Neurotechnologien, Spekulationen und TA. Was haben wir von der Debatte um pharmakologisches Neuroenhancement für die TA gelernt?

Schwerpunkt: Visionen und Technikfolgenabschätzung am Beispiel der Debatte um Enhancement-Technologien

Neurotechnologien, Spekulationen und TA

Was haben wir von der Debatte um pharmakologisches Neuroenhancement für die TA gelernt?

von Arnold Sauter und Katrin Gerlinger, TAB

Seit einigen Jahren werden unter dem Begriff Neuroenhancement Hoffnungen auf eine spezifische und effiziente, wirkstoffbasierte Unterstützung kognitiver Leistungen geschürt – kein Wunder in einer immer expliziter auf Leistungsoptimierung ausgerichteten Lebenswelt. Wie realistisch die in der Öffentlichkeit viel diskutierten wissenschaftlichen Perspektiven pharmakologischer Interventionen zur Leistungssteigerung sind und welche gesellschaftlichen Herausforderungen sich daraus ergeben, hat das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) im Auftrag des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages untersucht. Der folgende Beitrag fasst zusammen, wieso dieses „Vision Assessment“ den Blick weg von den Erwartungen an die pharmakologische Wirkstoffentwicklung und hin zur Hinterfragung der Leistungsanforderungen in einer zunehmend globalisierten Ausbildungs- und Arbeitswelt richtet.

1    Pharmakologische Beeinflussung der menschlichen Leistung

Für das Erbringen kognitiver Leistungen spielt das Gehirn die entscheidende Rolle. Trotz großer neurowissenschaftlicher Erkenntnisfortschritte können jedoch nach wie vor lediglich Teilprozesse der Funktionsweise des Gehirns erklärt werden. Selbst wenn es gelingen sollte, einzelne Hirnfunktionen gezielt anzuregen, sagt dies nichts über eine mögliche Praxisrelevanz der Effekte aus, weil davon auszugehen ist, dass unterschiedliche kognitive, aber auch sonstige psychische Fähigkeiten emotionaler und sozialer Art eine geistige Leistung, zumal im Arbeitsleben, erst in ihrem Zusammenspiel ermöglichen.

Zur Verbesserung psychischer Fähigkeiten werden verschiedene Strategien verfolgt, welche vor allem im Gehirn die Aktivität der Nervenzellen erhöhen sollen. Dabei wird vorrangig in den Stoffwechsel der aktivierenden Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin eingegriffen. Zur Stimmungsaufhellung wird auch in die Prozesskette von Serotonin eingegriffen. Insbesondere Amphetaminen, Methylphenidat (Handelsname Ritalin®), Modafinil und Levodopa wurden bislang kognitive leistungssteigernde Effekte bei Gesunden zugesprochen (Lieb 2010; Repantis/Heuser 2008). Eine genaue Betrachtung der Studienlage zeigt jedoch, dass es derzeit keine Belege dafür gibt, dass verfügbare Substanzen wirkungsvoll menschliche Leistungen steigern können und gleichzeitig nebenwirkungsarm sind (Sauter/Gerlinger 2012, S. 42ff.). Effekte lassen sich – wenn überhaupt – in Bezug auf einzelne kognitive Fähigkeiten (z. B. Aufmerksamkeit, Reaktionszeit) nachweisen, die in heutigen Ausbildungs- und Arbeitsumgebungen jedoch durchaus eine besondere Relevanz haben. Einiges spricht allerdings dafür, dass die bisher verfügbaren Substanzen lediglich in den Fällen leistungsrelevante Effekte hatten, in denen sich die Probanden in einer gewissen defizitären Ausgangssituation befanden. Bei Probanden mit einem hohen kognitiven Leistungsniveau führte eine zusätzliche Aktivierung des allgemeinen Wachheitszustands oder eine Erhöhung von Neurotransmitterkonzentrationen eher zu schlechteren Leistungen.

