Tagungsberichte und Tagungsankündigungen
Internationale Konferenz: "Rationalität heute - Vorstellungen, Wandlungen, Herausforderungen"
Rationalität heute - Vorstellungen, Wandlungen, Herausforderungen
Ustron, Polen, 24. - 25. September 2001
Konferenzbericht von Gerhard Zecha, Institut für Philosophie der Universität Salzburg
Die Vielfalt der Arten, Aspekte und Perspektiven von Rationalität kann ein wenig durch die folgenden Begriffe umrissen werden: Gesellschaftliche Rationalität, individuelle, kollektive, technische Rationalität, philosophische, metaphysische, wissenschaftliche, ökonomische, ökologische, kritische Rationalität, empirische, normative, relationale, prozedurale, reflexive, diskursive Rationalität, europäische, chinesische, postmoderne, aufgeklärte, instrumentelle Rationalität, verantwortete Rationalität, Zweck-Mittel- Rationalität, formale Rationalität, rational vs. irrational vs. non-rational; rational vs. rationalistisch. Diese Liste ist nicht vollständig, aber sie zählt doch etliche der Ausdrücke auf, deren Bedeutung, Wandel und Herausforderungen auf einer internationalen philosophischen Konferenz vom 24. bis 25. September 2001 in Ustron (Polen) diskutiert wurden.
Das Institut für Philosophie der Schlesischen Universität Katowice (Polen) hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Forschungszentrums Karlsruhe (FZK) diese Konferenz mit dem Ziel organisiert, die Vielfalt von Rationalitätskonzepten vor allem in Philosophie, Wissenschaft und Technik darzustellen, deren Probleme, Anwendungsmöglichkeiten und daraus folgende Herausforderungen aufzuweisen und in kritischer Diskussion zu erörtern. Professor Dr. Andrzej Kiepas, Direktor des Instituts für Philosophie der Schlesischen Universität, hatte gemeinsam mit Dr. habil. Andrzej Noras ein Konferenzprogramm ausgearbeitet, das systematische wie historische, deskriptive wie normative sowie wissenschaftliche und gesellschaftliche Bezüge aufwies.
Am Beginn der Konferenz stand die Plenarsitzung "Heutige Grundfragen der Rationalität" , die mit dem Vortrag "Rationale Gestaltbarkeit von Technik oder blinde Evolution?" von Professor Dr. Armin Grunwald (ITAS Karlsruhe) eröffnet wurde. Mit klaren Begriffsdifferenzierungen von "Teilnehmer" vs. "Beobachter" von Gestaltungsprozessen, von ex ante- vs. ex post-Perspektiven bot er eine sorgfältige Analyse, die zur Herausarbeitung der wesentlichen Elemente rationaler Gestaltbarkeit führte, nämlich Relationalität, Prozeduralität und Reflexivität. Die Gestaltbarkeit der Technik durch die Gesellschaft ist auf rationalem Wege möglich, muss aber einen Komplex von Normen und Wertgesichtspunkten berücksichtigen, um nicht in einen blinden Relativismus oder in zweckfremden Diskurs abzugleiten. Gotthard Bechmann (ITAS, Karlsruhe) sprach zum Thema "Globalisierung, kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche Rationalität", wobei er zunächst die Fragwürdigkeit des Rationalitätsbegriffes heute betonte, diese aber mit einer scharfen Differenzierung dieses Begriffes nach Max Weber und Jürgen Habermas zu überwinden versuchte. Das Ergebnis dieser Analyse zeigte vor allem Probleme dieser Ansätze auf, deren Kernpunkt er in der totalen Relativierung von Rationalität und Rationalitätsverantwortung sah. Professor Dr. Gerhard Zecha (Universität Salzburg) konzentrierte sich in seinem Beitrag "Das Grundprinzip rationaler Kritik: Aus Fehlern lernen" auf die methodischen Schritte des Kritisierens nach dem Falsifikationsbegriff des Kritischen Rationalismus (Karl Popper), die insofern kritisch rational genannt werden können, als Kritikobjekt, Kritikinstrument, dessen Begründung mit abschließender Bewertung in fairer Berücksichtigung des Sachkontextes klar formuliert und überprüfbar sein müssen.
Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen von gesellschaftlicher, diskursiver und methodologischer Rationalität erläuterte Professor Dr. Siegfried Wollgast (Dresden) aus historischer Sicht den "Wandel von Rationalitätsvorstellungen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert". In einem kühnen Überblick über die Geistesgeschichte Europas wandte er sich vor allem gegen die Dichotomie "Rationalität - Irrationalität", indem er an deren Stelle die Trias "Glaube - Liebe - Hoffnung" stellte. Der Aufweis der Vielschichtigkeit dieser Ausdrücke, in der Aufklärungsbewegung oft falsch verstanden oder abhanden gekommen, führte ihn nicht nur zur These "Die Aufklärung ist ihre eigene Negation!", sondern auch zur Empfehlung, im Umgang mit der Rationalität einen Mittelweg zwischen der superbia intellectus und des sacrificium intellectus zu suchen (d. h. einen Mittelweg zwischen Überschätzung und Unterschätzung der Vernunft). Dr. Otto Neumaier (Universität Salzburg) griff in seinem Referat "Aufgeklärte Aufklärung" auf Immanuel Kant zurück, um dann über die Gesellschaftsanalyse der Denker der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zur Aufklärung in unserer Zeit überzugehen. Dabei war er bemüht, über den Bereich philosophischer und wissenschaftlicher Rationalität hinaus die Grenzen der Vernunft heute aufzuzeigen, wozu er illustrative Beispiele aus der Anthropologie, der Kunst und dem aktuellen Zeitgeschehen brachte. Im Bewusstsein dieser Grenzen soll aufgeklärte Rationalität nicht einer utopischen "Wieder-Verzauberung der Welt", sondern durch Erkenntnisfortschritt dem friedlichen Zusammenleben der Menschen dienen.
Nach der Besprechung der Grundfragen der Rationalität heute wurde die Thematik detailliert in mehreren Sektionen weiter behandelt. Es ist hier nicht möglich, auch nur in Kürze die wichtigsten inhaltlichen Ergebnisse der zum Teil auf hohem Niveau stehenden Vorträge und Diskussionen zu beschreiben. Zur Illustration seien lediglich einige Beispiele aus dem umfänglichen Angebot ausgewählt.
In der Sektion I "Rationalität - Tradition und heutige Probleme" (Leitung: Professor Dr. Armin Grunwald und Gotthard Bechmann) erläuterte Professor Dr. Gerhard Banse (ITAS, Karlsruhe) zunächst den rationalen "Umgang mit Ungewissheit", während Professor Dr. Andrzej Kiepas (Schlesische Universität Katowice) den Zusammenhang von "Rationalität und Verantwortung von Wissenschaft und Technik in der Zeit der Globalisierung" erläuterte. Dabei betonte er, dass mit der schnellen technischen Entwicklung auch die moralischen Probleme in der Gesellschaft zunehmen. Die Rolle der technologischen Rationalität erstreckt sich vor allem auf die neuen Funktionsweisen der Technik und auf die Finalisierung der Wissenschaft. Daraus ergeben sich nicht nur Forderungen nach mehr Sensibilität, Toleranz und Offenheit, sondern auch nach einer Kontrolle der Technologie in der Gesellschaft durch eine "partizipative Technikfolgenabschätzung". Neben diesen aktuellen Problemen wurden auch historische Entwicklungen und Standpunkte in einem sehr breiten Spektrum dargeboten. Dr. Dariusz Olesinski (Universität Katowice) setzte sich mit antiker Rationalität bei Platon, Aristoteles und Plotin auseinander, während Mag. Piotr Warych (Universität Poznan) chinesischer Rationalität im Vergleich zur westlichen nachspürte, Dr. habil. Andrzej Noras Rationalität in der Philosophie Husserls skizzierte und Professor Dr. B Andrzejewski (Universität Poznan) sich mit dem Rationalitätsmodell Ernst Cassirers auseinandersetzte. Aber auch neueste Phänomene wurden auf Rationalität hin untersucht. Dr. Grazyna Zurowska-Krakowska (Universität Lublin) diskutierte beispielsweise die Frage, ob der Postmodernismus eine neue Form von Rationalität sei.
