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"Modell Internet? Entwicklungsperspektiven neuer Kommunikationsnetze"
"Modell Internet? Entwicklungsperspektiven neuer Kommunikationsnetze"
Bericht zum Workshop des Verbunds sozialwissenschaftliche Technikforschung, München 25./26.10.1996
von Knud Böhle, ITAS
Die Organisation des im Titel genannten Workshops lag beim ISF (Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung, namentlich Frau Christa Lang und Dieter Sauer) in München, wo seit Juli 1996 die Koordinationsstelle des Verbunds sozialwissenschaftliche Technikforschung ihren Sitz hat. Das dichte wissenschaftliche Programm - 13 Vorträge (nur eine kurzfristige Absage) - hatte maßgeblich Raymund Werle vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, zusammengestellt. Etwa ein Drittel des Programms diente dazu, laufende und geplante Verbundprojekte vorzustellen. Der Workshop fand - gut gewählt - im Forum der Technik - Deutsches Museum statt. Etwa 40 Personen konnten daran teilnehmen, wobei das Gros der Teilnehmer aus den 13 Einrichtungen kam, die derzeit an dem Verbund mitwirken. Das BMBF, das die Forschung des Verbundes fördert, war ebenfalls vertreten. Thema und Programm des Workshops spiegeln bereits die neuere Schwerpunktsetzung des Verbundes wider, dem es zunehmend um die "institutionellen und organisatorischen Bedingungen der Innovationsfähigkeit" geht (Verbund Sozialwissenschaftliche Technikforschung im Überblick 1995/96, S. 7; vgl. zum Verbund allgemein auch den früheren Beitrag in den TA-Datenbank-Nachrichten, Nr. 2, Juni 1993, S. 14). Die Entwicklung der Netze war das Thema, das unter dieser generellen Perspektive aufgegriffen und unter drei Aspekten behandelt wurde: erstens Marktsteuerung und Kommerzialisierung, zweitens die Rolle staatlicher Akteure und drittens Herausbildung und Nutzung neuer Medien- und Kommunikationsformen. Der nun folgende Schnelldurchgang durch das Programm soll einen ersten Eindruck von der Veranstaltung vermitteln. Eine für 1997 geplante Veröffentlichung im Campus Verlag wird den Workshop dokumentieren und dabei hoffentlich auch die aufgezeichneten Diskussionsbeiträge wiedergeben.
Im eröffnenden, allgemein angelegten Vortrag führte Stefan Klein von der Universität Koblenz/Landau (bis vor kurzem St. Gallen) einige Differenzierungen ein, ohne die man die Kommerzialisierung des Internet sicher nicht angemessen beschreiben kann. Bei den Firmen, die im Internet tätig sind, unterschied er zwischen a) echten Neugründungen, b) Firmen, die das, was sie schon immer taten, nun ausschließlich im Internet tun, c) Firmen, die sich im Internet diversifizieren, und d) schließlich solchen Firmen, die das Internet nur zur Unterstützung ihrer herkömmlichen Aktivitäten nutzen. Bei den Märkten, die sich rund um das Internet bilden, unterschied er drei Segmente: das Endkundengeschäft (die electronic mall), das Geschäft mit den Hilfsfunktionen (Software, Aufbau von Web-Seiten, Zugang zum Internet etc.) und das Geschäft mit der Infrastruktur (wesentlich Telekommunikation). Wie die weitere Entwicklung dieses "experimentellen Mediums" verlaufen wird, ob z.B. das Entstehen neuer "Intermediaries" den Prozeß der "Desintermediation" wird kompensieren können, ob eher große oder kleine Firmen die hauptsächlichen Profiteure des Internets sein werden, hielt er für offen. Klein warnte jedoch ausdrücklich vor zwei Fehleinschätzungen: zum einen dürfe die Bereitschaft (der an kostenlose Angebote gewöhnten Internetnutzer), für Angebote im Internet zu zahlen, nicht überschätzt werden, und zum anderen dürfe man das Bedürfnis nach ,Interaktivität" nicht zu hoch veranschlagen. Er betonte, daß das Internet derzeit vor allem als komplementäres Medium angenommen wird.
