fortdauernder Ambivalenz seitens der Bundespolitik und einer faktischen Bewegung „von unten“ beobachten.[1] Eine solche Gemengelage aus Unsicherheit, mangelnder zentraler Koordinierung und faktischer dezentral initiierter Entwicklung ist zwar typisch für Umbruchs- und Übergangsperioden. Mittelfristig sind allerdings Entscheidungs- und Koordinierungsleistungen des Bundes erforderlich, um das politisch gewollte Transformationsprojekt „Energiewende“ nicht zu gefährden.

2.1   Expertendiskurse zur Richtung der Systemtransformation

Nach Ansicht einer Reihe von Experten ist eine Transformation in Richtung einer Dezentralisierung der Systemarchitektur erforderlich, weil dadurch u. a. der Netzausbaubedarf gesenkt werden kann. In der Literatur werden drei grundlegende Szenarien der Systemtransformation diskutiert (vgl. IEA 2002; Leprich et al. 2005; IZES et al. 2008; vgl. Abb. 1).

Abb. 1:   Szenarien der Systemtransformation

Szenarien der Systemtransformation

 

Erläuterung: ÜNB = Übertragungsnetzbetreiber, VNB = Verteilnetzbetreiber

Quelle:   Kerstin Tews; eigene Darstellung basierend auf Leprich et al. 2005, IZES et al. 2008

Kernthese des Dezentralisierungsszenarios ist, dass der Ausgleich fluktuierender Stromerzeugung zu einem großen Anteil durch eine Flexibilisierung der Erzeugung und der Nachfrage in kleineren und damit leichter zu steuernden räumlichen Einheiten erfolgen kann. Diese dezentralen Versorgungsstrukturen sind keine voneinander unabhängigen, autarken Subsysteme (Fragmentierung), sondern nutzen die dezentral verfügbaren Flexibilisierungsoptionen – bedarfsgerechte Erzeugung, Lastmanagement und ggf. Speicher, um Dienstleistungen für das Gesamtsystem zu erbringen. Denn es wird weiterhin Verbrauchszentren (z. B. Städte) geben, die ihre Nachfrage nicht selbst decken können, und es wird Regionen geben, die mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen. Aus diesem Grund wird es als notwendig erachtet, nicht nur zusätzliche, sondern auch qualitativ andere Netzstrukturen zu schaffen, die die wachsende Anzahl dezentraler Erzeugungsanlagen so integrieren, dass für das Gesamtsystem ein größerer Nutzen entsteht. Strom aus dezentralen erneuerbaren Anlagen soll nicht wie bislang nur entsprechend des verfügbaren lokalen Dargebot in das Verteilnetz eingespeist werden, sondern entsprechend einer Nachfrage, die zunächst dezentral organisiert und gesteuert, aber auch mit der übergeordneten Netzebene abgestimmt wird.

Eine solche bedarfsgerechte Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien und die Flexibilisierung der Nachfrage setzen jedoch nicht nur die Verfügbarkeit bestimmter Techniken voraus, sondern erfordern auch institutionelle Veränderungen. So müssen Kontrollaufgaben zur Gewährleistung von Systemstabilität partiell an die Verteilnetzbetreiber delegiert und entsprechende bidirektionale Kommunikationsflüsse zwischen Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern etabliert werden (Leprich et al. 2005). Eine intelligente Angebots- und Nachfragesteuerung verlangt aber auch, dass Erzeuger von erneuerbaren Energien und deren Verbraucher als aktive und steuerbare Bestandteile des Systems fungieren (ebd., S. 18). Um deren Teilnahme zu stimulieren und Akzeptanz zu generieren, ist neben dem Ausbau einer intelligenten Informations- und Kommunikationstechnik-Infrastruktur auch der Einsatz entsprechender Steuerungsinstrumente eine zentrale Voraussetzung. Neue institutionelle Strukturen entstehen aber in der Regel nicht autonom, sondern bedürfen politischer Rahmensetzungen.