Ein Wirkungsnachweis, dass Psychopharmaka bei gesunden Menschen zu einer relevanten Leistungssteigerung führen können, ist bisher de facto also nicht erbracht. Das Nebenwirkungspotenzial der meisten Substanzen hingegen ist erheblich und wird oft erst nach jahrelanger Praxis in vollem Ausmaß deutlich. Dann aber führte es in der Vergangenheit immer wieder zur grundlegenden Revision der Nutzen-Risiko-Bewertung und entsprechenden Zulassungs- und Anwendungseinschränkungen, so bei den Amphetaminen, bei Methylphenidat und zuletzt bei Modafinil (Sauter/Gerlinger 2012, S. 64ff.).

Ob Nahrungsbestandteile in den Konzentrationen, in denen sie in Lebensmitteln enthalten sein dürfen, jenseits ernährungsphysiologischer auch spezifische leistungssteigernde Effekte haben können, ist sehr zweifelhaft. Wirksamkeits- und Werbeaussagen von Anbietern entsprechender Nahrungsergänzungsmittel konnten bisher in keinem Fall belegt werden. Für Substanzen aus dem Bereich der Heilpflanzen und Naturmedizin (z. B. Ginkgoextrakte) gibt es bisher ebenfalls keine anerkannten leistungsrelevanten Wirksamkeitsbelege. Unstrittig ist lediglich, dass in Ermüdungsphasen durch den Konsum von Kaffee oder Tee die körperliche Wachheit verbessert werden kann.

2    Regulierung und Verbreitung von Enhancementsubstanzen

Arzneimittel werden definiert als Stoffe oder Stoffgemische mit einer besonderen (pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen) Wirkung auf den menschlichen Organismus. Aufgrund der Wirkmächtigkeit der Stoffe und zum Schutz der Gesundheit gründet sich das Arzneimittelrecht auf ein „Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt“. Um Arzneimittel herstellen und in den Verkehr bringen zu dürfen, ist eine Zulassung erforderlich. Auch die für die Zulassung nötigen Arzneimittelstudien sind genehmigungspflichtig. Unabhängige Ethikkommissionen und die Zulassungsbehörden prüfen anhand international weitgehend gleicher ethischer Standards, deren Kern eine Abwägung des potenziellen Nutzens gegenüber dem Risiko, dem die Versuchsteilnehmer ausgesetzt sind, bildet. Das übliche Verfahren zur Bestimmung eines Nutzenkriteriums ist die Festlegung eines krankheitsrelevanten Zustands als Ausgangspunkt, von dem aus ein therapeutischer Effekt der Substanz belegt wird.

Diese fallspezifische, krankheitsbezogene Nutzen-Risiko-Abwägung stellt eine Barriere dar, welche die gezielte Erforschung möglicher Enhancementeigenschaften pharmakologischer Substanzen begrenzt. Diese Barriere ist jedoch nicht unüberwindbar, denn die therapeutische Nutzendefinition kann weit ausgelegt werden. So wird auch in den Grenzgebieten krankheitsrelevanter Zustände geforscht – z. B. zur eher präventiven Behandlung leichter Demenzen.

Auf welchem Weg eine pharmakologisch wirksame Substanz im Anschluss zum Verbraucher kommt, hängt von der Art der Verkehrsfähigkeit ab, die bei der Zulassungserteilung substanzbezogen festgelegt wird. Je nach Gefährdungspotenzial der Substanz wird der Zugang über ein abgestuftes „Gatekeepersystem“ (Apotheken, Ärzte) geregelt. Besonderes Augenmerk wird auf die Weitergabe von Wirkstoffinformationen durch die Hersteller gelegt. Diese müssen der Forschung und dem Gatekeepersystem umfassend zur Verfügung gestellt werden, Verbraucher sollen vor allem vor einseitigen (Wirkungs-)Aussagen geschützt werden (woraus Werbeeinschränkungen oder -verbote resultieren). Da Wirkungsaussagen wissenschaftlich belegt sein müssen und Enhancementwirkungen nicht direkt untersucht werden, sind entsprechende Aussagen in den Pflichtinformationen gegenwärtig gar nicht möglich.

