Diskussionsforum: Partizipation als konzeptionelles Strukturprinzip von TA
Unmögliche TA? Prekarität und Produktivität eines Reflexionsprogramms
Unmögliche TA?
Prekarität und Produktivität eines Reflexionsprogramms
von Stefan Böschen, ITAS
1 Einleitung
TA ist eine Tätigkeit, die sich immer wieder hinsichtlich ihrer Form und Bedeutung selbst vergewissern muss. Es sind zwei Vereinnahmungen, gegen die sich Fritz Gloede (1992) in besonderem Maße wendet. Erstens die Vereinnahmung durch Politik. Den Anlass bilden hierbei die damals aktuelle Debatte zur Einsetzung des TAB und die Frage, wie stark das TAB letztlich in die Prozeduren des Bundestags eingebunden wird (vgl. Petermann 1999). Manche Vorstellung ging auf eine sehr enge Bindung hin, so dass eine eigenständige, d. h. der Einlösung wissenschaftlicher Autonomienotwendigkeiten dienlicher Positionierung nicht möglich gewesen wäre. Im TAB-Errichtungsgesetz wurde das TAB mit einer relativ starken Autonomie ausgestattet und kann sogar (zumindest formal) die Öffentlichkeit einbeziehen. Zweitens erweiterte sich damals der Kreis der Anbieter von TA-Expertise insbesondere in der Wissenschaft, gegen deren Vereinnahmung sich die junge Profession schützen sollte. Hier geht es um das Problem, dass TA durch damalig neuere Ansätze der Technikforschung, wie z. B. der sozialwissenschaftlichen Technikgeneseforschung (z. B. Rammert 1992), neu erfunden werden sollte. Beide Punkte machen deutlich, wie sehr Folgenforschung nun einmal ein wissenspolitisch vermintes Gelände darstellt. Aufgrund der sachlichen und sozialen Komplexität von Folgenreflexion lassen sich ganz unterschiedliche programmatische Formen denken und realisieren. Das steigerte die Abgrenzungskämpfe zwischen den verschiedenen Anbietern von Expertise, die sich auf die jeweiligen Schwachstellen der anderen Konzepte bezogen und eine eigene Position dagegen abgrenzend artikulierten. Dagegen wehrt sich Fritz Gloede (Gloede 1992; im Folgenden nur mit Seitenzahlen) und beharrt auf einer TA mit einem forschungsprogrammatischen Kern, der darin besteht, Nebenfolgen-Reflexion als problemorientierte Forschung durchzuführen.
Im Abstand der Zeit muten diese Abgrenzungskämpfe vielfach sehr zugespitzt, wenn nicht gar überspannt an, allerdings ging es auch um sehr viel: die Definition und Durchsetzung eines spezifischen Reflexionsprojekts technologisch-gesellschaftlicher Entwicklung. In der Zwischenzeit hat sich das Projekt TA institutionell wie forschungsprogrammatisch zwar konsolidiert, aber gleichwohl bleiben einige Herausforderungen weiterhin bestehen, die sich aus dem dauerhaft prekären Status von TA ergeben und für dessen Bewältigung Gloede die direkte Positionierung von TA in „relativer Distanz“ (S. 324) zu Wissenschaft wie Politik empfiehlt. So ergibt sich erstens die Frage, wie sich dieser Positionierungsvorschlag argumentativ entwickelt hat (Kap. 2). Zweitens gilt es zu überlegen, inwieweit die gestellte Diagnose auch für den heutigen Stand der TA weiterhin gilt, was bejaht werden soll: Prekarität trotz Konsolidieren (Kap. 3). Gleichwohl haben sich die Randbedingungen für Folgenreflexion grundlegend verändert, was schlaglichtartig durch drei Grenzkonflikte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beleuchtet werden soll: die Politisierung, Ökonomisierung und Medialisierung von Wissen (Kap. 4). Schließlich kann die Selbstpositionierung von TA in relativer Distanz weiterhin als zentrale selbstreflexive Aufgabe von TA angesehen werden, denn aus der Prekarität erwächst die spezifische Produktivität von TA für die problemorientierte Folgenreflexion (Kap. 5).
