Embryonen zwischen Virtualisierung und Materialisierung - Kontroll- und Gestaltungswünsche an die technisierte Reproduktion

Schwerpunktthema - Genderforschung und Technikentwicklung

Embryonen zwischen Virtualisierung und Materialisierung - Kontroll- und Gestaltungswünsche an die technisierte Reproduktion

von Ingrid Schneider, Universität Hamburg

Die technisierte Reproduktion verheißt Hilfe bei unfreiwilliger Kinderlosigkeit und größere Kontrolle über die Fortpflanzung. Der Beitrag gibt zunächst einige Rahmendaten zur Entwicklung der In-vitro-Fertilisation (IVF) in der Bundesrepublik und zeigt vier Eingriffsebenen in die menschliche Reproduktion auf. Anhand der Fallbeispiele embryonale Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik (PID) wird dargelegt, wie Embryonen teils zu einer bloßen materiellen Substanz, teils zu virtuellen Objekten werden. Moderne Ansätze, welche sich auf die Kontrolle der Reproduktion zentrieren und postmoderne Tendenzen des Redesigns, der Transformation und des Umbaus des prokreativen Potenzials werden expliziert. Prognosen zur Erweiterung der Gendiagnostik am Embryo legen nahe, dass eine quantitative Zunahme in neue Qualitäten der Auswahl umschlagen kann. Abschließend wird auf einige soziale Implikationen der PID und die Brüche zwischen den Kontrollverheißungen und den ernüchternden technischen Machbarkeiten verwiesen.

1     Zur Entwicklung der Reproduktionsmedizin in der Bundesrepublik

Mit der 1978 in Großbritannien erstmals geglückten In-vitro-Fertilisation (IVF) setzte international eine schnelle Verbreitung dieses Verfahrens zur Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit ein. In Westdeutschland wurde 1982, in der DDR 1984 erstmals ein IVF- Kind geboren.

Während IVF anfangs als eine Art "Bypass" bei verschlossenen Eileitern der Frau betrachtet wurde, macht diese Indikation heute weit weniger als die Hälfte aller IVF-Versuche aus. Besonders rasant etabliert hat sich das ICSI- Verfahren (Intra-cytoplasmatische Spermieninjektion). Dabei wird eine einzelne Samenzelle direkt in die Eizelle injiziert. Indikation für ICSI ist die männliche Unfruchtbarkeit, die an der Frau behandelt wird. Fruchtbare Frauen unterziehen sich der IVF, um die genetische Vaterschaft ihres Partners sicherzustellen. Mittels ICSI hat sich der Fokus der Reproduktionsmedizin von der Frau zum Paar hin ausgerichtet, dem genetisch eigene Nachkommenschaft zuteil werden soll.

Die Behandlungszahlen für die IVF nahmen rasch zu. In Deutschland gibt es inzwischen über 100 Zentren, die IVF-Verfahren durchführen. Im Jahr 2000 wurden 63.318 IVF-Behandungszyklen an 38.442 Frauen dokumentiert. 1999 kam es bei 55.936 Behandlungen zu 8.131 Geburten von 10.321 Kindern. Die Erfolgsrate von Geburten nach begonnener technischer Kinderwunschbehandlung, gefasst als "Baby-take-home-rate", lag 1999 bei der IVF bei 14,72 %. Bei ICSI wurde die Baby-take-home-rate mit 16,12 % ausgewiesen. Wurden die befruchteten Eizellen vor der Übertragung kryokonserviert (d. h. tiefgekühlt), sank die Baby-take-home-rate auf 9,62 % (DIR 2001, S. 14).

Per assistierter Reproduktion werden derzeit in der Bundesrepublik gut ein Prozent aller Kinder erzeugt, sie beansprucht allerdings etwa zehn Prozent des Budgets der niedergelassenen Gynäkologen (vgl. Kentenich 2000). Hält der Expansionstrend der IVF an, so dürfte dies Verteilungskonflikte innerhalb der Fachärzteschaft für Frauenheilkunde und Geburtshilfe hervorrufen. Aus der schnellen Verbreitung von IVF läßt sich ableiten, daß es sich in erster Linie um eine angebotsinduzierte Technik handelt. Bei der Technikdiffusion spielte die Finanzierung der IVF durch die Krankenkassen eine nicht unwesentliche Rolle.

Andere Umgangsweisen mit ungewollter Kinderlosigkeit, sei es in Form psychotherapeutischer Beratung oder medizinischer Interventionen wie etwa chirurgische Eingriffe oder mittels naturheilkundlicher und umweltmedizinischer Verfahren wie z. B. Entgiftung, Akupunktur oder Homöopathie wurden allenfalls "komplementär" zur IVF in das Behandlungsprogramm selbst integriert, überwiegend jedoch marginalisiert.