In der Praxis findet man jedoch zahlreiche Umgehungsstrategien des Direktwerbeverbots, die darauf abzielen, eine Nachfrage nach leistungssteigernden Substanzen zu erzeugen. Am deutlichsten wird dies, wenn über Werbematerial körperliche und psychische Zustände systematisch pathologisiert und mögliche Verbesserungen in Aussicht gestellt werden. Für den Verbraucher ist es schwer bis unmöglich, in der Vielfalt von Angeboten neutrale und wissenschaftlich fundierte von einseitiger, unvollständiger oder falscher Information zu trennen.

Mit dem Gatekeepersystem soll sichergestellt werden, dass die Verwendung von Arzneimitteln mit möglichst geringen gesundheitlichen Risiken für den Verbraucher einhergeht. Es bietet aber keine Garantie, dass ein Arzneimittel nur im Rahmen der zugelassenen Indikation verwendet wird. Eine Substanz kann vielmehr prinzipiell auch jenseits der Zulassung („off label“), z. B. zu Enhancementzwecken, verwendet werden. Erste Analysen der Arzneimittelverordnungen von Methylphenidat und Modafinil liefern Hinweise, dass Off-Label-Verschreibungen wohl nicht nur Randerscheinungen sind (DAK 2009, S. 67ff.).

Im Krankheitsfall werden die Behandlungskosten weitgehend von den Krankenkassen übernommen (erster Gesundheitsmarkt). Durch die zunehmende Leistungsbeschränkung anhand der Kriterien „ausreichend, zweckmäßig und notwendig“ wird eine ungewollte Finanzierung von denkbaren Enhancementmaßnahmen stark begrenzt. Der Ausschluss aus dem ersten kann eine Verschiebung in den zweiten Gesundheitsmarkt – dem der Selbstzahler – bewirken, der insbesondere für Apotheker und Ärzte zunehmend betriebswirtschaftlich relevant wird. Allerdings stellen das vorhandene, teilweise erhebliche Nebenwirkungsspektrum von potenziellen Enhancementsubstanzen sowie das Dopingverbot des Arzneimittelgesetzes in Verbindung mit der existierenden Berufsethik klare Barrieren gegenüber einer großflächigen Ausdehnung möglicher Gefälligkeitsverschreibungen und -abgaben dar.

Diese bestehenden Barrieren erschweren zwar Enhancementpraktiken, vollständig verhindern können sie diese jedoch nicht. In Deutschland sind ca. 1,4 bis 1,9 Mio. Menschen von rezeptpflichtigen psychotropen Arzneimitteln abhängig, weitere 1,7 Mio. Personen werden als mittel- bis hochgradig gefährdet eingestuft (Bühren et al. 2007). Es ist davon auszugehen, dass ein Teil dieser Personen ein solches Verhalten entwickelt, obwohl sie ursprünglich „nur“ ihre Leistungen in beruflichen Umgebungen zumindest erhalten, vielleicht auch verbessern wollten. Erste empirische Studien liefern Hinweise auf das Ausmaß der Verwendung pharmakologischer Substanzen zur Leistungssteigerung in Ausbildungs- und Arbeitsumgebungen. In einer Befragung von Berufstätigen im Auftrag der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK 2009) zum Thema „Doping am Arbeitsplatz“ gaben fünf Prozent der Befragten an, dass sie selbst schon potente Arzneimittel ohne medizinische Notwendigkeit genommen hatten, 2,2 Prozent taten dies häufig bis regelmäßig. In einer Befragung von Schülern und Studenten in Deutschland gaben 1,5 Prozent der Schüler und 0,8 Prozent der Studenten an, schon einmal rezeptpflichtige Arzneimittel zu Enhancementzwecken eingenommen zu haben (Franke et al. 2011). In einer weiteren Befragung von knapp 8.000 Studierenden durch das HIS-Institut für Hochschulforschung wurden ähnliche Werte gefunden (Middendorff et al. 2012), wie auch in einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts mit einer Gesamtbevölkerungsstichprobe (Schilling et al. 2012). Dietz et al. (2013) hingegen kamen mit anonymisierter Befragungstechnik bei Studierenden zu weitaus höheren Werten von ca. 20 Prozent. Da hierbei außer verschreibungspflichtigen Medikamenten und illegalen Substanzen auch Koffeintabletten miteingeschlossen waren, sollte die Bewertung dieser hohen Zahl sicher vorsichtig erfolgen. Sie deutet aber tendenziell in Richtung früherer Studentenbefragungen in den USA, bei denen ca. 7 % die Nutzung von Enhancementmitteln bestätigten (McCabe et al. 2005; Teter et al. 2005).