2.2   Fehlender Lead von oben

Welchem Szenario zukünftiger Versorgungsstrukturen folgt nun die Bundesrepublik in ihrer Politik der Energiewende? Die bisherige Regierungspolitik gibt dazu keine eindeutige Auskunft. Mehr noch: Es fehlt an einer eindeutigen Führungs- bzw. Koordinationsleistung des Bundes hinsichtlich der anvisierten Richtung der Systemtransformation. So basiert z. B. die Netzausbauplanung auf Zielszenarien, die die Quantität und Lokalität der Stromerzeugung und des Stromverbrauchs berücksichtigen, aber nicht auf Systemszenarien, die die Entwicklungsperspektiven der Versorgungsstrukturen thematisieren. Im Wesentlichen sollen marktwirtschaftliche Instrumente die Systemintegration der Erneuerbaren vorantreiben.

Eine strategische Planung, wie sie etwa die dänische Energiepolitik seit Jahrzehnten prägt und die Dänemark zum Vorreiter bei der Dezentralisierung der Systemarchitektur machte, gibt es in Deutschland bislang nicht. So koordiniert in Dänemark der 2004 verstaatlichte Übertragungsnetzbetreiber „energinet.dk“ im Auftrag des Energieministeriums den gesamten Prozess der Netztransformation. Diese zielt klar auf eine zunehmende Beteiligung der untergeordneten Netzebenen an der Systemsteuerung bis hin zu einer partiellen Dezentralisierung der Systemkontrolle in halb-autonomen „Mittelspannungszellen“, um die wachsende Anzahl dezentraler Erzeugungsanlagen optimal in das Gesamtsystem zu integrieren (IZES et al. 2008, S. 63ff.; Sperling et al. 2011). Die 2009 geführte Debatte um die „Deutsche Netz AG“ drehte sich im Wesentlichen um das Für und Wider eines mit ähnlich umfassenden Kompetenzen ausgestatteten zentralen Koordinators. Letztlich scheiterte der Vorschlag aber am politischen Dissens über dessen Wünschbarkeit, insbesondere aber an der Ablehnung einer staatlichen Top-down-Planung und -Koordination durch die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP (Ruhbaum 2010).

2.3   Starker Push von unten

Während ein klarer „Lead von oben“ nicht erkennbar ist, zeigt sich auf subnationaler Ebene eine Entwicklung, die auch als „Energiewende von unten“ charakterisiert werden kann. Diese Initiativen umfassen so vielfältige Aktivitäten wie den Rückkauf der Verteilnetze (Rekommunalisierung), die Neugründung von Stadtwerken oder die Verabschiedung langfristiger kommunaler oder regionaler Energie- und Klimastrategien mit dem Ziel, sich vollständig aus erneuerbaren Energien zu versorgen.

Derartige Initiativen gelten gemeinhin als Vorreiter für eine nachhaltige Transformation des Energiesystems. Für diese Annahme gibt es viele gute Argumente: etwa das große Innovationspotenzial, das in der Entwicklung lokal angepasster Strategien liegt; die direkte Einbindung regionaler Akteure in Entscheidungsprozesse, die Chancen für eine sozial- und umweltverträgliche Energieversorgung bietet; sowie die Förderung der regionalen Wertschöpfung. Welchen Einfluss haben diese dezentralen Aktivitäten aber auf die Richtung der Systemtransformation? Sind sie bereits die Keimzelle für eine Dezentralisierung der gesamten Systemarchitektur, wie vielfach angenommen? Bleiben sie Einzellösungen in einem ansonsten kaum veränderten System oder tragen sie durch ein Streben nach Autarkie gar zur Fragmentierung des Gesamtsystems bei?

