Szenarien für mehr Selbstverantwortung und Wahlfreiheit im Gesundheitswesen. Eine Studie der TA-Akademie Stuttgart

Ergebnisse von TA-Projekten - Neue TA-Projekte

Szenarien für mehr Selbstverantwortung und Wahlfreiheit im Gesundheitswesen

von Lars Thielmann, Manfred Rohr und Diethard Schade, Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg

Seit Jahren wird über eine grundlegende Reform der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gestritten. Während über die Reformbedürftigkeit, insbesondere aufgrund der demographischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts, Konsens besteht, erweisen sich bislang alle tatsächlich umgesetzten Maßnahmen als nur vorläufig. Ursächlich dafür ist vor allem der Unwillen der diversen Interessengruppen (Ärzteschaft, Krankenkassen, Pharmaindustrie, Parteien) wirklich eine umfassende Strukturreform anzugehen. Stattdessen wird bisher vorwiegend eine stets nur kurzfristig wirksame Kostendämpfungspolitik betrieben. Vorgeblich geht es dabei allen Beteiligten um das Wohl der Patienten. Doch gerade deren Perspektive kommt in den Reformdebatten nahezu nicht vor. Vor diesem Hintergrund werden von der TA-Akademie Reformszenarien entworfen. Diese Szenarien beinhalten nutzerorientierte Maßnahmen, die sowohl die Selbstverantwortung der Patienten und Versicherten stärken und ihnen mehr Wahlmöglichkeiten einräumen als auch die kontinuierliche Integration medizinischer Innovationen in der GKV gewährleisten sollen.

Die TA-Akademie hat mit dem Projekt "Szenarien für mehr Selbstverantwortung und Wahlfreiheit im Gesundheitswesen" aus den Erhebungen zur Dokumentation "Technikfolgenforschung in Baden-Württemberg" resultierende Anregungen ihres wissenschaftlichen Netzwerkes zu Forschungsbedarf im Bereich Medizin und Gesundheit sowie Empfehlungen ihres Kuratoriums aufgegriffen, sich mit dem Gesundheitssystem zu befassen. Im Ergebnis eines Expertenworkshops sieht die TA-Akademie dabei ihren möglichen Beitrag insbesondere in der Initiierung eines gesellschaftlichen Diskurses über die Ziele und Entwicklungsperspektiven des Gesundheitssystems, insbesondere im Hinblick auf die Gestaltung von effektiven Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten von Patienten, Versicherten und Bürgern (Rohr, Schade 2000).

Das Projekt wurde von seiner inhaltlichen Ausrichtung her weniger im Sinne eines klassischen Health Technology Assessment (HTA) angelegt, sondern betrachtet das Gesundheitswesen als Infrastruktursystem und dessen Reformoptionen und perspektivische Entwicklungsmöglichkeiten bewusst aus der Perspektive der Nutzer - der wichtigsten Gruppe im System.

Das zunächst über zwei Jahre laufende Projekt wird durch das Sozialministerium Baden-Württemberg, die Landesärztekammer Baden-Württemberg sowie die Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung finanziert und von einem Projektbeirat begleitet, dem alle maßgeblichen Akteure des Gesundheitswesens in Baden-Württemberg angehören.

Am Nutzer orientieren

Wenn die Bürger in der Debatte um die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den Blick genommen werden, dann fallen zumeist die Stichworte "Selbstverantwortung" und "Wahlmöglichkeit". Doch schaut man genauer hin, so findet man eine Beschränkung dieser Begriffe auf finanzielle Selbstbeteiligung und verminderten Leistungskatalog. Im Projekt hingegen geht es nicht um derartige Finanzierungsfragen, sondern um eine zukünftige Struktur der GKV.

Wie kann die Selbstverantwortung der Nutzer gestärkt werden? Wie können ihre Freiräume durch größere Wahlfreiheit erweitert werden? Dies sind die Leitfragen des Projekts. Die Reformperspektive ist also Nutzer-orientiert. Als umfassenderes Reformparadigma dient dabei "Citizenship": Die Fähigkeiten der Bürger sollen gestärkt werden. Denn die Paradigmen "Beitragssatzstabilität" oder "Consumerism" (Stärkung der Kompetenz der Kunden) greifen zu kurz (Kendall 2001).

Selbstverantwortung stärken

Um selbstverantwortlich handeln zu können, benötigen die Bürger Informationen. Dabei unterscheiden sich ihre Informationsbedürfnisse und Interessen je nach der Rolle, in der sie agieren. Patienten benötigen vor allem Informationen über Therapiemöglichkeiten, die Leistungsanbieter und die Qualität der Leistungen, während Versicherte sich für die Leistungen und Beitragssätze ihrer Krankenkassen interessieren (Thielmann, Rohr, Schade 2002). Um Informationsangebote sinnvoll nutzen zu können, müssen diese das gesamte System für die Nutzer, aber auch für die verschiedenen Leistungsanbieter transparent machen.

In einem ersten Szenario "Der informierte Patient" schlagen wir daher die Schaffung von Informationssystemen über Leistungen und deren Kosten sowie über ambulante und stationäre Leistungsanbieter vor. Ergänzend müsste das Werbeverbot für Ärzte und Krankenhäuser gelockert werden. Diese Informationssysteme könnten in einer "Stiftung Gesundheitstest" zusammengefasst und institutionalisiert werden. Einer solchen Stiftung sind Mitspracherechte bei der Ausgestaltung der GKV einzuräumen. Weitere Institutionen (Patientenberatungsstellen, Patientenrechtegesetz) treten hinzu (Dierks et al. 2001). Die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen wird Mehrkosten für die GKV bewirken. Von Einsparpotentialen kann, zumindest kurz- bis mittelfristig, nicht ausgegangen werden.