3    Liberalisierung von Enhancementmitteln – warum und wie?

Die bioethische und öffentliche Debatte zum (pharmakologischen) Enhancement wurde im Rahmen des TAB-Projekts vor allem dahingehend analysiert, welche aktuelle und mittelfristige gesellschaftliche und politische Relevanz daraus abgeleitet werden kann (Sauter/Gerlinger 2012, S. 187ff.). Die wichtigsten Konsequenzen könnten aus Forderungen nach einem liberaleren Umgang mit vorhandenen und zukünftigen leistungssteigernden Substanzen und nach einer systematischen Erforschung der längerfristigen Folgen ihres Gebrauchs resultieren (Galert et al. 2009; Greely et al. 2008). Diese Forderungen haben sowohl international als auch national die öffentliche Debatte erst richtig forciert und zu Überlegungen bezüglich möglicher Regulierungsoptionen geführt (Coenen et al. 2009).

Anknüpfend an die Ausgangsannahme der ethischen Debatte, dass es zumindest zukünftig Substanzen geben könnte, die bei Gesunden spezifisch leistungssteigernd wirken und gleichzeitig nebenwirkungsarm sind, wird im TAB-Bericht in Form eines Erweiterungsszenarios der Frage nachgegangen, wie diese Substanzen vom medizinisch-pharmakologischen Innovationssystem hervorgebracht werden könnten (Sauter/Gerlinger 2012, S. 221ff.). Grundsätzlich erscheint es zwar unwahrscheinlich, dass Stoffe starke, spezifische Effekte auf relevante psychische Fähigkeiten ausüben können, ohne gleichzeitig andere physische oder psychische Prozesse negativ zu beeinflussen, doch bleibt dies letztlich nur eine – wenn auch wissenschaftlich plausible – Annahme und keine Gewissheit.

Das Erweiterungsszenario geht angesichts der bestehenden Restriktionen für die Erforschung und Vermarktung von Pharmaka zur nichttherapeutischen Leistungssteigerung von der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen vor allem bei den Zulassungskriterien für Arzneimittel aus, an denen sich die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Pharmaunternehmen orientieren. Entscheidend wäre die Anerkennung der Leistungssteigerung bei Gesunden als Nutzendimension – und damit die Schaffung einer neuen Zulassungskategorie bzw. -indikation nichttherapeutischer Pharmaka. Die Etablierung einer eigenständigen Produktgruppe außerhalb der Arzneimittelgesetzgebung erscheint hingegen rechtlich und politisch unrealistisch.

Für die Etablierung der nichttherapeutischen, leistungssteigernden Wirkung bei Gesunden als Nutzenkriterium bedürfte es wegen der damit vollzogenen grundsätzlichen Änderung der Arzneimittelzulassungslogik eines klaren politischen Willens, der wiederum überzeugende, starke Argumente für den gesellschaftlichen Wert pharmakologischer Leistungssteigerung voraussetzen würde. Bevor sich eine befürwortende Meinung bei relevanten gesellschaftlichen Akteuren bilden könnte, müssten sicherlich belastbarere Hinweise als heute auf (zukünftige) potente, nebenwirkungsarme Substanzen vorliegen. Diese könnten entweder im Zuge der bislang begrenzt durchgeführten legalen und halblegalen Forschung unter den jetzigen Rahmenbedingungen in Europa, den USA und Japan oder aber durch verstärkte Aktivitäten in wirtschaftlich und wissenschaftlich zunehmend potenten Staaten mit weniger restriktiver Regulierung gewonnen werden.