In den Zielen oder Leitbildern der regionalen Vorreiter zeigt sich eine stark nach innen gerichtete Perspektive auf die eigene Kommune oder die eigene Region. Die Rolle im und für das Gesamtsystem wird bisher kaum explizit definiert. So streben zwar die wenigsten dezentralen Initiativen eine vollständige Leistungsautarkie an. Stattdessen soll nur rein rechnerisch so viel Energie erzeugt werden, wie übers Jahr von der Region verbraucht wird. Der übergeordneten Netzebene wird somit implizit die Rolle des Garanten zugedacht, bei regionalen Versorgungsengpässen oder bei regionalem Überangebot einzuspringen. Die eigene Rolle im und für das Gesamtsystem wird bislang – jenseits der angestrebten Vorbildwirkung – eher nicht reflektiert. „Diese Frage stellen sich wahrscheinlich 80 Prozent der Initiativen noch nicht, da ihr Schwerpunkt auf der Energieerzeugung und der Mobilisierung lokaler Akteure liegt.“ (Nils Boenigk, Agentur für Erneuerbare Energien e.V., im Experteninterview mit K. Tews am 25.1.2013)

Nur wenige Initiativen verbinden das 100-Prozent-Erzeugungsziel mit Entwicklungsperspektiven des lokalen, regionalen und überregionalen Stromnetzes.[2] Eine Verknüpfung des Erzeugungsziels mit Maßnahmen des „aktiven Netzmanagements“ auf der Verteilnetzebene wird unter Experten aber als entscheidende Prämisse für eine dezentrale Systemarchitektur betrachtet (Leprich et al. 2005; IZES et al. 2008).

2.4   Steuerung der Systemtransformation erforderlich

In der realen Welt werden Elemente aller drei „idealtypischen“ Szenarien nebeneinander existieren. Unabhängig von der politisch zu treffenden Entscheidung über die Priorisierung der einen oder anderen Option werden Maßnahmen zum Ausgleich fluktuierender Einspeisung ein aktives und auch dezentrales Netzmanagement erfordern. Ein aktives Netzmanagement impliziert u. a. Anreize für eine netzbedarfsgerechte, flexible Fahrweise durch regelbare Erzeuger (z. B. Biogasanlagen) sowie für effiziente und lastvariable Energienutzung über ein intelligentes Verteilnetz (smart grid).

Die aufgezeigten Erfordernisse an strukturellen und institutionellen Veränderungen sowie deren begleitender Instrumentierung zeigen, dass hier der Pioniergeist und das Engagement dezentraler Akteure allein nicht ausreichen werden. Stattdessen sind auf Bundesebene strategische Weichenstellungen und politische Rahmensetzungen erforderlich. Nicht nur fehlen derzeit die nötigen Anreize, eine flexible Fahrweise von Anlagen zu honorieren, auch im Bereich des Nachfragemanagements sind Instrumente und Techniken gefragt, die lastvariable Verbrauchsmuster stimulieren und systematische Effizienzanreize setzen (Krzikalla et al. 2013).

Vorreiteraktionen stoßen dort an Grenzen, wo der rechtliche Rahmen fehlt. Eine, in der Literatur zitierte, typische Vorreiterstrategie kann es aber sein, Handlungsbedarf auszulösen, indem Konflikte mit den als suboptimal geltenden (rechtlichen) Regelungen provoziert werden (vgl. Liefferink/Anderson 1998). Ob der Verteilnetzbetreiber und Stromlieferant „Stadtwerke Jena“ bei seinem Modellansatz, Effizienzmaßnahmen für Stromkunden über eine Umlage auf die (Verteil-)Netzentgelte zu refinanzieren, strategisch intendiert, einen Konflikt mit der bundesweiten Netzentgeltverordnung zu provozieren, sei dahingestellt. Das Verbot dieses innovativen Ansatzes durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs führte jedoch zu der weit öffentlichkeitswirksameren politischen Forderung, die Anreizregulierung zu erweitern, um Refinanzierungsräume für Innovationen von Netzbetreibern zu schaffen und so ein intelligentes dezentrales Netzmanagement voranzubringen (Horstmann/Machnig 2011; Leprich et al. 2012, S. 49).

Die bereits vorhandenen Innovationsimpulse von unten müssen durch eine bundesweite Strategie und Instrumentierung ergänzt werden. Nur durch komplementäre Maßnahmen der Bundesebene können dezentrale Initiativen als „place of governance“ gestärkt werden, um ihren Beitrag für eine systemtransformierende „Energiewende von unten“ zu leisten.

