Auf der Suche nach den Antworten von morgen: der deutsche Forschungsdialog Futur

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Auf der Suche nach den Antworten von morgen: der deutsche Forschungsdialog Futur

von Hans-Peter Meister, Henning Banthien, Jörg Mayer-Ries, Michael Jaspers, IFOK - Institut für Organisationskommunikation

Mit "Futur - Der deutsche Forschungsdialog" hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, im Frühjahr 2001 einen nationalen Foresight-Prozess initiiert, der einen wichtigen Beitrag zur Neuausrichtung der deutschen Forschungspolitik leisten soll. In einem mehrstufigen Dialogprozess werden anhand von Zukunftsszenarien "Leitvisionen" entwickelt, die als Ausgangspunkt für konkrete Forschungsprojekte dienen.

Zentrale Merkmale von Futur

Grundlegend für die Konzeption von Futur ist die Orientierung am gesellschaftlichen Bedarf: Die technologische Entwicklung soll in den Dienst des Menschen gestellt, die Forschung am Bedarf der künftigen Gesellschaft ausgerichtet werden. Standen in früheren Foresight-Prozessen die Fragen im Vordergrund, wie die kommenden technologischen Entwicklungen beschaffen sein werden und welche Folgerungen sich aus ihrer Dynamik für die Gesellschaft ergeben könnten, wird die Reihenfolge nun umgekehrt: Gefragt wird zunächst, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu erwarten beziehungsweise erstrebenswert sind, um daraus die Aufgaben an Wissenschaft und Forschung abzuleiten, Forschungsthemen zu identifizieren und in Leitvisionen zu bündeln.

Aufgrund der offenkundigen Komplexität gegenwärtiger und absehbarer gesellschaftlicher Fragestellungen wurde ein interdisziplinärer und systemübergreifender Ansatz für den Forschungsdialog gewählt: Nicht nur sollen die Leitvisionen fachübergreifend sein und damit über den Rahmen der bestehenden Fachprogramme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) hinausgehen. Auch versteht sich das BMBF als Initiator eines Diskurses zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und anderen Teilen der Gesellschaft im allgemeinen.

Dabei konzentriert sich Futur nicht allein auf Wissenschaft und Technologie, sondern erfasst auch Ethik, Werte und Religion sowie grundlegende Fragen unserer gesellschaftlichen Ordnung - Querthemen also, die sich durch die einzelnen Fragen zu Wissenschaft und Technologie ziehen und diese mit dem absehbaren beziehungsweise erwünschten Bild der Gesellschaft von morgen verbinden. Futur nimmt bewusst eine Langfristperspektive ein und fokussiert Gesellschaftsbilder und Forschungsszenarien, die sich am Jahr 2020 und darüber hinaus orientieren.

Konzeptionelle und methodische Neuerungen

Sowohl konzeptionell als auch methodisch ist Futur darauf angelegt, die Erfahrungen aus bisherigen Foresight-Prozessen bewusst weiterzuentwickeln (BMFT 1993, BMBF 1996, Cuhls, Blind und Grupp 1998, Dietz 2001). Dies gilt insbesondere mit Blick auf die sogenannten Delphi-Verfahren: Vorausschau bei Futur bedeutet nicht nur eine mehrstufige Befragung zu bestimmten Themen (Delphi), sondern einen methodisch vielfältigen und breit angelegten partizipativen Dialog (Grupp 1999). Zentrale Merkmale von Futur sind:

Die Besonderheit von Futur liegt zum einen in der Kombination dieser konzeptionellen Aspekte. Zum anderen stellt die Dimension, in der strategische Impulse für die Forschungspolitik insgesamt am gesellschaftlichen Bedarf ausgerichtet werden, ein Novum dar (Cuhls 2000).

Durchführung

Verantwortlich für die Durchführung des Futur-Prozesses ist ein Konsortium von Institutionen, welche die benötigte inhaltliche wie methodische Kompetenz für Konzeption, Durchführung, wissenschaftliche Begleitung und Dokumentation des Forschungsdialogs mitbringen: das Institut für Organisationskommunikation (IFOK), das Fraunhofer Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI), das Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), das VDI/VDE-Technologiezentrum Informationstechnik (VDI/VDE-IT), das Büro für Wissenschafts- und Technikkommunikation Science & Media sowie der Anbieter integrierter Internet-Dienstleistungen Pixelpark.