In der Sektion II "Rationalität - normative Grundlagen und epistemologische Aspekte" (Leitung Professor Dr. Gerhard Banse und Professor Dr. Gerhard Zecha) wurden zunächst die erkenntnis- und werttheoretischen Bedingungen rationaler Erkenntnis ausgelotet. Professor Dr. Lech Ostasz (Universität Olsztyn) präzisierte den Intentionalitätsbegriff, der für viele Rationalitätsbegriffe wesentlich ist, durch eine vierfache Differenzierung. Doz. Dr. Heinrich Ganthaler (Universität Salzburg) gab eine eingeschränkt bejahende Antwort auf die Frage "Sind moralische Sätze rational begründbar?". Dr. Manthias Gutmann (Universität Marburg) gab eine vielschichtige Deutung hermeneutischer Rationalität, die nicht nur den hermeneutischen Zirkel umfasst, sondern auch mehrere Zwischenstufen in der Zweck-Mittel-Rationalität unterscheidet. Das letzte Zitat in seinem Referat: "Was könnte der Mensch besser begreifen als das, was er selbst geschaffen hat?" wurde in der Diskussion freilich nicht ohne Widerrede hingenommen. Mit seinem wissenschaftstheoretischen Beitrag "Die Grenzen der Rationalität in der Wissenschaft - Schweigegebiete ("tacit areas") der intellektuellen Tradition" ging Dr. Marek Perek (PH Czestochowa) auf eine bisher wenig beachtete Art von paradigmatischer Rationalität für die Forschung ein und deutete passende Anwendungsbeispiele aus der Geschichte der Wissenschaften an. Dr. W. Czajkowski (Technische Universität Gliwice) untersuchte die Beziehungen zwischen "Individueller und kollektiver Rationalität", während Dr. Gabriela Besler (Universität Katowice) aus aristotelisch-thomistischer Sicht die Grundlagen metaphysischer Rationalität darstellte. Dass diese heute eher antiquiert erscheinenden metaphysischen Betrachtungen aber zeitlos relevant und anwendbar sind, zeigte sich in den Diskussionen zu den abschließenden Referaten, in denen unterschiedliche Rationalitätsmodelle auf ökonomische bzw. ökologische Probleme angewandt wurden. Mgr. Monika Beköova und Doz. Dr. Pavel Fobel (Universität Banská Bystrica) beschrieben den Homo oeconomicus aus der Sicht mehrerer Kulturtypen, womit sie versuchten, dem klassischen Prinzip ökonomischer Rationalität der Nutzenmaximierung für das Individuum die These entgegenzustellen, dass ein Mensch, der gezwungen ist, gegen seine inneren Werte zu entscheiden, nicht rational entscheiden wird. Demnach spielen die Werte der Kultur, Tradition und Weltanschauung eine nachhaltige Rolle bei der Anwendung ethischer Rationalität auf wirtschaftliche Entscheidungen. Schließlich führte Mag. Piotr Nowak (Universität Poznan) vor, dass in Verbindung mit den bedrohten Arten in der Natur die Vernunft besonders gefordert sei. Mit mannigfachen Beispielen unterstrich er die Aufgabe, unseren Planeten durch ökologische Rationalität zu retten. Dass ein solches Anliegen nicht nur auf Konferenzen diskutiert wird, sondern auch ins Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten gelangen kann, zeigte Dr. Käthe Friedrich (Brandenburgische Technische Universität Cottbus) in ihrem Beitrag "Menschenbild und Multimedia". In einem umfassenden Problemaufriss stellte sie die Mannigfaltigkeit der modernen Medien und ihrer Einflüsse dar und entwickelt daraus in systematischen Schritten vier Gebiete neuartiger Medienrationalität, die sich vor allem auf Medienkunde, Mediennutzung, Medienkritik und Mediengestaltung erstreckt. Die Forderung nach Einführung eines neuen Unterrichtsfaches in vielen Bildungsinstitutionen, das diese wichtigen Gebiete abdecken soll, ergab sich in der Diskussion zwangsläufig.
Bei all diesen Varianten von Rationalität und Rationalitätsvorstellungen, ihren Wandlungen und Herausforderungen ist es für Wissenschaftler und Philosophen letztlich doch entscheidend, sich auf die wesentlichen, gemeinsamen Charakteristika zu besinnen. Daher sei am Ende des Berichts noch besonders das Plenarreferat von Professor Dr. Wieslaw Sztumski (Universität Katowice) hervorgehoben, der sich die Frage stellte: "Wozu Rationalität?". Er legte eine klare Begriffsbestimmung vor, nach der Rationalität auf dem Kausalprinzip beruhe und folgende Merkmale aufweise: Sinnfälligkeit, Zweckmäßigkeit, Rentabilität sowie Vorhersagbarkeit. Im Hinblick auf das Ziel der Menschheit, das fundamental sei und jedes andere Ziel erst rational begründbar mache, kritisierte er [zu Recht!] das globale Ziel unserer Zeit "Sich bereichern und überleben!", mit dem das Haben vor das Sein gestellt werde. Er forderte die Anerkennung des Guten, die alle Formen von Rationalität zu echter Vernünftigkeit emporhebe und der rationalisierenden Relativität entgegenwirke.
Nach dieser intensiven und anregenden Orientierung im Bereich der Rationalität wird von den Organisatoren daran gedacht, eine jährliche Rationalitätskonferenz mit wechselnden Schwerpunkten zu organisieren. Für den Herbst 2003 wird der Themenkreis "Rationalität und Ethik" ins Auge gefasst.
Nähere Informationen sind zu erhalten am
Institut für Philosophie
Schlesische Universität
PL 40 007 Katowice
E-Mail: noras∂saba.wns.us.edu.pl