3     Governance widerstreitender Interessen im föderalen System

Der vorangehende Abschnitt hat gezeigt, dass auf den untergeordneten politisch-administrativen Ebenen keinesfalls nur eine Umsetzung nationaler Vorgaben stattfindet, sondern dass Regionen und Kommunen jeweils eigene Ziele und Strategien verfolgen. Darüber hinaus hat nicht nur die Bundesregierung ein Energiekonzept, sondern auch die Bundesländer haben zum Teil hochambitionierte energiepolitische Ziele formuliert. Die auf verschiedenen politisch-administrativen Ebenen gesetzten Ziele existieren parallel und weitgehend ohne wechselseitige Bezugnahme.

3.1   Interessen und Konflikte im Mehrebenensystem

Die Energiepolitik unterliegt der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern. Bundesländer können die vom Bund gesetzten Rahmenbedingungen durch eigene Gesetze und Verordnungen ergänzen, soweit der Bund nicht von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch macht. So erklären die Länder in ihren Energiekonzepten, dass sie die Energiewende unterstützen, setzen jedoch eigene Akzente, was Konflikte mit der Bundespolitik verursacht.

Schleswig-Holstein zum Beispiel strebt an, bis 2020 das Drei- bis Vierfache des heimischen Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien zu erzeugen und so zum Exportland für Regenerativstrom zu werden. Niedersachen spielt nicht nur wegen ehrgeiziger Zubauziele bei Erneuerbaren eine Schlüsselrolle (90 Prozent bis 2020), sondern auch, weil mehrere der neu geplanten Hochspannungsleitungen durch das Bundesland führen. Inzwischen preschen auch südliche Bundesländer voran: Bayern will sich mit Biogas aus bayerischem Anbau versorgen und Baden-Württemberg durch Ökostromerzeugung die Wertschöpfung im eigenen Land halten. Von einer solchen Landesenergiepolitik profitieren nicht nur die regionalen Anlagenhersteller und Arbeitnehmer, sondern auch Landwirte, für die Stromerzeugung aus Wind, Biogas und Sonne ein wirtschaftliches Standbein ist. Sie kommt auch bei den Bürgern gut an. Viele begrüßen die klimaschonenden Energieerzeugungsformen und sind an Investitionen sowie an den entsprechenden Gewinnen beteiligt.

Allerdings übertreffen die Länderziele in der Summe die im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) verankerten Mindestziele für den Ausbau erneuerbarer Energien deutlich, was zu einem schnelleren Ausbau führen kann als bundespolitisch vorgesehen. Die Ausbauziele der Länder sind nicht mit dem bundespolitischen Ziel einer optimierten, sicheren und bezahlbaren Stromversorgung verknüpft. Die Standortwahl für Erzeugungsanlagen wird dominiert durch das örtliche Wind- und Sonnenpotenzial sowie von verfügbaren Standorten mit geringen Nutzungskonflikten. Daraus resultieren eine oft lastferne Erzeugung, mehr Stromtransportbedarf und ein Konflikt mit dem Ziel der volkswirtschaftlichen Kostenoptimierung.

Auch beim Übertragungsnetzausbau wird ein Spannungsverhältnis zwischen Bund und Ländern deutlich: Die Kompetenz für die Planung und Genehmigung neuer Leitungen lag bis 2011 bei den Bundesländern. Um langwierige Verfahren zu verkürzen, wurde die Planungs- und Genehmigungshoheit für Stromtrassen, die durch mehrere Bundesländer führen, auf die Bundesebene verlagert. Sämtliche Bundesländer erklärten sich bereit, die Bundesfachplanung zu unterstützen, obwohl sie (z. B. Niedersachsen) aus Sorge um die Berücksichtigung regionaler Belange nur ungern Kompetenzen an die Bundesnetzagentur abtraten (Bruns et al. 2012, S. 132). Im Bundesrat können die Länder weiterhin mitentscheiden, welche Netzausbauvorhaben unter der Leitung der Bundesnetzagentur abgewickelt werden und welche nicht. Im Konfliktfall kann es somit auch künftig zu zeitintensiven Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern kommen.