Wahlmöglichkeiten schaffen

Menschen, die besser informiert sind, lernen Alternativen kennen. Sie erfahren von verschiedenen Therapiemöglichkeiten und anderen Leistungsanbietern. Folglich werden sie vermehrt diese Alternativen nachfragen und so auf mehr Wahlmöglichkeiten bestehen. Während die freie Arztwahl seit langem in der GKV möglich ist und das Recht auf freie Wahl der Krankenkasse seit 1996 für alle Versicherten gilt, besteht eine solche Wahlmöglichkeit bezüglich der Leistungen im Rahmen der GKV bisher nicht. Dafür müssen die Bürger private Zusatzversicherungen abschließen.

Darum schlagen wir in einem zweiten Szenario "Der informierte Patient und wahlfreie Versicherte" zusätzlich eine Differenzierung des bisherigen GKV-Leistungskatalogs in Grund- und (konsumnähere) Satzungsleistungen vor. Während der Grundleistungskatalog bundeseinheitlich gilt und von der gesamten GKV-Versichertengemeinschaft solidarisch finanziert wird, werden die Satzungsleistungen von den einzelnen Kassen angeboten und nur von deren Versicherten solidarisch finanziert. Die Abgrenzung zu den Wahl-(Komfort)leistungen der privaten Krankenversicherung bleibt bestehen. Durch die Differenzierung des GKV-Leistungskatalogs können die Präferenzen der Versicherten bessere Berücksichtigung finden. Sie können sich für die Kasse mit dem von ihnen bevorzugten Satzungsleistungspaket entscheiden oder aber auch die Satzungsleistungen gegen eine Beitragsreduktion abwählen (Wille 2001). Wenn jedoch keine absichernden Maßnahmen (z. B. Kontrahierungszwang der Kassen, Anreize für das Anbieten von Satzungsleistungen) hinzutreten, könnte es zu unerwünschten Effekten kommen, woraus letztlich nur ein gegenüber heute verminderter Leistungskatalog resultieren würde, d. h. die Wahlmöglichkeiten der Versicherten würden de facto sogar geringer.

Wettbewerbliche Elemente einführen

Unter dem derzeitigen Vertragssystem in der GKV, in dem Kollektivverträge einheitlich und gemeinsam von allen Beteiligten abgeschlossen werden müssen, lässt sich eine Erweiterung der Wahlmöglichkeiten im Leistungsbereich nicht realisieren. Die Kartelle der ambulanten und stationären Anbieter und der Krankenkassen erweisen sich als das größte Hemmnis für eine zukunftsfähige Reform zum Nutzen der Patienten und Versicherten. Die Folgen eines Beharrens auf den bisherigen Strukturen bekommen die Patienten schon tagtäglich in Form einer impliziten Rationierung zu spüren, und für die Versicherten steigen die Beitragssätze unaufhaltsam.

So erscheint es dringend geboten, die Vertragsstrukturen aufzubrechen und wettbewerbliche Elemente einzuführen. Aufgrund eines Wettbewerbs zwischen Leistungsanbietern über Qualität und Preis käme es zu einem Kassenwettbewerb auf der Leistungsseite. Dabei ist von einem Verschwinden von Leistungsanbietern und Kassen aus dem Markt auszugehen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen wären zur Disposition zu stellen. Ihre regulativen Funktionen könnten auf die Ärztekammern übergehen. Ein "Preiskorridor" aus Mindestvergütung und Erstattungsobergrenze, dessen Einhaltung ebenso wie die Gewährleistung eines Grundleistungskataloges durch eine gesetzliche Aufsicht zu garantieren ist, verhindert die Dominanz einzelner Marktteilnehmer. Erst ein solches drittes Szenario "Der informierte Patient und wahlfreie Versicherte in wettbewerblichen Strukturen" vermag die Selbstverantwortung der Nutzer nachhaltig zu stärken und ihre Freiräume zu erweitern.

Ausblick

Die Reformszenarien sind in den wesentlichen Punkten entwickelt und werden bis Mitte des Jahres in einer Pilotstudie der TA-Akademie detailliert ausgearbeitet. Diese Studie bildet die Grundlage für eine anschließende Diskussion mit Experten und maßgeblichen Akteuren des Gesundheitswesens sowie für einen gesellschaftlichen Diskursprozess, in dem die Projektergebnisse in die breite Öffentlichkeit vermittelt werden.

Literatur

Dierks, M.-L.; Bitzer, E.-M.; Lerch, M.; Martin, S.; Röseler, S.; Schienkiewietz, A.; Siebeneick, S.; Schwartz, F.-W., 2001:
Patientensouveränität - Der autonome Patient im Mittelpunkt. Arbeitsbericht Nr. 195 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, Stuttgart, August 2001

Kendall, L., 2001:
The future patient. London: The Institute for Public Policy Research

Rohr, M.; Schade, D., 2000:
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen. Ergebnisse des Workshops zu Forschungsbedarf im Bereich Medizin und Gesundheit. Arbeitsbericht Nr. 176 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, Stuttgart, September 2000

Thielmann, L.; Rohr, M.; Schade, D., 2002:
Der Nutzer im Gesundheitswesen. In: TA-Informationen 1/2002, Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, Stuttgart, S. 9-12

Wille, E., 2001:
Basis- und Zusatzversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Arbeitsbericht Nr. 195 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, Stuttgart, Dezember 2001

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