2 Rekonstruktion … „Schlag nach bei Gloede“
Fritz Gloede erläutert in der zu kommentierenden Arbeit prägnant das Problem einer dauerhaft prekären Lage, in welcher TA sich befindet. Die Dilemmata von TA verdanken sich, so seine Diagnose, vor allem einer „Ambivalenz staatlicher Technologiepolitik“ (S. 300). Die Ambivalenzen lassen sich nach ihrer Wirkung in den sozialtheoretischen Dimensionen sachlich, zeitlich und sozial sortieren. Sachlich werden Entlastungen des politischen Systems bei der Problemidentifikation und dem Lösungswissen erwartet. Entgegen dieser Hoffnung auf Komplexitätsreduktion erweitert TA zumeist die Deutungsoptionen. Zeitlich zeigen sich die Ambivalenzen pointiert im sog. Collingridge-Dilemma, wobei im politischen System gerade zu einem Zeitpunkt starke Evidenzen erwartet werden, zu dem sie noch gar nicht verfügbar sein können. In sozialer Hinsicht wird eine Festigung in Sachen Akzeptanz erwartet. TA soll Konsens stiften. Mit der Verwissenschaftlichung ergibt sich jedoch eine Situation der Pluralisierung und der Einsicht in normative Bindungen, so dass TA den zu stiftenden Konsens im Grunde voraussetzen muss und eben nicht herstellen kann.
Diese Ambivalenzen schlagen sich in Kritiken von TA nieder, die als szientivistische und normativistische Kritik profiliert werden können und pragmatische Vermittlungen provozierten. Aufgrund der „hybriden Gegenstandslage“, d. h. der unaufhebbaren Durchdringung von sachlicher Problemlage und sozialer Problemwahrnehmung, kann sich TA nicht dem sozialen Positionierungsprozess entziehen. TA ist, wie es Gloede pointiert ausführt, in ihrem Verhältnis zur Politik schon immer auf „komplexe strategische ‚Spiele‘“ (S. 315) angewiesen – ob die Akteure der TA das wollen oder nicht. Zugleich eröffnet diese Positionierung neue epistemische Optionen und in gewissem Sinne eine Evidenzentlastung, da die Offenheit des Wissens direkter adressiert werden kann. Diese Positionierung kann letztlich jedoch nur eingeholt werden, wenn die Prozessseite stärker in den Blick kommt und z. B. Unsicherheit nicht primär als ein Problem unzureichenden Wissens interpretiert, sondern v. a. als Problem der Kommunikation und Koordination sozial unterschiedlich positionierter Akteure verstanden wird (S. 317).
Eine zentrale Stellung in Gloedes Argumentation nimmt die Auseinandersetzung mit technikdeterministischen Tendenzen ein. Das „,symbolische Feld‘ autonomer Technik“ (S. 320) wurde, so Gloede, wesentlich auch durch den dominierenden Regulierungsmodus „reaktiver Technikpolitik“ mit formiert. Dabei entzieht sich gerade der durch hohe Autonomie und dezentrale gesellschaftliche Selbstregulierungen gekennzeichnete Bereich der Technisierung einer Steuerung aus „einem Punkt“ (S. 320). Das erzeugt eigene Probleme der Regelung von Technik, eröffnet aber auch spezifische Reflexionsoptionen. In diesem Horizont ordnet sich dann TA als problemorientierte Forschung ein. Wichtig ist der Fokus: „TA als problemorientierte Forschung kann nicht verselbständigt die Entwicklung von Techniktheorien zu ihrer Aufgabe erklären (...). Arbeiten in diesen Bereichen müssen sich letztlich durch Rekurs auf spezifische Problemlagen und Problemwahrnehmungen rechtfertigen.“ (S. 321; Herv. im Orig.) Neben dieser grundlegenden epistemischen Positionierung muss hier die spezifische, letztlich wissenspolitische Positionierung der unterschiedlichen Akteure im „Problemsteuerungsspiel“ aufgenommen werden. Das muss TA beachten, um nicht (aufgrund selbst gewählter Blindheit für interessenpolitische Implikationen) spezifischen Interessen voreilig das Wort zu reden. „TA als Forschung kann ihre Korrektivfunktion nur dann wirklich wahrnehmen, wenn sie aus ihrer Perspektive die jeweils artikulierte Problemformulierung im Lichte übergreifender Betrachtungen der Problemlage hinterfragt.“ (S. 322; Herv. im Orig.) Und das gilt ganz unabhängig vom Ausgangspunkt des konkreten TA-Projektes als grundsätzliche Orientierung von TA als problemorientierte Forschung.