Die subnationalen Initiativen verdeutlichen, dass die Energiewende nicht nur durch die Bundespolitik getragen, sondern in hohem Maße „von unten“ initiiert und vorangetrieben wird. Aufgrund unterschiedlicher Energieversorgungspfade, geographischer Gegebenheiten und Bevölkerungsstrukturen setzen Länder, Regionen und Kommunen eigene Prioritäten in der Energieversorgung. Zwar existieren auf verschiedene Rechtsbereiche verteilte Steuerungsansätze, wie Regelungen im Energiewirtschafts-, Raumordnungs-, Bauplanungs- und Umweltrecht oder im EEG. Räumliche Steuerung setzt aber erst auf Länderebene und den administrativen Ebenen darunter an (Landesentwicklungs-, Regional- oder Flächennutzungspläne). Die Steuerungsansätze verschiedener administrativer Ebenen mit unterschiedlichen Interessen sind jedoch nicht auf die Optimierung und nachhaltige Entwicklung des Gesamtsystems ausgerichtet. Resultat ist ein Energieversorgungssystem, das auf regionalen Optimierungsstrategien und partiellen Regelungssystemen basiert, die nicht in konsistenter Weise in ein übergreifendes Regulierungssystem eingebettet sind. Daher sind Koordinierungsmechanismen erforderlich, die Abstimmung und Ausgleich ermöglichen.

3.2     Koordinierungsbedarf für eine Ebenen übergreifende Energiewirtschaft

Der Transformationsprozess erfordert sowohl eine intelligente Integration zentraler und dezentraler Initiativen und Zuständigkeiten als auch eine bundesweite, übergeordnete Koordination, um Effizienzpotenziale und Synergien zu nutzen. Sowohl die Entwicklung von Energieerzeugung, Speicherung und Netzausbau als auch die jeweiligen politischen Strategien und Leitbilder auf subnationaler und nationaler Ebene bedürfen einer Abstimmung. Die Koordinierungsanforderungen werden sich überdies durch die zunehmende Verschränkung der Bereiche Strom-, Wärme-, Kälteerzeugung und Mobilität erhöhen.

Die, dem Wirtschaftsministerium nachgeordnete Bundesnetzagentur gehört zu den Institutionen, die eine zentrale und koordinierende Verantwortung tragen. Für einen zügigen und effizienten Ausbau der überregionalen Stromnetze muss sie in kurzer Zeit die notwendige Sachkompetenz sowie geeignete Strukturen für eine – im Vergleich zum bisherigen Verfahren auf Landesebene – effizientere Abwicklung der komplexen Infrastrukturplanungen aufbauen. Die neue Aufgabe birgt Chancen und Herausforderungen: So können zum Beispiel Planungs- und Entscheidungsprozesse offener und partizipativer gestaltet werden. Eine der Herausforderungen der Bundesbehörde besteht darin, die lokalen und länderspezifischen Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen. Die Netzagentur ist jedoch nur für den Ausbau der Übertragungsnetze zuständig, nicht für eine Abstimmung aller wesentlichen Bestandteile des Energieversorgungssystems.

Vor der Liberalisierung der Energiewirtschaft waren vertikal integrierte Elektrizitätsversorgungsunternehmen daran interessiert, den Ausbau von Erzeugung und Netz aufeinander abzustimmen. Seit der Entflechtung der verschiedenen Unternehmensbereiche der Stromwirtschaft (Erzeugung, Übertragung, Verteilung) entwickeln sich diese heute weitgehend unabhängig voneinander. Es gibt keine übergeordnete energiefachliche Planung und keine Institution, der formal die Verantwortung für eine zuverlässige und koordinierte Entwicklung des gesamten Energieversorgungssystems zugeschrieben wurde.

Vor diesem Hintergrund – und angesichts der auseinanderdriftenden Geschwindigkeiten und Mengenziele für den Ausbau erneuerbarer Energien – beschlossen die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder im November 2012, gemeinsam eine nationale Ausbaustrategie zu erarbeiten. Halbjährlich finden nun Bund-Länder-Treffen im Kanzleramt statt, begleitet durch themenspezifische Arbeitsgruppen. Diese Koordinierungstreffen sind ein wichtiger Ansatz, um zentrale und umstrittene Fragen wie das Förderregime für Erneuerbare, den Umgang mit der Stromsteuer oder die Kompetenzverteilung im Übertragungsnetzausbau auf Augenhöhe zu klären. Sie können jedoch bei Weitem nicht das Erfordernis einer umfänglichen Koordinierung der Energiewende erfüllen.