Wenn der Wunsch nach genetisch eigenen Kindern aufgegeben wird, können Paare sich um eine Adoption, Pflegschaft oder andere Formen sozialer Elternschaft bemühen. Zu den Bewältigungsformen von unfreiwilliger Kinderlosigkeit kann auch der Abschied vom Kinderwunsch und die Entwicklung anderer Lösungen gehören, etwa indem die Zieldefinition "Lebenszufriedenheit" statt Kinderwunscherfüllung lautet und eine Schwangerschaft als "erwünschte Nebenwirkung" einer psychotherapeutischen Behandlung aufgefasst wird (vgl. Hölzle et al. 2000). Stichproben legen nahe, dass statt der IVF indes auch das "Abwarten" und Vertrauen auf eine spontane Schwangerschaft durchaus mit vergleichsweise hohen "Erfolgsraten" aufwarten kann. [1]

Bisher lehnt das Embryonenschutzgesetz [2] zusammen mit entsprechenden Regelungen des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen sowie Richtlinien der Bundesärztekammer die IVF weitgehend an das Modell der heterosexuellen Kernfamilie an und ist auf verheiratete Paare beschränkt. Das der IVF-Technologie inhärente Potenzial der Multiplizierung und Fragmentierung von Elternschaft (Verteilung von biologischer, genetischer und sozialer Elternschaft auf mehrere Personen) wurde regulatorisch ausgegrenzt und auf das homologe Modell restringiert. Mittlerweile ist allerdings gesellschaftlich eine Öffnung gegenüber der Zulassung nicht verheirateter Paare zur IVF und des Zugangs von lesbischen oder alleinstehenden Frauen zur heterologen Samenspende erkennbar (zu den damit aufgeworfenen familien- und zivilrechtlichen Fragen siehe BMG 2001).

Die mittels IVF eröffneten Möglichkeiten der genetischen Anlagenplanung des Nachwuchses und der Embryo-verbrauchenden Forschung wurden als "Mißbrauch" der Technik interpretiert und aus der Anwendungspraxis ausgeschlossen. Ausschließlicher Zweck der IVF sollte es sein, ungewollt Kinderlosen die Fortpflanzung zu ermöglichen. Derzeit wird allerdings um die "Lockerung" des Embryonenschutzgesetzes politisch vehement gestritten.

2     Von der Reproduktionsmedizin zur Reprogenetik

Analytisch lassen sich vier medizinische Eingriffsebenen in die menschliche Fortpflanzung mittels IVF identifizieren (vgl. Koch 1998, S. 21): 

Einerseits sind diese Ebenen als Steigerung in der Eingriffstiefe zu interpretieren - auf der vierten Stufe ist die der Selektion und der Manipulation des Erbguts erreicht und der Übergang zur Reprogenetik vollzogen. Andererseits können sich die einzelnen Ebenen überlagern und gegenseitig durchdringen, womit sich sowohl die technischen Möglichkeiten vervielfältigen, wie auch die damit verbundenen ethischen, rechtlichen und sozialen Problemstellungen. Was zuvor als biologisch "gegeben" galt, wird nun kontingent gesetzt. "Life Sciences" und "Biopolitik" erfordern eine Neu-Konzeptualisierung dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, alte Sicherheiten werden "in Klammern gesetzt" und neu verhandelt (vgl. Williams 1997, S. 1045). 

Mit der extrakorporalen Befruchtung wurden Eizellen und Embryonen in der Petrischale, außerhalb des Frauenkörpers, verfügbar. [3] Damit wurden Fragen aufgeworfen nach dem rechtlichen und moralischen Status von In-vitro-Embryonen und deren Position zu ihren Erzeugern, sowohl hinsichtlich des Paares wie auch des Arztes und der sie lagernden Institutionen (vgl. Backmann 2001). Bei kryokonservierten Embryonen ist offen, wie mit den Hinterlassenschaften zerbrochener Partnerschaften oder eines ad acta gelegten Kinderwunsches umzugehen ist, was nach dem Tod der Gametenurheber mit dem eingelagerten Keimgut geschehen soll und wie ggf. besitz- und eigentumsrechtliche Fragen geregelt werden (vgl. REM 2002, S 33-35; Schneider 2002d). Frühe Tests und Interventionsmöglichkeiten an Eizellen und Embryonen sind mittlerweile realisierbar geworden.

3     Reproduktionsmedizin zwischen moderner Kontrolle und postmoderner Gestaltung

Adele Clarke nimmt hinsichtlich ihrer Analyse der technischen Praktiken bezüglich reproduktiven Prozessen im vergangenen Jahrhundert eine Aufteilung in "moderne" und "postmoderne" Ansätze vor. Sie argumentiert, 

    "that modern approaches to reproductive bodies and processes were and remain centered on achieving and/or enhancing control over those bodies and processes (...). In contrast, postmodern approaches are centered on re/design and transformation of reproductive bodies and processes to achieve a variety of goals" (Clarke 1995, S. 140).

Sie verweist allerdings darauf, daß moderne nicht zwangsläufig von postmodernen Ansätzen abgelöst werden, sondern nebeneinander bestehen können. Wie ich später ausführen werde, ist die Präimplanationsdiagnostik (PID) vor allem einer "modernen" Logik der Erhöhung von Rationalität und Kontrolle über den Prozeß der Nachwuchsproduktion zuzuordnen. Den postmodernen Ansätzen wären hingegen sowohl die Neukombinationen von Gameten, die genetische Auswahl unter Embryonen und die Vervielfältigung von Elternschaften zuzurechnen, wie auch die Embryonenforschung und das "therapeutische" Klonen. Letztere charakterisieren die Tendenz, den menschlichen Körper und seine reproduktiven Potenziale zur Ressource für die biomedizinische Forschung und Praxis zu machen, ihn zu verwerten und umzubauen.