Gebündelt: TA trifft als Vermittlungsinstanz der politisch-wissenschaftlichen Konstitution von Problemlagen und deren Bewältigung auf „Umsetzungsprobleme“ (S. 324), die sich letztlich auch der prekären Positionierung von TA verdanken. Da läge es nahe, sich auf die Anforderungen einer Systemrationalität (sei es der politischen, sei es der wissenschaftlichen) zurückzuziehen – und dies wurde immer wieder auch als Lösung/Problem von TA thematisiert. Das kann jedoch nicht die Lösung sein. Vielmehr verordnet Gloede gleichsam als „Gegengift“ zum einen eine „relative Distanz zu Politik, disziplinärer Wissenschaft und Öffentlichkeit“ (S. 324), zum anderen eine wissenspolitische Demut in dem Sinne: „Ergebnisse und Voten von TA haben sich ihrer ‚relativen‘ Geltung bewußt zu sein“ (S. 326). Dies ist die Voraussetzung, damit sie ihren „spezifischen Beitrag zur Identifikation und Bearbeitung von Problemlagen (leisten kann) – darin findet strategische TA ihre Grenze, aber auch ihre Berechtigung.“ (S. 326f.; Herv. im Orig.)
3 Prekarität trotz Konsolidieren
Wie gestaltet sich nun das Weiterdenken? Welche Aspekte scheinen hier besonders wert, hervorgehoben und weitergedacht zu werden? Zunächst einmal kann betont werden, dass weder die Beschreibung zur prekären Positionierung von TA ihre grundlegende Richtigkeit verloren, noch das Verständnis von TA als problemorientierte Forschung seine Leitbedeutung eingebüßt hat. Gleichwohl hat sich die Situation zu den „forschen“ Anfangsjahren, in deren Zuge sich TA als Programm der Nebenfolgenreflexion konsolidierte, verändert. Entgegen der Interpretation, dass TA vor ihren vermeintlichen Freunden in Schutz genommen werden muss, würde ich eher vermuten, dass TA sich selbst der größte Gegner sein dürfte. Und zwar dann, wenn sie das eigene Programm nicht entsprechend weiterentwickelt. Oder in den Worten Viscontis (Der Leopard): „Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.“ (Don Fabrizio Corbera, Fürst von Salina) Die Problematisierungslinien haben sich verfeinert – und zwar nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Etablierung und Institutionalisierung von Folgenreflexion. Mancher Aspekt der prekären Situation von TA hat sich nicht verändert, anderes ist hinzugekommen. Was sind die Quellen der spezifischen „Prekarität“ von TA in der epistemischen wie sozialen Positionierung?
- Prekäres „epistemisches Selbstverständnis“ der TA. Geschaffen als beratungsförmige Wissenschaft folgt sie einer spezifischen Wissenskultur, bei der das evaluative Moment von Wissen eine entscheidende Rolle spielt. Wissen aus verschiedenen Quellen muss gesammelt, zur Problembeschreibung gebündelt und schließlich in Form eines „Diagnose/Therapie“-Vorschlags strukturiert werden. Im Unterschied zu etablierten evaluativen Wissenskulturen (insb. der Medizin), die über eine im Wesentlichen über implizites Wissen gesteuerte Praxis des Diagnostizierens und Therapierens verfügt, muss die TA ihre Argumente explizit und politisch-öffentlich begründen, verfährt also auf der Basis von explizitem Wissen oder muss dies zumindest ex post nachreichen können. Dies erzeugt eine Spannung mit Blick auf den Charakter von TA als Wissenschaft, da das erzeugte Wissen ein „Hybrid“ aus wissenschaftlichem und politischem Wissen darstellt. Um den deshalb fortlaufend im Raum stehenden Mangel von Wissenschaftlichkeit abzuwenden, muss sich TA ihrer wissenschaftlichen Rationalform immer wieder aufs Neue und ausführlich vergewissern.
- Prekäres interessenspolitisches Setting. TA bewegt sich in einem Haifischbecken der Interessen – und hier kann sie sich kaum als neutraler Player verstehen. Denn die Ergebnisse von TA haben direkte interessenspolitische Implikationen. Ob TA will oder nicht, wirkt sie als Player im Feld der Interessen. Die Befürwortung einer Technologie oder ihre kritische Reflexion übt einen Einfluss auf die weiteren Entwicklungsoptionen dieser Technologie aus. Die Debatte um „Technology Arrestment“, die anfänglich geführt wurde, verdeutlicht dies plastisch, auch wenn von den Proponenten dieses Arguments übersehen wurde, wie stark TA ihnen mitunter zuarbeitet. So stellt z. B. die Forderung nach Standards nicht nur eine Optionen zur Nebenfolgenbearbeitung dar, sondern generiert darüber hinaus auch industriepolitische Vorteile.