Ein optimiertes und systemdienliches Vorgehen erfordert ein komplexes, raum- und prozessbezogenes Management des Ausbaus von Erzeugungsanlagen, Netzen und Speichern. Dabei geht es einerseits darum, Priorisierungen zu vermeiden, die auf partiellen Interessen beruhen und damit dem Gesamtsystem nicht dienlich sind, andererseits geht es darum, regionale Potenziale zu integrieren.

Jedoch umfasst die Koordinationsherausforderung der Energiewende mehr als nur eine räumlich und zeitlich koordinierte Bundesinfrastrukturplanung. Die Energiewende ist auch natur- und sozialverträglich zu gestalten. Zentrale Elemente sind die Steigerung der Energieeffizienz, nachvollziehbare Entscheidungen auf Basis transparenter Daten und Verfahren, sachliche Abwägungen komplexer wirtschaftlicher und ökologischer Faktoren sowie eine möglichst gerechte Verteilung von Kosten und Lasten.

Zwar ist dem Umweltminister zuzustimmen, wenn er die Auffassung vertritt, dass es für die Energiewende „weder einen klassischen Masterplan noch ein Drehbuch geben“ könne (BMU 2012). Dennoch besteht ein deutliches Defizit in Bezug auf eine Mehrebenensteuerung und ein prozessbegleitendes, auf Kriterien nachhaltiger Entwicklung ausgerichtetes Monitoring der Energiewende.

Es ist eine offene Frage, ob die Koordinierung der Energiewende dauerhaft im Kanzleramt angesiedelt oder ob diese Aufgabe einem oder mehreren Bundesministerien oder einer nachgeordneten Behörde zugeordnet wird. Geeignete institutionelle Reformen erscheinen jedoch dringend notwendig, damit die komplexe Aufgabe der Koordinierung, Lenkung und Prozessbegleitung der Energiewende gelingt.

4     Schlussfolgerungen

Die Energiewende beinhaltet ambitionierte Ziele und erfordert entschiedenes Handeln auf allen Ebenen. Es ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Nicht der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien ist absolut prioritär, sondern er muss in den Kontext einer optimierten und integrierten Energieversorgung gestellt werden. Die Koordinationsstrukturen und -mechanismen sind in Einklang zu bringen mit den Herausforderungen der Energiewende.

Die bestehende Governance-Struktur entstand infolge eines Energieversorgungssystems, das sich fundamental von jenem unterscheidet, das mit der Energiewende angestrebt wird. Schon heute sind Probleme augenscheinlich. So bedarf nicht nur das EEG, das das rasante Wachstum von erneuerbaren Energien erst ermöglichte, einer grundlegenden Nachjustierung. Auch dezentrale Aktivitäten auf Kommunal- und Länderebene müssen sich stärker einer Optimierung des Gesamtsystems verpflichten. Sie haben beachtliche Fortschritte auf dem Weg erzielt, dezentrale Versorgungstrukturen aufzubauen, und experimentieren mit neuen institutionellen Lösungen. Dieser Innovationskraft von unten sollte durch eine bundesweit geltende Instrumentierung für ein dezentrales Einspeise- und Nachfragemanagement ausreichend Raum geboten werden. Erforderlich ist allerdings auch ein richtungsweisender Rahmen, der gewährleistet, dass subnationale Innovationen nicht in Konflikt mit funktionalen Erfordernissen des gesamten Transformationsprozesses geraten. Hier sind Mechanismen erforderlich, die die Interessen- und Verteilungskonflikte zwischen Bund, Ländern und Kommunen austarieren.

