Bewertung von Medizintechnologien in Deutschland - gegenwärtige Entwicklung und Perspektiven für die Zukunft

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Bewertung von Medizintechnologien in Deutschland - gegenwärtige Entwicklung und Perspektiven für die Zukunft

von Matthias Perleth

Einleitung

Nachdem die Technologiefolgenbewertung in der Medizin (health technology assessment, im folgenden HTA) in Deutschland jahrzehntelang neben der vergleichsweise großzügigen Förderung von Forschung und Technologie eine Randexistenz geführt hat, scheint die aktuelle Diskussion im Gesundheitswesen den Anschluß an internationale Entwicklungen nun zu forcieren. In seinem neuesten Gutachten mahnt der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen verstärkte Aktivitäten im Bereich technology assessment in der Medizin an (Sachverständigenrat 1996).

Den entscheidenden Impetus empfängt diese Entwicklung dabei weniger aus der Sorge um die Konsequenzen des rein technisch Machbaren für die Menschen als vielmehr aus der sich zunehmend aufdrängenden scheinbaren Alternative: Rationierung oder Rationalisierung. Oder anders ausgedrückt, die Evaluation medizinischer Technologien entwickelt sich zu einem Instrument der Gesundheitspolitik, wenn es in Zukunft darum geht, den Leistungskatalog zu "präzisieren" (und nicht bloß zu budgetieren).

Unter Technologiebewertung in der Medizin wird die Evaluation medizinischer Verfahren mit dem Ziel verstanden, gesundheitspolitische Entscheidungen wissenschaftlich zu begründen. Dabei werden außer der Bewertung der Effektivität und Wirksamkeit von Technologien auch technische Aspekte, Kosten, soziale, ethische, rechtliche und kulturelle Implikationen berücksichtigt (Banta et al. 1993). In der Literatur des "neuen" Technology Assessment wird zunehmend die Notwendigkeit gesehen, nicht nur Verfahren zum Zeitpunkt der Einführung in die medizinische Versorgung zu bewerten, sondern auch bereits etablierte Verfahren einer Überprüfung zu unterziehen (Fuchs et al. 1990). Schließlich rükken zunehmend auch die Bedingungen der adäquaten Indikationsstellung und Anwendung von Medizintechnologien in den Blickpunkt. Damit könnte dieser Ansatz von HTA in Deutschland zu der allseits geforderten "Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen" beitragen. (1)

In diesem Beitrag soll die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland dargestellt und ein Blick auf die in Zukunft mögliche Transformation von Entscheidungsstrukturen geworfen werden.

Hintergrund

Seit den 70er Jahren sind, aus verschiedenen Quellen gespeist, Bedenken gegenüber der Leistungsfähigkeit der westlichen Gesundheitssysteme laut geworden. Hierzu zählen:

Die Situation in Deutschland

Zu den in Deutschland gegenwärtig vorherrschenden Defiziten in der Bewertung von Medizintechnologien läßt sich vor allem das Fehlen eines systematischen und koordinierten Vorgehens zählen, das Entscheidungsträgern zuverlässige Informationen zu neuen und etablierten medizinischen Technologien liefern sollte. Dies sollte eigentlich im Interesse von Krankenkassen, ärztlichen Standesorganisationen und den Ländern liegen. Damit hängt ein Mangel an Wissenschaftlern zusammen, die sich auf HTA spezialisiert haben. Ein weiteres gravierendes Problem ist darin zu sehen, daß es nur in sehr wenigen Bereichen eine ausreichende Datenbasis gibt, um die Diffusion und Anwendung von Technologien zu analysieren.

Die Arbeitsgruppen in Deutschland, die sich mit HTA befassen, lassen sich grob in zwei Richtungen einteilen. Zum einen liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf Technologien in der Entwicklungsphase und auf Technologien im high tech-Bereich. Zum anderen läßt sich eine ausgeprägt ethisch-philosophische Tradition bei der Evaluation entstehender Technologien ermitteln. Hinsichtlich der bearbeiteten Themen dominiert dabei die Gentechnologie mit ihren verschiedenen (potentiellen) Anwendungen. Diese Themen werden zum großen Teil unter sozialer, gesellschaftspolitischer und rechtlicher Perspektive bearbeitet, wobei etwa Aspekte der demokratisch-partizipatorischen Regulierung heikler Technologien, mögliche Gefahren durch diese Technologien und - gerade bei der Gentechnologie - diagnostisch-therapeutische Implikationen eine Rolle spielen. Studien, die existierende und sich in breiter Anwendung befindliche Verfahren und Technologien mittels Informationssynthese evaluieren, sind in Deutschland absolute Einzelfälle. Auf Bundesebene hat sich das Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) als parlamentarisches Beratungsgremium etabliert. Die Arbeit des TAB konzentriert sich auf Technologien in der Entwicklungsphase, für die Regelungsbedarf besteht (z. B. Gentechnologie), was aber hinsichtlich der medizinisch-professionellen Praxis derzeit wenig relevant ist, da bestenfalls ein Einfluß auf die Rahmengesetzgebung zu verzeichnen ist.

Im ambulanten Sektor können potentiell, im stationären Sektor nur für den Bereich der Großgeräte Kriterien der Technologiebewertung bei der Gestaltung des Leistungsspektrums eine Rolle spielen. Die Indikationsstellung und Anwendung von Technologien unterliegt, wenn überhaupt, der Domäne der Qualitätssicherung und ist bislang eher struktur- und prozeßbezogen. Diese Diskussion kulminiert derzeit in der Entwicklung von Leitlinien ärztlichen Handelns, die primär von den ärztlichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften betrieben wird.