4    Medikalisierung der Leistung: Lehren aus dem Sport

Der größte Wissensbestand zu den Effekten einer pharmakologischen Beeinflussung der Leistungsfähigkeit resultiert aus der Forschung zum Doping im Sport als demjenigen gesellschaftlichen Teilsystem, in dem einerseits messbare Leistung der zentrale Bewertungsmaßstab ist und andererseits eine systematische Leistungsbeeinflussung durch Training, Technologie und pharmakologische Wirkstoffe erfolgt. Auch wenn insbesondere der Hochleistungssport eine Vielzahl spezifischer Systembedingungen sozialer, rechtlicher und ethischer Art aufweist, drängt sich seine Analyse bei der Frage des Zusammenhangs zwischen (Hoch-)Leistungswillen, Leistungs(steigerungs)anforderungen und Systemeinflüssen geradezu auf. Dass mögliche Lehren aus der langjährigen Dopingpraxis im Sport in der Enhancementdebatte bislang eine untergeordnete Rolle gespielt haben, ist zumindest überraschend.

Die Analyse im Rahmen des TAB-Projekts hat gezeigt, wie erhellend eine nähere Befassung mit den Ursachen, Erscheinungsformen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Doping im Sport für ein Verständnis der möglichen Funktion von Enhancement in der „Leistungssteigerungsgesellschaft“ sein kann (hierzu und zum Folgenden: Singler 2012). Eine wichtige Parallele zwischen Enhancement- und Dopingdebatte ist die Betonung der Verantwortung und der Autonomie des Einzelnen. Das Beispiel des Dopings im Leistungssport zeigt jedoch, wie systemgesteuert die Leistungsmanipulation ist und wie sie gleichzeitig das System in Frage stellt. Von besonderer Relevanz erscheinen dabei zwei Dynamiken: zum einen die des Zwangs zur Dosissteigerung trotz zunehmender Risiken und abnehmenden Nutzens für den Einzelnen und zum anderen die des „Drop-outs“, d. h. des Ausstiegs bzw. der Ausmusterung von Dopingunwilligen unter Athleten und Trainern. Beide wirken in Richtung einer (Selbst-)Zerstörung bzw. fundamentalen Schädigung des Systems Leistungssport – dessen innere Logik und Zielvorgaben sie erst hervorgebracht und befördert haben.

Insgesamt liefert die Befassung mit der Dopingproblematik kaum Argumente für die Plausibilität des rational agierenden, innovativen Nutzers, der gezielt, vorsichtig dosiert und nur über begrenzte Zeiträume ein leistungssteigerndes Mittel einnimmt und der damit wieder problemlos aufzuhören vermag – also den Typ des autonomen Enhancementanwenders, der in vielen Debatten das (Trug-)Bild der liberalen Fürsprecher bildet. Deutlich eher spricht die Erfahrung im Sport dafür, dass die meisten Nutzer pharmakologischer Substanzen versuchen, sich an Anforderungen anzupassen, von denen sie annehmen müssen, ihnen ohne die Hilfe dieser Mittel nicht gewachsen zu sein.

Beachtenswert erscheinen darüber hinaus Hinweise auf pathologische Aspekte der Hochleistung(sorientierung) als solche. Viele Menschen nehmen Dopingmittel ein, obwohl sie keine Leistungssportler sind (in Deutschland geschätzt ca. 1 Mio.). Dies spricht für eine zunehmend zumindest problematische, wenn nicht gar krankhafte Ausformung der gesellschaftlichen Leistungsorientierung. Das wenig diskutierte Phänomen der Sportsucht kann genauso wie zunehmende Fälle von Essstörungen als Teil weit verbreiteter Körperwahrnehmungs- und -umgangsstörungen verstanden werden.