Wenn diese Koordinierungsaufgaben nicht gelingen, besteht das Risiko ineffektiver, widersprüchlicher oder in der Gesellschaft nicht akzeptierter Maßnahmen und Entscheidungen. Die deutsche Energiewende wird europa- und weltweit kritisch beobachtet. Um international Nachahmer zu motivieren, muss es gelingen, Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit gleichermaßen zu gewährleisten. Daran wird das Experiment Energiewende international gemessen.

Anmerkungen

[1]  Ca. 130 Gemeinden, Landkreise und Regionen – sog. „100 %-Erneuerbare-Energien-Regionen“ (http://www.100-ee.de) haben eine Pionierrolle übernommen. Sie verfolgen das Ziel, ihren Energiebedarf langfristig vollständig aus vor Ort erzeugten erneuerbaren Energien zu decken.

[2]  So etwa im württembergischen Geislingen an der Steige und Umgebung. Dort treibt die Energiegenossenschaft Alb-Elektrizitätswerke Geislingen eG den Aufbau regionaler Strukturen der Energieversorgung voran, an der sich sieben Städte und Gemeinden beteiligen. Ein anderes Beispiel ist die Allgäuer Gemeinde Wilpoldsried. Diese Gemeinde erzeugt bereits mehr als dreimal so viel Strom aus erneuerbaren Quellen, wie sie selbst verbrauchen kann. Diese Überschüsse und ihre Schwankungen üben erheblichen Druck auf die kommunalen Netze aus. Daher testen Siemens und das Allgäuer Überlandwerk (AÜW) in Kempten zusammen mit der RWTH Aachen und der Hochschule Kempten in dieser Gemeinde im Rahmen eines Pilotprojektes (IRENE), wie ein intelligentes Stromnetz der Zukunft funktionieren kann.

Literatur

BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 2012: Mit neuer Energie. 10-Punkte-Programm für eine Energie- und Umweltpolitik mit Ambition und Augenmaß. Berlin

Bruns, E.; Futterlieb, M.; Ohlhorst, D. et al., 2012: Netze als Rückgrat der Energiewende – Hemmnisse für die Integration erneuerbarer Energien in Strom-, Gas- und Wärmenetze. Berlin

Horstmann, A.; Machnig, A.M., 2011: Energieeffizienz: Netzbetreiber in der Schlüsselrolle. Deutschland braucht eine Marktordnung zur Förderung der Energieeffizienz. In: ZFK – Zeitung für kommunale Wirtschaft vom 16.5.2011

IEA – International Energy Agency, 2002: Distributed Generation in Liberalized Electricity Markets. Paris

IZES gGmbH – Institut für ZukunftsEnergieSysteme (Hg.), 2008: Optimierungsstrategien aktiver Netzbetreiber beim weiteren Ausbau erneuerbarer Energien zur Stromerzeugung (OPTAN). Endbericht, im Auftrag des BMU. Saarbrücken

Krzikalla, N.; Achner, S.; Brühl, St., 2013: Möglichkeiten zum Ausgleich fluktuierender Einspeisung aus Erneuerbaren Energien. Studie im Auftrag des BEE. Bochum

Leprich, U.; Bauknecht, D.; Evers, E. et al., 2005: Dezentrale Energiesysteme und Aktive Netzbetreiber (DENSAN). Saarbrücken

Leprich, U.; Hauser, E.; Grashof, K. et al., 2012: Kompassstudie Marktdesign. Ein Projekt der BEE-Plattform Systemtransformation. Bochum

Liefferink, D.; Andersen, M.S., 1998: Strategies of the Green Member States in EU Environmental Policy-making. In: Journal of European Public Policy 5/2 (1998), S. 254–270

Ruhbaum, C., 2010: Eine Netz AG für Deutschland? Die Debatte um die Neuordnung der Stromübertragungsnetze. Masterarbeit, FU Berlin (FFU-Report 03-2011)

Sperling, K.; Hvelplund F.; Mathiesen, B.V., 2011: Centralisation and Decentralisation in Strategic Municipal Energy Planning in Denmark. In: Energy Policy 39/3 (2011), S. 1338–1351

UBA – Umweltbundesamt, 2010: Energieziel 2050: 100% Strom aus erneuerbaren Quellen. Dessau

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