Real-Time Technology Assessment in der Wüste

Tagungsberichte

Real-Time Technology Assessment in der Wüste

Winter School zu „Anticipatory Governance of Emerging Technologies“

Mesa, Arizona, USA, 3.–10. Januar 2013

von Stefanie B. Seitz, ITAS

Nur eine Stunde Fahrt nordöstlich vom Zentrum der Stadt Phönix befindet man sich mitten in der Sonora Wüste und damit in einer völlig anderen Welt: verschwunden die spiegelnden Hochausfassaden und perfekt gepflegten Grünflächen des Arizona State University (ASU) Campus in Tempe, dafür haushohe Kandelaber-Kakteen, das Wahrzeichen dieser Landschaft und namensgebend für die 1930 erbaute Saguaro Lake Ranch, die in Arizona „wirklich historisch“ ist, wie man uns stolz versicherte. Die Ranch liegt umgeben von der malerischen Landschaft des Tonto National Forest am Salt River, nur einen Steinwurf weit entfernt vom Stewart Mountain-Damm, der diesen zum Saguaro Lake aufstaut. Ursprünglich diente die Ranch als Speisehalle für die Bauarbeiter jenes Dammes, doch vom 3.–10. Januar 2013 beherbergte das heutige Feriendomizil vierzehn Nachwuchswissenschaftler verschiedener Disziplinen, die aus aller Welt angereist waren, um an der, von Dave Guston organisierten, Winter School zum Thema „Anticipatory Governance of Emerging Technologies“ teilzunehmen und dabei akademische Auslandserfahrungen der besonderen Art sammeln zu können.

1     Seminare und Übungen – ein Stück Campusleben unter Kakteen

Die Inhalte der Winter School richteten sich am Forschungskanon des Center for Nanotechnology in Society (CNS) der ASU aus, der sich methodisch am Real-Time Technology Assessment (RTTA) orientiert und Schwerpunkte in Ausbildung und Öffentlichkeitsarbeit setzt. Während der Winter School stellten die leitenden Wissenschaftler der ASU-CNS-Forschungsbereiche die wissenschaftlichen Grundlagen und speziellen Methoden ihrer Forschungsbereiche in Seminaren vor. Die vermittelten Kenntnisse konnten dann später von den Teilnehmenden direkt in praktischen Übungen angewendet und vertieft werden.

Aus dem Forschungsbereich RTTA 1, Research and Innovation Systems Assessment, stellten Jan Youtie und Phil Shapira vor, wie man bibliometrische Daten- und Patent-Analyse nutzen kann, um die Dynamik von Unternehmungen, aber auch Forschungs- und Vernetzungsaktivitäten im Bereich neuer und entstehender Technologien zu analysieren und zu verstehen. Jan Youties innovative und visuell sehr ansprechenden Graphiken führten den Teilnehmenden eindrucksvoll vor Augen, wie man mit der richtigen Software die Schönheit der Zahlen enthüllt.

Umfragen und quasi-experimentelle Medien-Analysen werden im Bereich RTTA 2, Public Opinion and Values, genutzt, um Änderungen der Wahrnehmung von Öffentlichkeit – aber auch von Wissenschaftlern – bezüglich neuer Technologie zu ergründen. Die dazu nötigen Kenntnisse und Herangehensweisen, z. B. wie man eine Umfrage entwickelt, auswertet und die Schlussfolgerungen daraus medienwirksam kommuniziert, wurden von Elizabeth Corley vermittelt.

Die schriftstellerischen Qualitäten der Teilnehmenden wurden beim Schreiben von Szenarien mit Cynthia Selin aus dem Bereich RTTA 3, Anticipation and Deliberation, offenbar. Cynthia Selin nutzt neben einer Reihe anderer Techniken die Entwicklung von Szenarien zu Technikzukünften, um damit Deliberation anhand plausibler Anwendungen von entstehenden Technologien zu ermöglichen. Den Prozess von der Themenfindung bis hin zu einem ausgearbeiteten Satz von Szenarien konnten die Teilnehmenden der Winter School selbst durchlaufen und dabei eine Reihe von speziellen Techniken erlernen, die die einzelnen Schritte der Szenarienerstellung vereinfachen und optimieren. Eine weitere Methode aus dem Bereich RTTA 3 verdient besondere Erwähnung: Das „Finding Futures“-Projekt verfolgt einen innovativen Ansatz, mit Laien über die Zukunft von Städten nachzudenken. Dabei begeben sich die Teilnehmenden auf eine Fotosafari durch ihre Stadt und spüren währenddessen vergangenen, gegenwärtigen und kommenden Technologien im urbanen Umfeld nach. Die Bilder aus den Heimatstädten der Teilnehmenden der Winter School und deren Gedanken dazu erweiterten dieses interessante Projekt um eine weitere räumliche Dimension.