Die Leitung des Konsortiums, Konzeption und Prozessmanagement liegen bei IFOK. Gemeinsam sorgen die Mitglieder des Konsortiums für einen ergebnisoffenen Prozess sowie die Transparenz der einzelnen Prozessetappen. Das BMBF ist eng in den Futur-Prozess eingebunden, indem es grundsätzliche Steuerungsfunktionen wahrnimmt. Auf diese Weise soll die spätere Umsetzbarkeit der Ergebnisse von Futur gewährleistet werden. Die Entscheidung darüber, welche Schwerpunkte beziehungsweise Leitvisionen künftig die Forschungspolitik bestimmen, bleibt letztlich eine politische Aufgabe, die nicht auf den Forschungsdialog und seine Teilnehmer übertragen werden kann.

Teilnehmer

Gleichwohl stehen im Mittelpunkt von Futur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die den Dialog führen und am Ende die Leitvisionen erarbeiten. Um den gesellschaftlichen Bedarf an Forschung und Technologieentwicklung zu identifizieren, zu strukturieren und zu bewerten, bedarf es der systematischen Einbindung eines möglichst breiten Teilnehmerkreises: Dazu zählen ganz bewusst auch Personen außerhalb von Fachwissenschaft, Fachinstitution und Fachabteilung, also Praktiker, Künstler, Zukunftsautoren und Medienvertreter. Der Expertenbegriff bei Futur ist folglich weit formuliert und bezeichnet Personen, die aufgrund ihrer Fach-, Schnittstellen- und Entscheidungskompetenz, ihrer Kreativität sowie ihres interdisziplinären und visionären Denkens besonders befähigt sind, künftige Entwicklungen der Gesellschaft zu erfassen oder zu bestimmen, wie der fachliche Beitrag ihrer Disziplin zur konkreten Gestaltung dieser Zukunft aussehen kann. Futur kann zu Recht als übergreifender Fachdiskurs bezeichnet werden, der von der Gesellschaft getragen wird.

In einem inneren und äußeren Akteurskreis sind insgesamt rund 1500 Teilnehmer versammelt, die regelmäßig und in unterschiedlichen Veranstaltungen zusammenkommen (vor allem in Workshops, Fokusgruppen, Zukunftswerkstätten, virtuellen Diskussionsforen und Konferenzen). Hier vollziehen sie die entscheidenden Schritte auf dem Weg zu den Leitvisionen. Darüber hinaus bietet ein Internet-basierter Workspace die Möglichkeit zur Meinungsbildung und Vertiefung der Diskussionen.

Futur-Etappen

Die Ermittlung des zukünftigen gesellschaftlichen Bedarfs und die Formulierung von forschungs- und förderpolitischen Leitvisionen geschieht in mehreren Stufen, die eine stetige Bündelung und Konkretisierung der jeweiligen Zwischenergebnisse auf dem Weg zu den Leitvisionen implizieren.

1. Phase (Sommer 2001 - Herbst 2001)

In Workshops wurden künftige Themen und Trends im Bereich technischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen gesammelt und auf der 1. Konferenz des inneren Akteurskreises (September 2001) zu komplexeren Trendclustern gebündelt. Zwei Schwerpunkte standen im Vordergrund: zum einen die allgemeine Gesellschaftsentwicklung, wobei als relativer Bezugspunkt die "Gesellschaft 2020" galt. Zum anderen stellten die Experten dar, welche Themen und Trends aus ihrer fachlichen Perspektive künftig von besonderer Bedeutung sein werden. Ergebnis waren 25 Vorschläge für Fokusthemen, die in Profilen differenziert beschrieben und begründet wurden. Die Themen reichten von individueller Medizin über gesellschaftlich nachhaltige Mobilität, neue Stadtkonzepte angesichts veränderter Lebens- und Versorgungsformen, gesellschaftliche Steuerung oder interkulturelle Netzwerke bis hin zu intelligenten Produkten.