Derzeit konzentriert sich die Debatte in der Bundesrepublik vor allem auf die Zulassung der bisher verbotenen Präimplantationsdiagnostik und die embryonale Stammzellenforschung. Diese beiden Technologien sind deshalb so kontrovers, weil sie neue Pfade eröffnen, sowohl hinsichtlich der Etablierung einer Embryonenselektion wie auch hinsichtlich der verbrauchenden Embryonenforschung (vgl. Graumann 2001).

Im Gegensatz zu der breit geführten Debatte um den moralischen Status des Embryos und darüber, ob ein Wertungswiderspruch zwischen dem Embryonenschutzgesetz und dem § 218 des Strafgesetzbuches vorliegt, sollen hier andere Aspekte dieser beiden Verfahren diskutiert werden, welche vor allem die soziale Kontextuierung des Embryos in den Blick nehmen.

4     Der Embryo zwischen Virtualisierung und Verrohstofflichung

Blickt man auf die sozialwissenschaftliche Debatte um den Körper, so ist die Gleichzeitigkeit zweier scheinbar gegenläufiger Entwicklungen auszumachen: Wird einerseits ein "Verschwinden des Körpers" postuliert vermittels seiner Virtualisierung, seiner Auflösung in Hyperwelten, hinter Daten, Systemen, Texten, so wird andererseits der Körper als Ort der "letzten Gewissheiten", als Konkretion, als unhintergehbare Materialität, als hartes empirisches Faktum ins Feld geführt. Diese gegensätzlichen Diagnosen sind verwoben mit der Spannung zwischen modernen und postmodernen Theorieansätzen. Davis stellt mit Referenz auf Frank fest, 

    "it is precisely this use of the body for contradictory theoretical agendas which accounts for its current place of honour in contemporary social theory". (...) the tension between the body as ‚reference point in a world of flux and the epitome of that same flux''(...) is inherent in any perspective of the body. As such, it serves to fan the flames of controversy, thereby ensuring that the body remains a subject of ongoing theoretical concern for both modernist and postmodernist scholars alike" (Davis 1997, S. 4).

Dieses Spannungsverhältnis lässt sich auch auf den Embryo hin explizieren. In der öffentlichen Debatte sind Argumentationslinien der Subjektivierung wie auch der Entsubjektivierung des Embryos erkennbar. Diese überschneiden sich mit Tendenzen sowohl des Verschwindens der stofflichen, materiellen Existenz des Embryos einerseits wie der Materialisierung des Embryos andererseits. Anhand der embryonalen Stammzellenforschung und der Präimplantationsdiagnostik sollen diese Logiken verdeutlicht werden.

4.1     Embryonale Stammzellenforschung - die Verrohstofflichung des Embryos

Während der PID eine widersprüchliche Tendenz von Subjektivierung und Entsubjektivierung des Embryos innewohnt, ist die Embryonale Stammzellen (ES)-Forschung mit einer radikalen Entsubjektivierung verbunden. Die verbrauchende Embryonenforschung konkretisiert den Embryo, sie führt zu seiner Biologisierung und Verrohstofflichung. Embryonen werden als biomedizinische Ressource konzipiert und behandelt, rechtlich rücken "überzählige" IVF-Embryonen hin zu einer Kategorie, der Sachgutqualität zugesprochen wird. Embryonen werden als Substanz für die Forschung genutzt, embryonale Zellen werden zu Bestandteilen von Patentanträgen und an ihm geistige Eigentumsrechte erhoben (vgl. Schneider 2002a und b).

Die Legitimation zur Freigabe von Embryonen für drittnützige und verbrauchende Zwecke basiert auf einer utilitaristischen Ethik. Der britische Bioethiker John Harris will mit einer "ethics of waste-avoiding" das Recycling von Embryonen in der Forschung rechtfertigen.

Durch die Nutzung "überzähliger" Embryonen werden Interessenkonflikte zwischen Wissenschaft und den Klient/innen der Fortpflanzungsmedizin ausgelöst, die zu Lasten der Paare entschieden werden (Craft 2001). Mit der Verwendung werden überdies Anreize zur gezielten Produktion von "überzähligen" Embryonen geschaffen.

Die Zulassung der verbrauchenden Embryonenforschung setzt somit weitere gesellschaftliche Transformationen in Gang: Die IVF gerät in die Rolle einer Beschaffungsagentur für wissenschaftliches und therapeutisches Material, Ärzte werden zu Maklern, Paare zu Rohstofflieferanten für die biomedizinische Forschung (dazu ausführlich: Schneider 2002).

4.2     Präimplantationsdiagnostik: Die Virtualisierung des Embryos

Im Gegensatz zur Verstofflichung des Embryos stehen biomedizinische Praktiken, in denen Embryonen zu Objekten eines Willens zum Wissen über das zukünftige Kind werden.

Die Virtualisierung des Embryos ist kein Novum. Die medizintechnische Überwachung von Schwangerschaft und Geburt hat die Digitalisierung des Embryos, zum Beispiel durch Ultraschall und CTG, die Kontrolle seines Gesundheitszustands mittels biochemischer Laborparameter und die Darstellung körperlicher Funktionen und Prozesse in Kurven und Grafiken bereits vorangetrieben. Mit der gläsernen Gebärmutter (Schindele 1995) in Zusammenhang gebracht wird eine Distanzierung der Frau von ihrem Fötus und die Etablierung einer "Schwangerschaft auf Widerruf" (Katz-Rothman 1989, vgl. Pieper 1998, Baldus 2001). Bei der Pränataldiagnostik in der Schwangerschaft sind es nur wenige Merkmale, etwa ein Fötus mit Down-Syndrom, vermittels derer sich eine erwünschte Schwangerschaft in eine "schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren" verwandelt, die nicht "auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann" - so der Sprachduktus der medizinischen Indikation des § 218 StGB - als eine Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch hervorzurufen. Die Gynäkologie als Profession zur "Wartung" (Geisler 2001) des Ungeborenen hat 60 bis 80 % der Schwangerschaften hierzulande in "Risikoschwangerschaften" verwandelt.