Das Dopinggeschehen bietet insgesamt eine Fülle von Belegen dafür, dass eine Individualisierung der Ursachen, der Verantwortung, der Konsequenzen und möglicher Präventionsmaßnahmen unter Ausblendung der systemischen Bedingungen und Einflüsse hochgradig problemunangemessen und ethisch fragwürdig ist. Diese Einsicht erscheint mit Blick auf die Nutzung möglicher kognitiver Enhancementmittel in der Wettbewerbsgesellschaft von entscheidender Bedeutung. Eine pharmakologische Ausnutzung der letzten physischen und psychischen Reserven, um noch ein paar Prozent mehr Leistung zu bringen – das dürfte nur kurze Zeit klappen und kann keine nachhaltige Erfolgsstrategie sein – weder für den Einzelnen noch für eine Gruppe.

5    Handlungsfelder: Forschung, Regulierung, Verbraucherschutz

Forschungsbedarf besteht zunächst in einer fundierten Erhebung des Status quo der Nutzung von (vermeintlichen) Enhancementmitteln als Grundlage für die Abschätzung der weiteren Entwicklungen. Befragungen zum bewussten und gezielten Konsum von Arzneimitteln und/oder illegalen Substanzen sollten detailliert nach Substanzen, sozialen Gruppen, beruflichen Kontexten und Lebenssituation differenzieren. Neben der quantitativen Untersuchung des „Ob“ und „Wie häufig“ wäre es wichtig zu erfahren, welche persönlichen und beruflichen, welche ökonomischen und sozialen Bedingungen das Nutzungsverhalten und die Akzeptanz der Substanzverwendung prägen. Das laufende Forschungsvorhaben „Einfluss psychischer Belastungen am Arbeitsplatz auf das ‚Neuroenhancement‘ – eine empirische Untersuchung an Erwerbstätigen“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin“[1] dürfte hierzu wichtige Ergebnisse liefern. Aus der Analyse des Sportdopings lassen sich darüber hinaus unterschiedliche Forschungsfragen ableiten – sowohl zu den Wechselwirkungen zwischen Leistungsorientierung, Substanzgebrauch und Suchtproblematik als auch zu den pathologischen Aspekten extremer Leistungs- und Körperorientierung und deren Bedingungsfaktoren.

Akuter Regelungsbedarf zum Tatbestand „pharmakologisches Enhancement“ ist hingegen nicht erkennbar, weil alle infrage kommenden Substanzen unter das Arzneimittel- und Betäubungsmittel- oder das Lebensmittelrecht fallen. Insbesondere die in der bioethischen Debatte immer wieder aufgebrachte Frage eines Substanz- oder Konsumverbots oder aber einer Freigabe von Enhancementmitteln stellt sich in keiner Weise. Rechtlicher Klärungsbedarf besteht am ehesten mit Blick auf das im Arzneimittelgesetz verankerte Dopingverbot, welches zum Schutz der Gesundheit das Inverkehrbringen und Verschreiben von Arzneimitteln bislang ausschließlich zu Dopingzwecken im Sport verbietet (§ 6a AMG). Sollte sich im Zuge der detaillierteren empirischen Erhebungen herausstellen, dass der Missbrauch von Arzneimitteln zur psychischen bzw. kognitiven Leistungssteigerung ein ähnlich großes Problem wie das zur physischen Leistungssteigerung darstellt, läge es nahe, eine Gleichstellung beider Vorgänge im Arzneimittelgesetz zu prüfen.

Eine gewisse regulative Unschärfe besteht darüber hinaus bei der therapeutischen Nutzendefinition einerseits als Legitimation klinischer Forschung und späterer Zulassung von Arzneimitteln sowie andererseits als Kriterium für die Erstattung durch Krankenkassen. Substanzen können bereits heute zugelassen, aber aus dem Leistungskatalog insbesondere der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen werden (z. B. Viagra). Als Konsequenz wird vermutlich eine wachsende Zahl von Substanzen vorwiegend auf dem zweiten Gesundheitsmarkt umgesetzt, dessen Erfassungs- und Kontrollmechanismen weniger strikt als die des ersten sind. Mit Blick auf mögliche Enhancementtendenzen wäre daher eine systematische, transparente und detaillierte Erhebung der Verschreibungen und Umsätze notwendig.