Kurt Monse und Monika Gatzke von der Bergischen Universität - Gesamthochschule Wuppertal, die an dem Verbundprojekt "Elektronische Märkte: On-line-Transaktionen bei Konsumgütern und Dienstleistungen" mitgearbeitet haben, beschäftigten sich in ihrem Vortrag mit Computer-Reservierungs-Systemen im Reiseverkehr, genauer: mit Flugbuchungssystemen. Kurt Monse zeichnete zunächst die Entwicklung der Flugbuchungssysteme nach, die beim geschlossenen Inhousesystem für eine Fluggesellschaft begann und zu einer eigenen, neuartigen Handelsstufe führte, die heute von vier großen, konkurrierenden Anbietern beherrscht wird. Ganz im Trend versuchen diese Unternehmen, ihre Systeme nun für die Endverbraucher zu öffnen und mithin Arbeitsanteile dorthin zu verschieben. Daß es dazu nicht reicht, das System für die Fachleute dem Laien anzubieten, wurde an dem Beispiel SABRE verdeutlicht, das inzwischen ein Easy Sabre für die Kundenschnittstelle anbietet. Besonderes Interesse verdient aber die Beobachtung, daß bei kommerziellen Online-Anbietern wie CompuServe oder AOL ebenso wie im WWW die kommerziellen Angebote mit nicht-kommerziellen Angeboten zusammenwachsen (Bsp.: das Travel-Forum von CompuServe oder die "Travelocity" im WWW) und damit der reine Vertriebskanal in gewisser Weise Teil eines Kommunikationsraumes ("Kulturraum") wird.
Kai Reimers von der Universität Bremen konnte an den computergestützten Flugreservierungssystemen anknüpfend zu der Frage fortschreiten, ob sich nicht ein elektronischer Markt für Flugscheine (genauer: für Linienflüge) daraus entwickeln könnte. Den Begriff Markt machte er strikt am Kriterium eines autonomen Preisbildungsmechanismus fest. Impliziert ist darin, daß Käufer anonym auftreten und das erworbene Gut weiterverkaufen können. Börsen und Auktionen erfüllen diese Bedingung. Diese Bedingungen, so argumentierte Reimers weiter, sind beim Verkauf von Flugscheinen aber nicht gegeben: zum einen ist z.B. aus Sicherheitsgründen die Anonymität der Flugpassagiere nicht gewünscht und zum anderen wird im Geschäft mit Flugscheinen sehr stark mit Preisdifferenzierungen gearbeitet. Eine freie Verkäuflichkeit, wie sie eine elektronische Flugscheinbörse beinhaltete, würde diese Praxis natürlich unterlaufen. Daraus sollte nicht voreilig geschlossen werden, daß die Frage nach den Flugscheinbörsen ad acta gelegt werden kann; im Gegenteil, es entsteht so erst die Frage, unter welchen Bedingungen und im Interesse welcher Akteure sich der status quo eben doch verändern könnte. Diese Frage soll in einem Verbundprojekt, das sich derzeit in der Planung befindet, genauer untersucht werden.
Volker Wittke vom SOFI Göttingen trug mit Klaus Peter Wittemann zusammen gewonnene Überlegungen zu den sozialen Voraussetzungen der Durchsetzung von Online-Diensten vor. Er stellte die These auf, daß die Online-Dienste sich nicht so ohne weiteres durchsetzen werden, wobei er mit Durchsetzung nicht nur Wachstum verband, sondern tatsächlich breitflächige Nutzung und erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Sein Hauptargument gegen die Annahme einer unbegrenzten Ausweitung der ohne Zweifel wachsenden Online-Dienste ging davon aus, daß die Einführung der Dienste derzeit dem "Selbstbedienungspfad" folge, mit anderen Worten auf die Verkürzung der Wertschöpfungskette setze. Dieser eingeschlagene Weg stoße an eine Grenze, weil die Nutzer gar nicht die Zeit, das Geld und die Energie hätten, um einen solch starken Eigenanteil der Arbeit zu übernehmen - vor allem wenn es nicht bei einer Dienstleistung (etwa dem Homebanking bleibt) und alle möglichen Dienstleistungen "online" angeboten würden. Wenn sich aber der Selbstbedienungspfad als Sackgasse erweist, erhebt sich die Frage nach alternativen Pfaden bzw. Inhalten und Angeboten für Online-Dienste. Damit will sich ein Vorhabens des SOFI im Rahmen des Verbundes befassen.
Nachdem die Vorträge des ersten Blocks gewisse Zweifel an dem unaufhaltsamen Aufstieg der Online-Dienste und eines kommerzialisierten Internet qua Marktautomatismus geweckt hatten und so der Blick auf die Rahmenbedingungen gelenkt wurde, sollte folgerichtig im zweiten Block unter der Überschrift "Netz als Infrastruktur" nach der Rolle des Staates gefragt werden.