Präimplantationsdiagnostik (PID) soll genetisch belasteten, in der Regel aber fruchtbaren Paaren zum eigenen, genetisch "gesunden" Kind verhelfen. Es werden in vitro acht bis zehn Embryonen erzeugt, denen am dritten Tag nach der Befruchtung ein bis zwei Zellen zur genetischen Diagnose entnommen werden. In den Uterus der Frau eingebracht werden nur diejenigen Embryonen, bei denen das gesuchte genetische Merkmal nicht aufgefunden wurde, die Embryonen mit einem solchen Befund werden vernichtet. Bisher ist die technische Kapazität der embryonalen Gendiagnostik (Analyse der Chromosomen und einzelner Genmutationen) auf wenige, vorab zu bestimmende Merkmale beschränkt. Es wird allerdings erwartet, dass mittels technischer Sprünge (insbesondere Genchip-Technologie) in baldiger Zukunft wesentlich mehr genetische Merkmale analysiert werden können.

Bei der PID wird die Entscheidung des Paares über die Implantation eines Embryos und damit seine Chance auf Subjektwerdung am Genotyp festgemacht. Embryonen mit zuvor als "unerwünscht" bestimmten Merkmalen werden selektiert. Während also einerseits ein "Kurzschluß" zwischen Genotyp und Phänotyp hergestellt wird, wird das Phänotypische selbst, das "körperhafte" des - wenn auch nur aus wenigen Zellen bestehenden Embryos - negiert, der Embryo fällt einer Genetifizierung anheim.

Der Embryo wird als bloßes Potenzial betrachtet, die Entscheidung über seine Menschwerdung bleibt den Samen- und Ei"spendern" sowie der Institution Klinik überlassen. Mit der Reduktion des Embryos auf seinen (fehlerhaften) Genotyp wird er zum informationellen Objekt.

Hierin besteht weitgehende Übereinstimmung mit anderen Tendenzen in den Medizin. Die Medizin verortet den Menschen zwischen Codes (deterministische Genetik) und systemtheoretischen Ansätzen (Epigenetik, Genomics, Immunologie und Neurowissenschaften). Während sich die klassische Medizin mit dem Kampf gegen Krankheiten gesellschaftlich legitimierte, geht es nun vor allem um die systemische Optimierung (vgl. Williams 1997, S. 1045, Lemke 2000). Allerdings nimmt sich gegenüber diesen theoretischen Entwürfen die Praxis der Pränatal- und Reproduktionstechnologien recht ernüchternd aus: Bei den meisten pränatal entdeckten Fehlbildungen und Abweichungen bestehen keine therapeutischen Möglichkeiten, sondern der Abbruch der Schwangerschaft bzw. das Verwerfen des Embryos bildet die ärztliche Handlungsoption.

Die Auswahl bzw. "Abwahl" eines Embryos ist vermittelt über die wissenschaftliche Expertise. Da bei der PID Fehlerquoten und unklare Befunde auftreten können, spielen auch Fragen der wissenschaftlichen Absicherung des Ergebnisses und antizipierte haftungsrechtliche Probleme eine Rolle. [4] So werden etwa hinsichtlich einer rezessiv vererbten Krankheit heterozygote Embryonen, die selbst nur Anlagenträger sind und als Menschen keine Krankheitssymptome aufweisen würden, in der Praxis häufig verworfen [5] . Dies geschieht, weil es beim Verfahren der PCR (Polymerase Chain reaction) zu einem Allel-Ausfall (Allelic Drop Out - ADO) kommen kann, wodurch eines der Allele mit der Genmutation nicht erkannt wird. Da nicht auszuschließen ist, dass bei einem heterozygoten Befund ein ADO aufgetreten ist, sichert sich die Labordiagnostik durch Nicht-Übertragen des Embryos vor einer in der Schwangerschaft festgestellten Fehldiagnose und gegebenenfalls zu befürchtenden späteren Klagen ab.

5     Präimplantationsdiagnostik zwischen Kontrolle und Gestaltung des Nachwuchses

Die PID setzt voraus, dass mehrere Embryonen erzeugt werden, um überhaupt Merkmalsträger aussondern zu können. Somit wird die Option zwischen mehreren zukünftigen Kindern etabliert, unter denen ähnlich wie bei Konsumprodukten ausgewählt werden kann (vgl. Kollek 2000). Technisch gesehen wäre nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Auswahl nach favorisierten Merkmalen hinsichtlich von Geschlecht und anderen Kriterien möglich.