- Prekäres beratungspolitisches Setting. TA kann zur Entwicklung von „Assessment-Regimen“ (Kaiser et al. 2010) führen, die als kommunikative Parallelwelt ein zwar vitales aber gleichwohl nur im paradoxen Sinne produktives Moment in Technologiedebatten führen können. Die weitverzweigten ELSI-Aktivitäten im Bereich Nano haben diese Debatte erheblich de-politisiert. Dabei bleibt offen: Wurde dadurch die Debatte wirklich versachlicht und frühzeitig mit Reflexionsoptionen versorgt, um mögliche Nebenfolgen frühzeitig in den Blick zu bekommen? Oder: Inwieweit haben diese Aktivitäten dazu beigetragen, in der politischen Öffentlichkeit ein Moment „gefühlter Reflexivität“ entstehen zu lassen, die sich dadurch auszeichnet, dass Reflexivität in einem abgrenzten, delegierten sozialen Zirkel stattfindet, aber in der Technologieentwicklung nicht wirksam wird? Man könnte dies dann als eine „Verfeinerung“ technokratischer Handlungsmuster ansehen. Die delegierte Reflexion trägt so nur zu einer effizienteren Durchsetzung der Technologie bei – und nicht unbedingt zu einer für Nebenfolgen sensibleren gesellschaftlichen Einbettung dieser Technologie!
Vor diesem Hintergrund verliert die Positionierungsidee von TA im Lob „relativer Distanz“ nichts von ihrer Aktualität. Doch stellt sich die Frage in der Tat, welche Formen relativer Distanz TA zur Verfügung stehen, und wenn es sie gibt, auf welche Weise diese bei den Protagonisten zur Entfaltung kommen können. Dazu muss gefragt werden: Was heißt genau und zu welchem Zweck ist Distanz erforderlich? Und wie kann diese als relative Distanz verwirklicht werden?
4 Entwicklungsdynamik(en)
Um auf diese Frage Antworten finden zu können, ist es erforderlich, einen eingehenderen Blick auf die „Wissenssituation“ der Gegenwart zu werfen. Dabei erscheinen auf den ersten Blick zwei Punkte herauszustechen. Erstens die Beobachtung einer Pluralisierung von Wissensperspektiven (vgl. Lyotard 1979/1999), die sich paradoxerweise einem weitreichenden Programm der Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche verdankt. Diese Entwicklung ist ambivalent. Denn auf der einen Seite erscheint die Sicherstellung der Perspektivenvielfalt erforderlich zu sein, um überhaupt gesellschaftliches Lernen und politische Debatten zu ermöglichen. Auf der anderen Seite ist aber das Ausmaß an Perspektivenpluralität soweit gewachsen, dass sich die Frage stellt: Wie lassen sich die unterschiedlichen Wissensperspektiven zu einem „Problembild“ verdichten und Entscheidungen zugänglich machen.
Zweitens lässt sich eine Formierung von Wissensregimen wie ein Wandel von Wissensordnungen beobachten (vgl. insb. Weingart et al. 2007). Die bei Gloede relativ stark akzentuierten Grenzen zwischen gesellschaftlichen Feldern werden in Analysen zu Wissensregimen als deutlich durchlässiger beschrieben. Zudem zeigt die Pluralisierung von Wissensperspektiven ein zweites Gesicht: Es ist die Pluralisierung der sozialen Orte von Wissensproduktion, welche der öffentlich-politischen Thematisierung von Problemlagen eine neue Qualität gibt. Man könnte diese Formierungen unter dem Topos „Hybrider Wissensregime“ (Böschen 2014) fassen. Beschrieben wird damit der Umstand, dass der Thematisierungsraum von Problemen sich sozial und epistemisch durch seine Unabgrenzbarkeit und (wissens-)kulturelle Diversität auszeichnet. Diese Prozesse konkretisieren sich in Grenzkonflikten zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die an den institutionellen Rändern zwischen Wissenschaft und anderen institutionellen Feldern, insbesondere der Politik, der Ökonomie und der Öffentlichkeit/Medien aufbrechen:
Die Politisierung von Wissen, d. h. Entgrenzungen zwischen Wissenschaft und Politik etwa im Zuge von risikopolitischen Konflikten, zeigt sich zugespitzt in Nichtwissenskonflikten. Dabei werden die etablierten kognitiven und sozialen Routinen zur Feststellung von Evidenzen unterlaufen. Die politische Seite der Pluralisierung von Wissenskulturen und Reflexion von Nichtwissen führte in der Zwischenzeit zu neuen Strategien der Institutionalisierung von Risikopolitik (Chemiepolitik, BSE, Grüne Gentechnik). Dabei manifestiert sich die politische Anerkennung von Nichtwissen insbesondere in der vielschichtigen Debatte um die Ausgestaltung und Institutionalisierung des Vorsorgeprinzips. In den verschiedenen risikopolitischen Feldern hat dies zu je eigenen, institutionalisierten Formen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Nichtwissen geführt, sei es durch rechtliche Prozeduren (vgl. Appel 2005), sei es durch partizipative Verfahren (vgl. Fischer 2009).