Volker Schneider vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, hatte für seinen Vortrag den Titel "Bildschirmtext, Teletel und die modernen Computernetze. Staatliche Planung und Marktdynamik" gewählt. Er bemühte Erkenntnisse der neueren Evolutionstheorie, um zu argumentieren, daß die lange Zeit schwierige, ständig Anpassungen erfordernde Entwicklung des deutschen Bildschirmtextdienstes sich heute (in Zeiten der Deregulierung, des PCs, des Internetaufschwungs) positiv auswirke. Im Gegensatz dazu seien der frühe Erfolg des französischen Teletel/Minitel und die damit verbundenen Ausbauentscheidungen heute womöglich eher als Anpassungshemmnissse zu beurteilen. In diese interessante Überlegung müßte auf jeden Fall noch die Konkurrenz anderer Online-Dienste, etwa CompuServe und AOL, einbezogen werden. Auch wäre zu fragen, welche Restaufgaben dem Staat nach der Deregulierung noch in den verschiedenen Ländern zufallen. Es wäre zu wünschen, daß diese Aspekte in der geplanten Publikation Schneiders gebührend berücksichtigt werden.
Im Vortrag von Raymund Werle ging es um die Rolle der staatlichen Akteure bei der Bereitstellung der Wissenschaftsnetze in Europa und den USA. Viel Konkretes war selbstverständlich noch nicht aus dem gerade angelaufenen Verbundprojekt zu erfahren. Die Generalthese lautet in etwa, daß in den USA der Staat bei der Entwicklung der Wissenschaftsnetze (ARPANET, CSNET) vorwiegend indirekt steuernd tätig war und die Gestaltung des Netzes weitgehend nicht-staatlichen Initiativen, Gremien und Komitees überließ und der Betrieb des Internet sehr früh (auch) von privaten Firmen getragen wurde. In der Bundesrepublik trat der Staat dagegen unmittelbarer in Aktion: das damalige BMFT initiierte das DFN und die (staatliche) Deutsche Bundespost war sein Betreiber. Die unterschiedlichen Entwicklungsmuster und Karrieren von Wissenschaftsnetzen genauer zu untersuchen und zu erklären, wird die Aufgabe des Projekts, an dem auch Volker Leib mitarbeiten wird, in den nächsten zwei Jahren sein.
Der erste Tag des Workshops endete mit einem Vortrag von Ulrich Pordesch von provet, Darmstadt, zur Verletzlichkeit einer vernetzten Gesellschaft. Zunächst wurde noch einmal die bekannte "Verletzlichkeitsdebatte" in Erinnerung gerufen. Dann wurde auf die heutigen, veränderten Bedingungen eingegangen. Seine These: die heutige Situation unterscheidet sich von dem früher angesetzten Szenario durch Deregulierung, Dezentralisierung und Vielfalt der Netze. Damit sei einerseits die große Gefahr der Abhängigkeit von wenigen, zentralen und integrierten Systemen nicht mehr gegeben, andererseits sei aber zu bedenken, daß die einzelnen Netze womöglich eine geringere Grundsicherheit aufwiesen. In diesem Zusammenhang wurde für Maßnahmen zum "Selbstschutz" plädiert.
Mit viel Spannung wurde der Vortrag des systemtheoretischen Staats-, Planungs- und Entscheidungstheoretikers Helmut Willke von der Universiät Bielefeld erwartet. Willke ging aus von den mit den Schlagworten Globalisierung, Vernetzung und Digitalisierung bezeichneten Prozessen, die das Ende des Nationalstaats, das Ende der monetären Kontrolle durch die Nationalbanken und die Entstehung von Formen der "Selfgovernances" unterhalb des Nationalstaats wahrscheinlich machen, und stellte anschließend die Frage nach den neuen Regulierungen im lateralen Weltsystem, der neuen Rolle des Staates und den zukünftig zentralen Kollektivgütern. Im Zusammenhang mit der Themenstellung "Informationstechnische Vernetzung als Infrastrukturausgabe. Welche Rolle spielt die Politik?" ist sein Konzept der "kollateralen Güter", entscheidend. Kollaterale Güter können weder allein privatwirtschaftlich noch öffentlich erbracht werden, sondern womöglich am besten in einer Mischung aus privatem Wettbewerb und dezentraler Kontextsteuerung. Der Staat übernimmt dabei eine Moderatorenrolle. Als Beispiele wurden die Verkehrstelematik und die Netzinfrastruktur angesprochen. Leider gingen die Ausführungen an dieser Stelle über einen Hinweis (und eine kurz aufgelegte Folie) nicht hinaus, obwohl mancher sicher mit einer Analyse und Bewertung des spezifischen öffentlich-privaten Mixes beim Aufbau der Netzinfrastruktur in Deutschland gerechnet hatte.