Die internationale Praxis der IVF zeigt bereits, dass die Indikation nicht auf Paare mit hohem Risiko der Weitergabe einer schwerwiegenden genetischen Erkrankung beschränkt ist. PID wurde in Großbritannien bei einer behandelbaren erblichen Darmerkrankung durchgeführt, in den USA bei einer familiären Prädisposition für eine früh ausbrechende Alzheimer-Erkrankung. International wird PID bereits in nahezu der Hälfte aller Fälle im Rahmen einer "normalen" IVF zur Suche nach Chromosomenveränderungen, insbesondere bei älteren Frauen, angewandt (1999-2000 in 334 von 782 Behandlungszyklen, HFEA 2000). Eine Reihe auch deutscher Reproduktionsmediziner setzt sich inzwischen sogar für eine routinemäßige PID bei der IVF ein, um deren magere Erfolgsraten steigern zu können. Die Geschlechtswahl aus sozialen Gründen (sog. "social sexing") bildet mittlerweile eine weitere nachgesuchte und gewährte PID-Indikation (1999-2000 in 78 von 782 Behandlungszyklen, HFEA 2000). Ethisch wird dies mit dem Ausbalancieren des Geschlechterverhältnisses ("family balancing") gerechtfertigt. In den USA und Großbritannien wurde PID inzwischen mehrfach zur gezielten Erzeugung eines "gewebekompatiblen" Kindes eingesetzt, um nach der Geburt als Blut- und Stammzellspender für ein an erblicher Blutarmut leidendes Geschwisterkind zu dienen. Eine solche Instrumentalisierung der Zeugung eines Menschen für den Gewebeersatz Anderer wird mit als ausweglos empfundenen Erkrankungen und spezifischen Familienkonstellationen begründet. Diese Indikationen zeigen, dass die deutsche Diskussion überwiegend von verkürzten Voraussetzungen ausgeht. Eine Ausweitung des Indikationenbereichs, wie im Ausland bereits vorgezeichnet, dürfte sich bei Zulassung der PID kaum aufhalten lassen (vgl. REM 2002, S. 113 f.).

PID schreibt sich daher in das moderne Projekt der Kontrolle der Reproduktion ein, indem angestrebt wird, mit technischer Hilfe ein "gesundes" Kind zu bekommen. Gleichzeitig zeugen die weiteren Indikationsformen vom postmodernen Wunsch nach Gestaltung der Nachwuchsproduktion (social sexing) und Diversifizierung des Einsatzgebietes hinsichtlich der Steigerung der IVF-Effizienz und der Herstellung eines "passenden Transplantates". Der Wunsch nach einer Ausgestaltung des Kinderwunsches könnte mittels technischer Sprünge jedoch auch zu einem qualitativen Umschlag hinsichtlich des Auswahlmodus führen.

5.1     Zukunftsperspektiven:

Von der binären Abwahl zur heterogenen Auswahl der kindlichen Genprofile mittels PID

Mittels der Durchsetzung von auf Genchips [6] gestützten genetischen Diagnoseverfahren würde sich die Zahl der am Embryo bestimmbaren genetischen Erkrankungen, Prädispositionen und Merkmale signifikant erhöhen. Damit dürfte allerdings die "Qual der Wahl" steigen. Wieweit die Akzeptanz dieser Techniken reichen wird, ob Paare künftig einem genetischen Screening ihrer Embryonen zustimmen werden, oder ob gar die schiere Möglichkeit der Auswahl unter mehreren, zuvor per Genprofil charakterisierten Embryonen Paare dazu verleiten wird, statt der sexuellen Zeugung eine IVF vornehmen zu lassen, bleibt abzuwarten. Jedenfalls würden mit den neuen technischen Möglichkeiten nicht nur neue, verführerische Handlungsoptionen eröffnet, sondern Paaren in kultureller und psychosozialer Hinsicht neue Entscheidungszumutungen auferlegt.

Bisher herrscht bei der PID ein binäres Schema des Ja oder Nein zur Übertragung eines Embryos je nach Befund des Gentests vor. Dieses würde durch eine Auswahl unter einer Gruppe von heterogenen, differenten Embryonen abgelöst. Nunmehr würden schwierige Entscheidungen über die Übertragung von Embryonen mit unterschiedlichen Genprofilen hervorgerufen, welche die Antizipation von "Wunschkindern" suggerieren. Somit wird einerseits der Embryo auf seinen Genotyp reduziert, andererseits sein Phänotyp imaginiert. Alle lebensgeschichtlichen und psychosozialen Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung bleiben dabei radikal ausgeblendet.

Prospektive Eltern könnten sich beispielsweise vor die Auswahl zwischen folgenden Genprofilen ihrer Embryonen gestellt sehen: Ein blauäugiges Mädchen mit Prädisposition für erblichen Brustkrebs (BRCA1), ein musikalischer, dunkelhaariger Junge mit Risiko einer Arthritis und ein blonder Junge mit Neigung zu Fettleibigkeit. Gleich wie die Wahl aussähe, dürften Eltern später möglicherweise mit Selbstvorwürfen zu kämpfen haben und die unwiderruflich getroffene Entscheidung wieder in Zweifel ziehen. Denn die Wahlmöglichkeiten gehen mit neuen Verantwortungszuschreibungen einher (vgl. Beck-Gernsheim 1991). Wenn der an Krücken laufende arthritische Sohn sein Geigenspiel aufgeben muß, könnten sich Gewissensbisse aufdrängen, ob man "diesem Kind ein solches Leben zumuten" durfte. Der blonde Junge dürfte von Anfang an mit Nahrung eher kurz gehalten oder zum sportlichen Trimmen aufgefordert werden. Würde Brustkrebs dank des medizinischen Fortschritts heilbar, würde vielleicht die Entscheidung gegen eine Tochter bereut.