Erik Fisher brachte den Teilnehmenden sein Konzept der sog. soziotechnischen Integration aus dem Fachbereich RTTA 4, Reflexivity and Integration, näher. Kernstück dieses „Midstream Modulation“-Konzepts ist die teilnehmende Beobachtung in Laboren zusammen mit einer speziellen Interviewtechnik, die – in Zyklen angewandt – den interviewten Wissenschaftler anregt, die Ziele und Methodenwahl seiner Arbeit zu reflektieren. Ziel ist es, Wege aus der Arbeitsroutine herauszufinden, und zu reflektierten Entscheidungen und damit zu besseren, verantwortlicheren Ergebnissen zu gelangen. Diese Interviewtechnik wurde in Kleingruppen auch von den Teilnehmenden der Winter School praktiziert, um aktuelle Entscheidungen ihrer Forschungsarbeiten zu reflektieren – mit der wohltuenden Wirkung einer Therapiesitzung, wie einige Teilnehmende bemerkten.

2     Alternative Formate – eine Spezialität des CNS

Neben den RTTA-Forschungsbereichen gibt es am ASU-CNS zwei thematische Forschungsschwerpunkte, die sich mit Querschnittsthemen befassen. Der erste, Equity, Equality and Responsibility, untersucht Möglichkeiten, Forschung im Bereich entstehender Technologien mit den Ideen von sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit sowie Responsible Innovation zu verbinden. Susan Cozzens, Jamey Wetmore und Ira Bennett haben hier sehr anschauliche Wege gefunden, die Problemstellungen in diesem Forschungsbereich deutlich zu machen, indem sie in ihren Arbeiten verschiedene Formen von „Learning Games“ einsetzten. Besonders bemerkenswert war dabei das „Nano Around the World“-Kartenspiel, bekannt von der S.NET-Konferenz 2011, das Aspekte von Verteilungsgerechtigkeit im Kontext von nanotechnologischen Innovationen sehr anschaulich darstellt und vom ASU-CNS insbesondere für Öffentlichkeitsarbeit, z. B. in den für die USA typischen Science Museums, eingesetzt wird. Ein solches konnte auch in Phönix von den Teilnehmenden der Winter School erkundet werden.

Der zweite thematische Forschungsschwerpunkt, Urban Design, Materials, and the Built Environment (Nano and the City), der sich mit Visionen der von Nanotechnologie geprägten Stadt der Zukunft in betont interdisziplinärer Weise auseinandersetzt, wurde den Teilnehmenden von den ASU-CNS-Doktoranden Rider Foley und Ben Wender vorgestellt. Ein Glanzlicht der Winter School stellte das von ihnen initiierte „Scientist-Engineer-Speed-Meeting“ dar, das einen praktischen Weg zur interdisziplinären Zusammenarbeit wies. Bei dieser Übung kamen die Teilnehmenden mit Doktoranden aus ingenieurswissenschaftlichen Disziplinen nach Manier des Speed-Datings zusammen, um gemeinsame Interessen und damit Kooperationsmöglichkeiten und Themen für interdisziplinäre Forschung zu identifizieren.

3     Wild Cards und balzende Kolibris

Einen weiteren Höhepunkt stellte der abendliche Auftritt des Journalisten und Autors G. Pascal („Gregg“) Zachary mit dem Titel „Persuasive Writing“ dar, der an der ASU im Bereich Journalismus und Massenkommunikation lehrt und regelmäßig im Wall Street Journal und IEEE Spectrum publiziert. Der gebannten Hörerschaft vermittelte er in Anekdoten aus seiner Journalistenkarriere wertvolle und dabei manchmal verblüffend banale Tipps, wie man als (wissenschaftlicher) Autor das Interesse seines potenziellen Publikums weckt. Sein Leitspruch: „Think big!“. Wer sich seiner Expertise bewusst ist und eine klare Idee verfolgt, wird auch sein Publikum finden.

Nicht gerade alltäglich war auch der Besuch der BioScience High School, die als innovatives Lehrkonzept naturwissenschaftliche mit gesellschaftswissenschaftlicher Ausbildung verbindet. Hier wurden die Teilnehmenden der Winter School ausnahmsweise mal von den Schülern interviewt, für die diese Begegnung Teil eines Projektes war. Aber auch die Teilnehmenden konnten so Einblicke in Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit des ASU-CNS sowie das Leben an einer US-amerikanischen High School gewinnen.

Daneben wurde der Netzwerkgedanke großgeschrieben: Gemeinsame Aktivitäten der Teilnehmenden und Fakultätsangehörigen am Abend, Präsentationen durch die Teilnehmenden sowie bei diversen organisierten Ausflügen, z. B. zum Arizona Science Center und ASU Tempe Campus, aber auch Wanderungen in der Umgebung der Ranch mit ihrer spektakulären Flora und Fauna, boten reichlich Raum, um sich kennen zu lernen und über die wissenschaftliche Arbeit zu diskutieren. Eine Besonderheit stellten dabei die Mentoring-Abende dar, bei denen die Fakultätsmitglieder des ASU-CNS sich den Teilnehmenden für Rat und Feedback zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Karriere in Vieraugengesprächen zur Verfügung stellten.

Diese erste ASU-CNS Winter School sollte der Auftakt einer nach Möglichkeit jährlich stattfindenden Reihe von Winter Schools zum Thema „Anticipatory Governance of Emerging Technologies“ sein. Interessierte Nachwuchswissenschaftler sollten also in den Sommermonaten auf den Seiten des CNS (http://cns.asu.edu/events/winter-school) Ausschau nach der nächsten Ausschreibung für 2014 halten – eine Teilnahme sei ihnen wärmstens empfohlen!