2. Phase (Herbst/Winter 2001/2002)

In Fokusgruppen werden voraussichtlich zwölf dieser Trendcluster nun vertieft. Die Auswahl der Cluster liegt bei der Leitung des BMBF. Grundlage der Entscheidung sind folgende zentrale Kriterien: gesellschaftlicher Bedarf und lebensweltlicher Bezug, Verdichtungspotenzial und Möglichkeit zur Fokussierung auf konkrete Forschungsthemen, Verknüpfung von Disziplinen und Themen, schließlich Relevanz für die Forschung, indem die Themen neue und längerfristige Perspektiven eröffnen. Parallel dazu werden sich die Teilnehmer in Zukunftswerkstätten mit künftigen Lebenswelten beschäftigen und konkrete Zukunftsentwürfe formulieren. Diese Entwürfe liegen thematisch quer zu den Fokusgruppen und können in die Arbeit des inneren Akteurskreises eingebracht werden, um die Orientierung am gesellschaftlichen Bedarf zu gewährleisten. Den Abschluss dieser Phase bildet mit einer weiteren Fokussierung die 2. Konferenz des inneren Akteurskreises.

3. Phase (Frühjahr 2002)

Im Frühjahr 2002 werden dann die Zukunftsbilder vertieft und differenziert. Mit Hilfe von Szenariotechniken sollen die verschiedenen Faktoren neu kombiniert und zu möglichen Szenarien zusammengefügt werden. Wünschbare Entwicklungen werden identifiziert und entsprechende Forschungsfelder ausgemacht. Für Mai 2002 ist schließlich die 3. Konferenz vorgesehen, deren Aufgabe es ist, die bis dahin erarbeiteten Bilder zu Leitvisionen zu vervollständigen. Damit ist die dritte Phase von Futur abgeschlossen. Im Anschluss daran wird es Aufgabe spezieller Umsetzungsteams sein, konkrete Förderprojekte aus den Leitvisionen abzuleiten.

Ausblick

Angesichts der Komplexität gesellschaftspolitischer Fragestellungen in einer globalisierten Welt stoßen die traditionellen Wissensbeschaffungs- und Steuerungsmuster der Politik zusehends an ihre Grenzen. Dies gilt auch für die Forschungspolitik, deren originäre Aufgabe es ist, den Blick über den heutigen Horizont hinaus auf den wissenschaftlichen Bedarf der Zukunft zu lenken und folglich zeitnahe ebenso wie künftige Konflikte zu antizipieren.

Die Stärke eines diskursiven Prozesses wie Futur besteht im befruchtenden Austausch vielfältigster Expertisen und Zukunftswünsche. Durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Erfahrungshorizonte werden einerseits innovative Lösungsmodelle generiert. Die Konfrontation unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster und Zukunftsvorstellungen ermöglicht es andererseits, konsensfähige Handlungsoptionen für die Zukunft zu entwickeln. Auf dieser Basis erhalten politische Weichenstellungen eine neue Qualität. Futur kann in dieser Hinsicht als beispielhaft auch für das Herangehen an andere gesellschaftspolitische Herausforderungen betrachtet werden.

Weitere Informationen sind zu finden unter http://www.futur.de

Literatur

BMBF (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie), 1993:
Deutscher Delphi-Bericht zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Bonn.

BMBF (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie), 1996:
Delphi-Bericht 1995 zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Mini-Delphi. Bonn.

Cuhls, K., 2000:
Wie kann ein Foresight-Prozess in Deutschland organisiert werden? Bonn.

Cuhls, K.; Blind, K.; Grupp, H. (Hrsg.), 1998:
Delphi '98. Studie zur globalen Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Zusammenfassung der Ergebnisse. Karlsruhe / Bonn: Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (FhG-ISI) / Bundesministerium für Bildung und Forschung).

Dietz, V., 2001:
Technology Foresight in the Federal Republic of Germany, especially by the Federal Ministry of Education and Research (BMBF). Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. Bonn.

Grupp, H., (Hrsg.), 1999:
Technological Forecasting and Social Change. Special Issue on National Foresight Projects. Jg. 60, H. 1

Kontakt

Henning Banthien
IFOK - Institut für Organisationskommunikation GmbH
Elsenstr. 106, 12345 Berlin
Tel.: +49 30 536077-0
E-Mail: banthien∂ifok.de
Internet: http://www.ifok.de