Diese wohl als "tragic choices" empfundenen Optionen könnten wiederum bei den Eltern das Gefühl hervorrufen, der Höhe der technischen Ansprüche und Machbarkeiten nicht gerecht werden zu können, auf ihre eigene Unzulänglichkeit zurückgeworfen zu werden.

Genetisch determinierte - oder als solche perzipierte - Merkmale wären nicht mehr schicksalhaft gegeben, sondern müssten nunmehr von den Eltern verantwortet werden (vgl. Habermas 2001). Zwar besteht zwischen dem genotypisch - bruchstückhaft - entzifferten Embryo und dem Phänotyp eine vielfältig gebrochene, keineswegs lineare und kausale Beziehung, doch suggeriert - entgegen der neueren Erkenntnisse der Molekulargenetik und des Humangenomprojekts - jede pränatale und präimplantive Diagnostik eine gendeterminierende Sicht, auf deren Basis Entscheidungen gefällt werden.

Auch die Eltern-Kind-Beziehung wäre Veränderungen und neuen Belastungsproben ausgesetzt. Die Kinder müßten sich mit den aus ihrer genetischen Mitgift abgeleiteten Erwartungen auseinandersetzen. Vor allem jedoch mit der Problematik, dass ihre Annahme nicht bedingungslos war, sondern unter den Vorbehalt der Übereinstimmung mit bestimmten Kriterien der Eltern gestellt wurde. Über die psychischen Dynamiken und Folgen solcher Konstellationen kann bisher nur spekuliert werden. [7] Fragen, wie: "Hätte meine Mutter mich ausgetragen, wenn sie zuvor bereits von meinen - schlechten Zähnen, mathematischen Fehlleistungen, sexuellen Orientierung etc. - gewußt hätte?", würden sich vielleicht aufdrängen. Präimplantive Gentests werfen in ethischer Hinsicht das Problem auf, dass sie ohne informierte Zustimmung des Betroffenen vorgenommen werden, aber dennoch einen langen Schatten auf sein ganzes Leben voraus werfen können.

Dass es sich allerdings nicht um rein spekulative Annahmen handelt, zeigen Berichte aus den USA, wonach Eltern ihre beiden Kinder auf das Huntington-Gen testen lassen wollten, um zu entscheiden, für welches Kind sich der finanzielle Aufwand lohne, es auf das College zu schicken (Andrews 1997, S. 263).

5.2     PID: Unerwünschte gesellschaftliche Folgen

PID als Fallbeispiel für die Individualisierung von Kontrolle und Verantwortung für den Nachwuchs hat allerdings auch weitergehende soziale Implikationen. Im Sinne einer Technikfolgenabschätzung wäre der kulturelle Wandel in den moralischen Werthaltungen hervorzuheben, welche durch bestimmte Praktiken affirmiert oder erst hervorgerufen werden.

Als problematische Folgewirkungen der PID werden insbesondere folgende Argumente vorgebracht (Vgl. REM 2002, S. 112-115, Kollek 2000, Graumann 2001, Schneider 2001): 

Wie stark diese Prognosen und ethischen Argumente bei der Entscheidung des Gesetzgebers über die Zulassung der PID gewichtet werden, wird auch Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sein. Jedenfalls gehen jeder politischen Entscheidung Prognosen voraus, die erst retrospektiv empirisch geprüft werden können.

5.3     Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit der PID: Brüche in der Kontrolle

Die bescheidenen Erfolgsbilanzen der IVF scheinen der Wirkungsmächtigkeit der modernen medizinischen Kontroll- und Machbarkeitsversprechen keinen Abbruch zu tun, technophile Präferenzen sind zu konstatieren. Den publizierten Daten über die Ergebnisse der PID ist allerdings zu entnehmen, dass eine Kluft zwischen den mit der PID verbundenen Wünschen nach einem "gesunden Kind" und der "outcome"-Realität herrscht und die Vorstellungen der rationalen Gestaltung der Nachwuchsproduktion an den Klippen der technischen Unzulänglichkeiten und ihrer iatrogenen Effekte zerschellen.

Bei der von der European Society of Human Reproduction (ESHRE 2002) veröffentlichten internationalen Erhebung der Erfahrungen von PID-Zentren wurden 1.561 Paare, die 2.074 Behandlungszyklen begonnen hatten, dokumentiert. Aus 26.783 entnommenen Eizellen entstanden 309 Schwangerschaften, die zu 215 Geburten von 279 Kindern führten. Darunter waren 54 Zwillings- und fünf Drillingsgeburten. Allerdings wurden pränatal vier Zwillingsschwangerschaften auf Einlinge, drei Drillingsschwangerschaften auf Zwillinge und eine Vierlingsschwangerschaft ebenfalls auf Zwillinge durch Fetozid "verringert". Mehrlingsgeburten gehen häufig mit Frühgeburtlichkeit und damit verbundenen gesundheitlichen Schädigungen einher. Bei Kontroll-Fruchtwasser-Untersuchungen, die bei knapp der Hälfte aller Schwangerschaften vorgenommen wurden, stellten sich sieben Fehldiagnosen bei der PID heraus, vier Schwangerschaften wurden daraufhin abgebrochen. Für 180 der insgesamt 279 lebend geborenen Kinder liegen Gesundheitsdaten vor. Demnach wurden 12 (6,6 %) mit Fehlbildungen geboren, 76 (42 %) hatten neonatale Komplikationen, drei davon mit Todesfolge.