Die vielfältigen, neuartigen Informations- bzw. Werbestrategien besonders im Internet ermöglichen regelmäßig neue und oft auch unlautere Geschäftspraktiken. Die bisherigen Maßnahmen der Verbraucherinformation können keinen adäquaten und wirksamen Verbraucherschutz gewährleisten. Daher wäre es nötig, ein Gegengewicht zu interessengeleiteten Werbeaussagen und unübersichtlichen Internetinformationen zu schaffen und Verbraucher verständlich, neutral, umfassend und vertrauenswürdig über Wirkungs-, Nichtwirkungs- und Nebenwirkungsaussagen sowohl von Lebensmitteln als auch von Arzneimitteln zu informieren.

6    Zukünftige Aufgaben für TA

Dass Leistung und Leistungserbringung in modernen Gesellschaften ein zentraler Faktor und Maßstab sind, dürfte unstrittig sein, und angesichts der globalen Zukunftsprobleme und -herausforderungen erscheint die Abkehr von der Leistungsgesellschaft weder realistisch noch mehrheitsfähig. Sinnvoll und angemessen aber wären Fragen zur Ausgestaltung der Leistungserwartung und zum Umgang mit gesellschaftlich unterschiedlich verteilten Leistungsniveaus: Welche Art von Leistung – ökonomisch, sozial, kulturell – wird gesellschaftlich wertgeschätzt und von wem und wie entlohnt? Wie stark sollen Leistungsanforderungen standardisiert werden, und wie viel Platz ist für individuelle Unterschiede? Wo und wie werden Grenzen der vertretbaren Leistungssteigerung sichtbar, und wie kann ihr Überschreiten vermieden werden? Gibt es Alternativen z. B. im Bereich der Arbeitsorganisation zur kontinuierlichen Erhöhung von Anforderungen an die Leistungsbereitschaft des Einzelnen? Inwiefern ist eine Verdichtung und Verkürzung der schulischen und beruflichen Ausbildung auch in Anbetracht der kontinuierlich steigenden Lebenserwartung sinnvoll und notwendig?

Die vorrangige gesellschaftliche und politische Relevanz von Enhancement erschließt sich unserer Analyse zufolge nicht aus dessen Verständnis als Teil einer wissenschaftlich-technisch fundierten „Verbesserung des Menschen“, sondern daraus, dass pharmakologische Interventionen zur Leistungssteigerung Teil einer „Medikalisierung der Leistungs(steigerungs)gesellschaft“ sind.

Die Befassung des TAB mit möglichen Technikzukünften (Grunwald 2012) von „Enhancement“ mündet in eine sehr weit gehende Entzauberung der pharmakologischen Strategien. Die Plausibilitätsabschätzung der wissenschaftlich-technischen Machbarkeit in Verbindung mit einer Diskussion möglicher gesellschaftlicher und politischer Implikationen führt zu einem realitätsbezogenen „Vision Assessment“ (Ferrari et al. 2012), das den Blick auf aktuelle sozioökonomische Probleme und die Suche nach politischen und gesellschaftlichen Optionen zu deren Lösung bzw. Abschwächung gerichtet.

Wenn sich in Zukunft stärkere Hinweise als bislang auf spezifische, leistungssteigernde Wirkungen ohne relevante unerwünschte Nebenwirkungen ergeben, dürften gleichwohl Stimmen laut werden, die eine systematischere Erforschung von Enhancementmitteln fordern. Mit Blick auf die öffentliche Forschungsförderung stellt sich spätestens dann die Frage, ob dies wirklich eine gewünschte Verwendung von öffentlichen Ressourcen darstellt, und angesichts des oben skizzierten nötigen Paradigmenwechsels in der medizinischen Forschung müsste hierzu ein umfassender gesellschaftlicher Meinungsbildungsprozess initiiert werden.

Anmerkung

[1]  Siehe dazu http://www.baua.de/de/Forschung/Forschungsprojekte-/f2283.html.

Literatur

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