Zukünftige Perspektiven

Sieht man von gelegentlichen Empfehlungen, etwa den des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, ab, gab es bisher keine Ansätze, HTA in Deutschland systematisch zu fördern. In der jüngsten Zeit wurden lediglich zwei Bestandsaufnahmen vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie bzw. dem Bundesministerium für Gesundheit initiiert, deren Tragweite aber derzeit noch nicht absehbar ist.

Für die Bestandsaufnahme ökonomischer Evaluationen von Gesundheitsdienstleistungen in Deutschland 1980 - 1994, die von GSF/Neuherberg und BASYS/Augsburg durchgeführt wurde, liegt bereits ein Endbericht vor, der insgesamt ein vernichtendes Bild zeichnet (John et al. 1996). Die wichtigsten Ergebnisse zeigen, daß von den 114 identifizierten Studien nur 74 die Kriterien einer ökonomischen Evaluation erfüllen und davon etwa ein Drittel Arzneimittel behandeln, 15% beziehen sich auf Geräte, 8% auf Prozeduren und 24% auf Versorgungsstrukturen. Knapp zwei Drittel der Studien evaluieren Therapien, der Rest verteilt sich auf Diagnostik und Prävention. Die ökonomische Evaluation neuer Technologien ist bisher kaum berücksichtigt. Mithin fällt Deutschland im internationalen Vergleich weit hinter die Aktivitäten anderer westlicher Länder zurück. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß "sich die Förderung der ökonomischen Evaluationsforschung die Überwindung durchaus gravierender personeller, materieller und struktureller Schwächen der Forschungslandschaft zum Ziel setzen muß, wenn sie langfristig wirkungsvoll sein will."

Vielleicht noch gravierender erscheint die Situation im Bereich HTA in Deutschland. Das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Projekt "Bestandsaufnahme, Bewertung und Vorbereitung der Implementation einer Datensammlung 'Evaluation medizinischer Verfahren und Technologien' in Deutschland" (Röseler et al. 1996) hat folgende Ziele:

Die Koordination liegt beim Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Kooperation mit der Abteilung Epidemiologie und Sozialmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover sowie der Abteilung Sozialmedizin der Universität Lübeck und dem Teilbereich Diagnoseevaluierung des Klinikums Wuppertal.

Besucht wurden eine Reihe bedeutender Einrichtungen im Bereich HTA in Europa, USA und Kanada. Erste Ergebnisse der Bestandsaufnahme zeigen, daß die Ziele der jeweiligen HTA-Institution, ihre Organisation, Vorgehensweise und Disseminationsstrategien je nach Status dieser Institutionen im Gesundheitswesen und Organisation des Gesundheitssystems stark variieren. Institutionen, die auf Initiative von Regierungen tätig (und von diesen auch finanziert) werden, scheinen tendenziell Themen von größerer öffentlicher, bzw. sozioökonomischer Relevanz zu bearbeiten. Während sich methodisch in vielen Bereichen eine gewisse Annäherung abzeichnet, gibt es bisher keine einheitlich angewandten Kriterien zur Prioritätensetzung bei der Auswahl von zu bewertenden Verfahren; in Europa gibt es mit dem EUR-ASSESS-Projekt einen ersten systematischen Ansatz.

Um tatsächlich eine Wirkung von HTA-Aktivitäten erzielen zu können, muß nicht nur die Dissemination ihrer Ergebnisse, sondern auch deren Implementation sichergestellt werden. Die Methoden des Qualitätsmanagements müssen um die Erkenntnisse aus HTA-Studien ergänzt werden. Somit besteht die Herausforderung, Methoden aus so unterschiedlichen Feldern wie Politikberatung und Prozeßmanagement zu integrieren. Ob hierfür die gegenwärtigen Strukturen in Deutschland ausreichen oder ob neue Steuerungsinstrumente geschaffen werden müssen, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es zeigt sich aber, daß sich HTA in denjenigen Ländern am schnellsten entwickelt hat, die eine nationale Forschungsförderung dieses Bereiches betreiben.

Anmerkung

(1) So etwa der Titel des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen 1989.

Literatur

Banta, H.D.; Luce, B. (Hrsg.):
Health care technology and ist assessment. An international perspective.
Oxford-New York-Tokyo: Oxford University Press 1993.

Fuchs, V.R.; Garber, A.M.:
The new technology assessment.
N Engl J Med. 1990;323:673-7.

John, J.; Hofmann, U.; Nagl, H.; Schneider, M.:
Ökonomische Evaluation von Gesundheitsdienstleistungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Materialien zur Gesundheitsforschung, Band 30.
Bremerhaven: Verlag für neue Wissenschaft GmbH 1996.

Röseler, S.; Duda, L.; Bitzer, E.; Busse, R.; Dörning, H.; Köbberling, N.;
Kohlmann, T.; Perleth, M.; Raspe, H.H.; Reese, N.; Richter, K.; Schäfer, T.; Schwartz, F.W.:

Bestandsaufnahme, Bewertung und Vorbereitung der Implementation einer Datensammlung "Evaluation medizinischer Verfahren und Technologien" in Deutschland.
Gesundheitswesen 1996:58:29.

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen:
Gesundheitswesen in Deutschland: Kostenfaktor und Zukunftsbranche.
Nomos: Baden-Baden 1996.

Kontakt

Dr. Matthias Perleth
Medizinische Hochschule Hannover
Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung
Carl-Neuberg-Straße 1, D-30625 Hannover
Tel.: +49 511 532-8425