Durchschnittlich wurden für jedes geborene Kind etwa 60 Eizellen befruchtet, rund 48 Blastozysten biopsiert und 12,6 Embryonen übertragen. Bezieht man die Lebendgeburten auf die Gesamtzahl der begonnenen Zyklen, so ergibt sich eine Rate von 10,7 Prozent. Diese Zahlen legen nahe, dass die Risiko-Erfolgs-Bilanz der PID ausgesprochen schlecht ist. Hinter den nüchternen Statistiken läßt sich erahnen, mit welch enttäuschten Hoffnungen, Verzweiflung und emotionalen Achterbahnfahrten die Praxis der PID verbunden ist.

Der Siegeszug der modernen Technologien, die sich auf die Kontrolle und rationale Steuerung der Reproduktion berufen, erzeugt neue Unsicherheiten, Ungewißheiten und Irrationalitäten. Er kann zu tiefen Empfindungen von Ohnmacht und Kontrollverlusten führen (vgl. Fränznick und Wieners 1996, Pieper 1998). Zu den "Opfern", die für Fortschritt und Interventionsmöglichkeiten gebracht werden müssen, zählen bei den IVF-Nutzer/innen körperliche Kompetenzverluste, das Fehlen der personalen Begegnung des Zeugungsaktes, das Eindringen in die partnerschaftliche Intimität; langandauernde IVF-Behandlungen können zu sozialer Isolierung und Einbußen in der beruflichen Entwicklung beitragen (vgl. Telus 2002, Stauber 1998, Strauß 2000, Vacquin 1991, Franklin 1997).

Somit wäre im Befund Williams zuzustimmen, der resümiert, 

    "... medicine continues to be a thoroughly modernist enterprise, and that these technological developments enhance rather than diminish the rational control of bodies and selves in an increasingly reflexive age. ... it is these very trends of rational control which, paradoxically, create the crisis of meaning and uncertain status of the body in late modernity. Modernity, in other words, as a reflexive social order, 'manufactures' its own (i.e. internally referential) risks and uncertainties. Medicine, as arch-modernity personified, reflects and reinforces these dilemmas in acute corporeal form" (Williams 1997, S. 1047).

"Postmoderne" Ansätze in der Reproduktion wären daher einerseits als Hyper-Modernisierung, als Steigerung der Kontrollbemühungen zu charakterisieren, gleichzeitig verweisen sie auf die Vervielfältigung von Risiken, Veränderungs- und Manipulationsmöglichkeiten und auf neue Formen der Ausnutzung des reproduktiven Potenzials von Menschen. Der Wunsch nach Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten ruft erneut Ambivalenzen, Entscheidungszwänge, Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen hervor.

Ausblick

Ob sich tatsächlich künftig eine Nachfrage nach Kenntnisnahme von Geschlecht und Merkmalen des zukünftigen Kindes einstellen wird, und wie eine gesetzliche Regulierung hierzu aussähe, darüber läßt sich heute noch nichts aussagen. Es bleibt allerdings hervorzuheben, dass wohl auch zukünftig das Gefälle zwischen den technischen Verheißungen und dem, was in der Realität eingelöst werden kann, kaum kleiner werden dürfte.

Selbst bei einer technisch "aufgerüsteten" PID wäre noch keine gezielte Gestaltung des zukünftigen Kindes, keine "Komposition" seines Gensets möglich. Es nimmt daher nicht wunder, dass bereits Phantasien der Keimbahnintervention, die tatsächlich den Weg zum "Designer-Baby" weitertreiben würden, ausgemalt werden. Führende Genforscher haben Zukunftsentwürfe formuliert, mittels künstlicher Chromosomen Intelligenz und Lernfähigkeit zu optimieren, oder prospektive Kinder mit einer Resistenz gegenüber dem HI-Virus auszustatten (vgl. Stock 2000). Bislang ist allerdings davon auszugehen, dass Keimbahneingriffe aufgrund der genetischen Komplexität nicht zu steuern sind und eine Fülle von Fehlbildungen hervorrufen könnten. Daher werden - zumindest auf absehbare Zeit - solche "enhancement"-Vorstellungen Träume bleiben, welche mehr über die Wünsche ihrer Protagonisten als über biotechnische Realisierbarkeiten aussagen.

Gegenüber Slippery Slope-Szenarien, die ein kaum aufhaltbares Abrutschen hin zur gentechnischen Steuerung von Menschen, zur Etablierung einer künstlichen Gebärmutter und der Keimbahnmanipulation entwerfen, bleibt sowohl auf die technischen Unzulänglichkeiten und die wissenschaftstheoretische Überholtheit des genetischen Determinismus [8] wie auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Technikregulierung hinzuweisen. Gegenüber allzu optimistischen rechtlichen Regulierungsannahmen wäre freilich anzumerken, dass sich die Dynamik einer Technikentwicklung sowohl über Eigenlogiken von Techniken wie auch über Angebots-Nachfragespiralen der Technikdiffusion, über Leitbilder, Images und mediale Vermittlungen, über haftungsrechtliche Gerichtsentscheidungen ("behindertes Kind als Schaden") und ökonomische Rationalitäten vollzieht. Die Technisierung von Schwangerschaft und Zeugung steht in einem komplexen Wechselverhältnis mit dem Wandel in ethischen Werthaltungen. Die kritische Evaluation etablierter Reproduktionstechnologien und das inzwischen umfangreich entwickelte Instrumentarium der Technikfolgenabschätzung wären weiterhin zu nutzen, um erwünschte ebenso wie unerwünschte gesellschaftliche Implikationen zu erkennen und in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, statt die Kontroverse auf den moralischen Status von Embryonen engzuführen.