Der dritte Block, der den Kommunikationsverhältnissen im Netz galt, wurde von Herbert Kubicek von der Universität Bremen mit einem vorwiegend theoretischen Beitrag zur "Institutionalisierung neuer Medien und deren organisatorische Voraussetzungen" eröffnet. Der Beitrag ist in einer früheren Form (Kubicek/Schmid) in den Mitteilungen des Verbundes Heft 17/1996 nachzulesen. Der Einsicht von Herbert Kubicek, daß wir einen theoretischen Bezugsrahmen benötigen, um das Entstehen von neuen Medien beobachten zu können, der Medien sowohl von der kommunikationstechnischen Seite als auch von der organisatorisch, institutionellen Seite erfaßt, kann man nur zustimmen. Vor der Folie der historischen Entwicklung der Massenmedien legte Herbert Kubicek ein dreistufiges Modell der Medieninnovation und -diffusion vor (mit den Stufen Kultivierung, Differenzierung / Formalisierung und infrastruktureller Basierung), das beide Aspekte berücksichtigt und die Bedeutung sozialer Normierungs- und Organisationsprozesse bei der Herausbildung von Massenmedien unterstreicht. Kein Internetdienst erfüllt bislang die Kriterien des Massenmediums; umso mehr kommt es darauf an, den beginnenden Institutionalisierungsprozeß genau zu beobachten und zu reflektieren. Die Konzentration auf den Begriff "Massenmedien" sollte allerdings nicht dazu führen, so sollte man Herbert Kubicek vielleicht ergänzen, die Kommunikationsformen im Internet unterhalb dieser Schwelle oder auch die Eigenart des Computers als "interaktives" und "programmierbares" Medium zu vernachlässigen.
Ute Hoffmann vom Wissenschaftszentrum Berlin ging es genau um solch eine massenhafte (aber nicht massenmediale) Form der Kommunikation im Internet, die Usenet News (vgl. auch ihren Beitrag in den TA-Datenbank-Nachrichten Nr. 3, August 1995 bzw. in der Online-Ausgabe http://wwwtab-beim-bundestag.de/ deu/TADN/TADN895/schwer11.html). Ganz im Sinne der theoretischen Vorgaben von Herbert Kubicek zeigte sie am konkreten Fall die technische und organisatorische Bestimmtheit der Medienentwicklung auf. Im Vordergrund standen entsprechend die Regulierungsformen dieser (derzeit ca. 16.000) Newsgroups. Charakteristisch sei die geringe Ausdifferenzierung der Arten, in denen Verständigungs- und Steuerungsprobleme bearbeitet würden. Alle Probleme werden in Newsgroups und mit den Mitteln der Newsgroups bearbeitet. Nicht ein Mangel an Ordnung könnte sich demnach einmal als Problem der Usenet News herausstellen, sondern ein Mangel an spezifischen Instanzen, die den eigenen Wandel nötigenfalls organisieren könnten.
Den Abschluß des Workshops bildeten zwei weitere Berichte von empirischen Studien. Martina Merz, derzeit am CERN in Genf forschende Physikerin und Soziologin, untersucht die sich durch die Möglichkeiten elektronischer Post verändernden Kommunikationsgewohnheiten der dortigen theoretischen Physiker, und Dorothee Greve von der Universität Hamburg hatte konkret eine Mailinglist von Frauen im Internet - in zeitlichem und thematischem Zusammenhang mit der Weltfrauenkonferenz in Peking - untersucht. Sie hatte später Gelegenheit gehabt, in den USA Gespräche mit den Aktivistinnen der Mailinglist zu führen. Für sie überraschend stellte sich dabei heraus, daß die enorm aktive Mailinglist mit 40-50 mails pro Tag nicht so sehr von privaten Einzelnen, sondern stark von NGO-Initiativen getragen worden war.
Die kurze Kommentierung der Vorträge vermittelt noch nicht, was für die Tagung wesentlich war: die lebhafte Diskussion. Eine gewisse Spannung zwischen denen, die ein hohes Niveau sozialwissenschaftlicher Theoriebildung einforderten, und denen, die empirisch im "elektronischen Feld" arbeiten, war nicht zu übersehen. Mancher Soziologe, hieß es, käme bei der Beschreibung seines Gegenstandes mit der Schnelligkeit der Entwicklung nicht mehr mit oder hätte zu wenig Abstand dazu. "Theoretiker", ließe sich dem entgegenhalten, die allein auf den Instrumentenflug der Theorie setzen, laufen allerdings nicht minder Gefahr, die konkreten Verhältnisse zu verfehlen. Die Spannung von Theorie und Empirie, die Unterschiedlichkeit der Standpunkte und die gebotene thematische Vielfalt machten den besonderen Reiz des Workshops aus und dürften die sozialwissenschaftliche Technikforschung stimulieren.