Die Ökonomisierung von Wissen, d. h. die wissensökonomische Inanspruchnahme von Wissen, die durch die gesteigerte Erwartung an wissensgetriebene Innovationen und eine forcierte Innovationspolitik erheblich ausgeweitet wurde (Mirowski/Sent 2008), zeigt ebenfalls eine Pluralisierung relevanter Wissenskulturen. Vor diesem Hintergrund verändern sich Aneignungskonflikte um Wissen, bei denen neben der Grenze zwischen Wissen/Nichtwissen die Grenze zwischen öffentlich/privat (Entdeckung/Erfindung; nicht eigentumsfähig/eigentumsfähig) explizit zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht wird. Der Warencharakter von Wissen erzeugt im Verein mit der Komplexität von Aneignungsarchitekturen Konfliktlagen ganz eigenen Zuschnitts, welche Erwartungssicherheiten der Akteure im Innovationsfeld systematisch unterlaufen.
Schließlich verändern sich mit wachsendem Einfluss der Medien auch die Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Medien. Dieser Prozess dürfte u. U. die gravierendsten, weil untergründigsten Veränderungen von Wissenschaft provozieren. In Folge massenmedialer Beobachtung von Wissenschaft scheint das „Aufmerksamkeitsmonopol der Medien“ (Weingart 2005, S. 31) das Wahrheitsmonopol der Wissenschaft zu verdrängen. Richtet sich die wissenschaftliche Kommunikation stärker nach den Regeln einer Aufmerksamkeitsökonomie (vgl. Franck 2005), dann verändern sich Evidenzzuweisungen und damit Geltungskriterien wissenschaftlichen Wissens und werden unscharf. Fälschung und Original können u. U. kaum mehr auseinander gehalten werden. Diese Situation unterminiert das Projekt neuzeitlicher Wissenschaft an seiner empfindlichsten Stelle, dem Grundprinzip methodischer Kontrolle und Reflexion des Wissens.
In gewisser Weise kann man bei der Programmatik von Responsible Innovation eine Kurzschlüssigkeit beobachten, die sich genau der Etablierung solcher hybrider Regime verdankt. In dem genannten Fall wird Innovation und Nebenfolgenreflexion kurz geschlossen, nachdem in den Jahren zuvor eine immer stärkere Ablösung von alten Modellen der Arbeitsteilung beobachtet werden konnte (die einen machen Innovationen, und die anderen machen die Reflexion der Nebenfolgen dazu). Diese Kurzschlüssigkeit führt zu Gemengelagen ganz eigener Art, welche die Position von TA in Prozessen der Folgenreflexion nicht nur erleichtert (partielle Lösung des Collingridge-Dilemmas), sondern auch erheblich erschwert, weil die Begründungslasten bei gleichzeitiger Ausweitung des Horizonts von Nichtwissen deutlich verkompliziert werden.