Anmerkungen 

[1] So erzielte etwa eine in Münster durchgeführte Studie zur lösungsorientierten Paarberatung mit ungewollt kinderlosen Paaren mit einer Kurzberatung (7 Beratungssitzungen a 1,5 Stunden im Zeitraum von sechs Monaten) eine interventionsbedingte Schwangerschaftsrate von 15,8 %. Diese lag genauso hoch wie die an der Uniklinik Münster im gleichen Zeitraum durch IVF (in durchschnittlich zwei Behandlungszyklen) erzielte Schwangerschaftsrate (14,6 %). Die spontane Schwangerschaftsrate lag bei den durch IVF behandelten Paaren bei 7,8 %, bei den psychologisch Beratenen bei 8,3 % (Hölzle et al. 2000). Auch andere Studien verweisen sporadisch auf relativ hohe spontane Schwangerschaftsraten auf der Warteliste vor oder nach einer IVF-Behandlung. Kemeter und Fiegl (1998) berichten von 30 Prozent der Paare, die nach gescheiterten IVF-Behandlungen ein Kind bekamen, nachdem sie eine psychologische Kurzberatung in Anspruch genommen hatten.

[2] Das Embryonenschutzgesetz hat strafrechtliche Restriktionen gesetzt, wodurch in anderen Ländern realisierte Verfahren, wie etwa die so genannte Leihmutterschaft, Eizellspende und Mutterschaften nach der Menopause (bisheriges Höchstalter 63 Jahre) und pränatale Geschlechtswahl hierzulande nicht möglich wurden. Verzichtet wurde auf eine Kontrolle der reproduktionsmedizinischen Zentren, diese obliegt weitgehend dem ärztlichen Standesrecht, insbesondere den Landesärztekammern und der Bundesärztekammer. Im Gegensatz dazu wurde 1990 in Großbritannien mit der Verabschiedung des Human Fertilisation and Embryology Act eine eigene Bundesbehörde (HFEA) gegründet, die Lizenzen für die IVF-Zentren vergibt, ein Register und eine transparente Dokumentation über Eingriffszahlen führt, Pilotprojekte für neue Verfahren zulässt, Qualitätskontrolle betreibt und einen gesellschaftlichen Diskurs über strittige neue Verfahren initiiert. Im internationalen Vergleich gilt das Embryonenschutzgesetz als weitgehend restriktiv, ebenso wie die an das deutsche Gesetzeswerk angelehnten Regelungen in Österreich und der Schweiz. Andererseits wird es auch als "zahnloser Tiger" bezeichnet. Seit seiner Geltung kam es zu keinem einzigen strafrechtlichen Verfahren wegen Gesetzesverstoßes. Da eine effektive behördliche Kontrolle der IVF-Zentren unterblieben ist, können Verstöße gegen das Embryonenschutzgesetz kaum aufgedeckt werden (vgl. BMG 2001).

[3] Das Degradieren von Frauen zu "fetal environments" und Rohstofflieferantinnen, gesundheitliche Gefährdungen durch die bei der IVF notwendigen Hormonbehandlungen, sozialer Selektionsdruck und die Übereignung von Kontrolle an medizinische und politische Institutionen wurden vor allem von der feministischen Kritik an Reproduktionstechnologien hervorgehoben (vgl. Barbian und Berg 1997, Fleischer und Winkler 1993, Graumann 2002, Schneider 2001).

[4] Derzeit muss bei der PID davon ausgegangen werden, dass bei jedem 10. bis 25. Embryo eine falsche Diagnose vorliegt (REM 2002, S. 86). Die Diagnose kann sowohl falsch-positiv wie auch falsch-negativ sein, d. h. es werden "gesunde Embryonen" verworfen oder Embryonen mit Gendefekt nicht erkannt.

[5] So der Humangenetiker Dr. Wolfram Henn bei der Anhörung der Enquetekommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" am 13.11.2000 zum Thema: "Präimplantationsdiagnostik"; http://www.bundestag.de/medizin.

[6] Bei einem Genchip handelt es sich um einen aus Silizium, Glas oder anderen Materialien bestehenden Träger, auf den Tausende von DNS-Molekülen aufgebracht werden können, welche mit der DNS von einer Probe - z. B. einer embryonalen Zelle - verglichen werden. Genchips sind mikrobiologische Messinstrumente und stellen eine Symbiose aus Computer- und Gentechnologie dar.

[7] Anfängliche Befürchtungen, dass IVF-Kinder psychische Beeinträchtungen aufweisen könnten, wurden in Studien widerlegt (Strauß 2000). Die Kinder selbst haben ihre Sicht auf die Art ihrer Zeugung noch nicht artikuliert. Vor allem in den USA hat sich allerdings eine Generation von aus anonymer Samenspende entstandenen Kindern auf die Suche nach ihren Vätern gemacht, um sich ihrer Herkunft zu versichern.

[8] Vgl. beispielhaft Fox-Keller 2001, Strohman 1998.

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Dr. Ingrid Schneider
Universität Hamburg
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