5 Produktivität durch Prekarität
Die Positionierung von TA im „Gelände“ der wissenschaftlichen Beratung (Kap. 3) wie die Emergenz von Wissensregimen (Kap. 4) bringen für TA spezifische Herausforderungen hervor, welche die Bedeutung des „Lobs der relativen Distanz“, wie es von Gloede der TA anempfohlen wurde, noch einmal stärker hervortreten lässt. Man könnte sogar behaupten, dass die Emergenz von Wissensregimen eher für andere, nämlich bisher rein akademisch ausgerichtete Wissenschaften ein Problem darstellt, weil sie mit Reflexionsanforderungen konfrontiert werden, welche für die TA schon lange gelten. Allerdings würde sich die TA selbst belügen, würde sie die Entgrenzungsprozesse in Wissensregimen nicht auch als einen Anlass nehmen, die Möglichkeiten und Grenzen von TA neu auszuloten. Denn der Wandel von Wissensregimen wie Wissensordnungen erfasst nicht nur die Produzenten von Wissen für Innovationsprozesse, sondern setzt auch für diejenigen, welche Reflexionsexpertise bereitstellen, neue Randbedingungen. Einfach gesagt: Verkomplizieren sich die Produktionsprozesse von Wissen aufgrund der Verteilung von Wissensproduzenten und ihrer unterschiedlichen Orientierung, dann verschwimmen auch die Ansatzpunkte für eine Reflexion möglicher Folgen. Der Gegenstand ist dann eben nicht mehr einfach Technik, sondern ein komplexes Arrangement sozial eingebetteter und einzubettender Technik.
Um also das „Lob der relativen Distanz“ mit Leben füllen zu können, bedarf es einer spezifischen reflexiven Weiterentwicklung der TA-Expertise. Es genügt nicht mehr allein, konkrete Abschätzungen zu konkreten Technologien anzubieten (obgleich das immer noch zum Kerngeschäft einer problemorientierten Forschung TA gehört). Es wird mit Blick auf die genannten Entwicklungen immer bedeutsamer, die Entstehungsbedingungen und Formen von Expertise nicht nur zu reflektieren (Pielke 2007), sondern transparent zu machen und so den Entscheidern die Randbedingungen der konkreten Expertise zu verdeutlichen. Welche konkreteren Herausforderungen und Aufgaben ergeben sich aus diesen Überlegungen?
- Epistemische Herausforderung. Gerade die prekäre epistemische Positionierung macht TA prinzipiell beobachtungssensibel für epistemische Formen und ihre Differenz. Dieser Differenzsensibilität kommt in den hoch aufgeladenen Debatten in Folge der „Politisierung von Nichtwissen“ eine wachsende Bedeutung zu. Denn: Wird diese Pluralisierung nicht durch neue Optionen auf transparente Formierung von Evidenzen aufgefangen, vergrößern sich nicht die Chancen einer breiten öffentlichen Selbstberatung, sondern v. a. die Spielräume für dezisionistisches Entscheiden (Bogner 2005). Der potenzielle Thematisierungsgewinn würde geradezu in sein Gegenteil umschlagen. Deshalb ist es entscheidend, dass die Formen der Evidenzproduktion berücksichtigt werden und die Evidenzen gleichsam mit Indizes versehen werden können. Diese geben Auskunft über den Hinweischarakter des Wissens (Indizien), den Charakter des Nichtwissens und die relevanten Validierungsmodelle. Die Aufgabe für TA: Beobachtung epistemischer Differenz und Ausloten von Strukturierungsangeboten.
- Prozessuale Herausforderung. Unter dem ersten Punkt kommt TA die Aufgabe einer Ausweitung kognitiver Möglichkeiten in der Bewältigung gesellschaftlicher Problemlagen zu. In dem hier adressierten Punkt rückt der Fokus stärker auf eine institutionenpolitische Dimension. Die Adressatenstruktur von TA wandelt sich mit dem Aufkommen hybrider Wissensregime. Manche verdichten das zu der These eines Wandels von der Politik- zur Gesellschaftsberatung (Leggewie 2007). Auch hier steht TA mittendrin und soll doch zugleich Prozesse gesellschaftlicher Selbstberatung mit strukturieren helfen. Eine Leitfrage dabei ist: Welche Prozeduren konstitutionalisieren einen Thematisierungsraum, der den Ansprüchen auf ein effektives und legitimes Entscheiden über Technisierungsoptionen gerecht wird? Die Aufgabe für TA: Beobachtung sozialer Problemkonstitution (Formen des Thematisierens und Entscheidens) und Ausloten von Angeboten zur Prozeduralisierung wissensbasierten Entscheidens. Damit begibt sich TA in das verminte Gelände von Regulierungsregimen. Aber genau die kritische Begleitung von solchen Prozessen der Aufbereitung/Formierung von Wissen in Prozessen des Entscheidens ist eine Form von Expertise, welche für TA ganz wesentlich wäre. Denn TA steht letztlich in einer pragmatistischen Tradition des Bestärkens öffentlicher Intelligenz und Experimentierfähigkeit.
- Herausforderung reflexiver Positionierung. Ein zentraler Punkt dürfte in einer reflektierten Praxis, „Relative Distanz“ als Praxis des Selbst-Positionierens und des Umgangs mit Fremd-Positionierungen bestehen. Es ist wie in Clustern: Um produktiv sein zu können, sind Grenzziehungen und ebenso Selbst-Positionierungen erforderlich. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich weiterführend, die in diesem Aufsatz noch distinkt gedachten Feldbezüge (zu DER Wissenschaft, zu DER Politik, zu DER Öffentlichkeit) sich differenzierter vorzustellen, um zu einer stimmigen Einschätzung zu den Bedingungen der Herstellbarkeit relativer Distanz zu gelangen. Eine Möglichkeit wäre, die verschiedenen Kooperationsstrukturen als „Trading Zones“ zu konzeptualisieren, in denen Relative Distanz hergestellt wird. Dass dieser Punkt so wichtig geworden ist, hat mit der Emergenz hybrider Wissensregime zu tun, welche eine amorphe Situation von Sprecherpositionen in Feldern der Technisierung beschreiben.
Genau betrachtet besteht die „relative Distanz“ von TA darin, dass sie aus dem Mittendrin zugleich fortlaufend den übergeordneten Blick auf die Struktur von Wissen und die Erzeugungsbedingungen wissensbasierten Entscheidens wagt. Diese Positionierung dürfte die prekäre Lage von TA nicht entspannen, sondern eher dauerhaft erhalten, wenn nicht gar verschärfen. In jedem Fall wird es TA mit weiteren Anforderungen an die Selbstreflexivität konfrontieren. Aber nur so wird es möglich sein, die immer naheliegende Vereinnahmung von TA für bestimmte Formen von Wissenspolitik zur besseren Durchsetzung partikularer Interessen abzuwehren. TA muss es unbedingt vermeiden, dass sie sich plötzlich ungewollt als Partei in dem Interessenspiel wiederfindet. Wenn schon, dann sollte aufgrund der „relativen Distanz“ heraus eine Expertise entwickelt werden, welche den reflexiven Zugriff auf Entscheidungsprozesse erhöht und durch Wissenskritik die Effektivität und Legitimität von gesellschaftlichen Problemlösungsangeboten einer Prüfung unterzieht.
Literatur
Appel, I., 2005: Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge. Tübingen
Bogner, A., 2005: Grenzpolitik der Experten. Weilerswist
Böschen, St., 2014/i. E.: Hybride Wissensregime. Baden-Baden
Fischer, F., 2009: Democracy & Expertise. Reorienting Policy Inquiry. Oxford
Franck, G., 2005: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München
Gloede. F., 1992: Rationalisierung oder reflexive Verwissenschaftlichung? Zur Debatte um die Funktionen von Technikfolgen-Abschätzung von Technikpolitik. In: Petermann, Th. (Hg.): Technikfolgen-Abschätzung als Technikforschung und Politikberatung. Frankfurt a. M., S. 299–328
Kaiser, M.; Kurath, M.; Maasen, S. et al. (Hg.), 2010: Governing Future Technologies – Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime. Dordrecht
Leggewie, C. (Hg.), 2007: Von der Politik- zur Gesellschaftsberatung. Neue Wege öffentlicher Konsultation. Frankfurt a. M.
Lyotard, J.-F., 1979/1999: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien
Petermann, Th., 1999: Technikfolgen-Abschätzung – Konstituierung und Ausdifferenzierung eines Leitbilds – Einführung. In: Bröchler, S.; Simonis, G.; Sundermann, K. (Hg.): Handbuch Technikfolgenabschätzung, Bd. 1. Berlin, S. 17–49
Pielke, R., 2007: The Honest Broker. Making Sense of Science in Policy and Politics. Cambridge
Rammert, W., 1992: Entstehung und Entwicklung der Technik. Der Stand der Forschung zur Technikgenese in Deutschland. In: Journal für Sozialforschung 2 (1992), S. 19–50
Weingart, P., 2005: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit. Weilerswist
Weingart, P.; Krohn, W.; Carrier, M., 2007: Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Weilerswist
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