Der praktische Charakter wissenschaftlicher Theorien

Tagungsberichte

Der praktische Charakter wissenschaftlicher Theorien

Bericht von der GWTF-Jahrestagung
Berlin, 16.–17. November 2012

von Christian Meier zu Verl, Universität Bielefeld

Welchen Einfluss üben Theorien bei der Suche nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus? Eine spannende Frage, mit der sich wiederum eine eigene philosophische Teildisziplin beschäftigt: Aufgabe der Wissenschaftstheorie ist es, nach der Bedeutung von Theorien für die Wissenschaft zu fragen. Die Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung (GWTF) reformulierte diese Frage im Rahmen ihrer Jahrestagung 2012, die unter dem Titel „Was tun wir mit Theorien in der Wissenschafts- und Technikforschung, und was tun die Theorien mit uns?“ stand. Die Tagung öffnete diese Frage zugleich für den gesamten Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung (engl. Science and Technology Studies – STS). Die Tagung widmete sich somit exklusiv der Praxis der Theoriearbeit in den STS. Aus ideengeschichtlicher Perspektive haben Theorien der STS eine bewegte Vergangenheit: Von den theorie(n)geleiteten Anfängen mit Mannheim und Merton, über die empirischen Untersuchungen der Laborstudien à la Latour, Woolgar, Knorr Cetina und Lynch, hin zur vermeintlichen Marginalisierung von Theorien in neueren Studien. Neben ideengeschichtlichen Aspekten konzentrierte sich die Tagung v. a. auf eine (wissenschafts-)soziologische Betrachtung des Themas. Im Mittelpunkt standen Fragen nach dem gegenwärtigen Einfluss von Theorien auf (1) Strategien der empirischen Forschung, (2) das interdisziplinäre Spektrum der STS und (3) Interpretationen von empirischen Daten.

1    Theorien für die STS

Die Bedeutung von Sozialtheorien für die qualitative Sozialforschung im Feld der STS beleuchtete Tobias Röhl (Mainz) in seinem Vortrag „Linsen, Werkzeuge und Konzepte. Zur Rolle sozialtheoretischer Annahmen bei der Erforschung technischer Artefakte“. Die Metapher der Linse beziehe sich auf Theorien und Fragestellungen, mit denen Phänomene sichtbar werden. Die Actor-Network-Theory könne z. B. eine Linse sein, die die Symmetrie zwischen Personen und Dingen erkennen lässt. Werkzeuge hingegen erlaubten es, Daten analytisch aufzubrechen und Konzepte bänden empirische Ergebnisse an Sozialtheorien zurück. Folgende Fragen – so Röhl – sollten insbesondere während der Forschung im Vordergrund stehen: Was bedeuten bestimmte Beobachtungen vor dem Hintergrund sozialtheoretischer Konzepte? Wie tragfähig und plausibel sind durch Linsen und Werkzeuge angeleitete Analysen? Summierend plädierte Röhl für ein entspanntes, aber nicht beliebiges Verhältnis zu sozialtheoretischen Annahmen in den STS. Ertrag und Plausibilität müssten in jedem Fall sichergestellt werden. Allerdings könnten die Unterscheidungen zwischen Linsen, Werkzeugen und Konzepten in der qualitativen Sozialforschung nicht immer aufrecht erhalten werden, so dass jede Forschung ihre sozialtheoretischen Annahmen explizieren und deren Konzepte weiterentwickeln sollte.

2    STS über nicht-naturwissenschaftliche Fächer

Ist die STS-Perspektive auf Wissensfelder „ästhetischer Praktiken“ wie Architektur und Kunst übertragbar? Priska Gisler (Bern) und Monika Kurath (Zürich) befassten sich in ihrem Vortrag „STS in Architektur und Kunst. Theorien der Wissenschafts- und Techniksoziologie in der Erforschung ästhetischer Praktiken“ mit dieser Problematik. Empirische Studien in diesem Feld stellten gegenwärtig verstärkt Vergleiche zu den Laborstudien her. Allerdings würden diese Vergleiche, z. B. von Labor und Studio, unreflektiert benutzt. Das Konzept des Labors zeichne sich v. a. durch eine interne Unterscheidung von Innen und Außen sowie durch eine Re-Konfiguration seiner Umwelt aus. Das Konzept des Studios hingegen re-konfiguriere die kulturelle und soziale Ordnung, ohne systematisch zwischen Innen und Außen zu unterscheiden und sein Objekt lokal und zeitlich herauszulösen, so Gisler und Kurath. Auch die Beschreibung ästhetischer Praktiken als Wissenskultur gestalte sich problematisch, da zwar empirische, ontologische und soziale Maschinerien zu finden seien, aber das Alleinstellungsmerkmal des Feldes unberücksichtigt bleibe. Hier bestehe ein Desiderat, da beide Konzepte der STS nur eingeschränkt auf die Wissensproduktion in diesen Disziplinen übertragbar seien. Das Studio entspreche eben nur bedingt dem Labor.

Mit dem Feld der Sozialwissenschaften beschäftigten sich Christian Meier zu Verl (Bielefeld) und Christian Meyer (Halle-Wittenberg) in ihrem Vortrag „Doing Theorisation. Von der empirischen Beobachtung zur sozialwissenschaftlichen Theorie“. Sie gingen davon aus, dass der Datenerhebung v. a. Alltagspraktiken des Wissenserwerbs zugrunde lägen. Die so hergestellten Protodaten seien praktisch kontextualisiert und in Bezug auf wissenschaftliche Fragestellungen radikal unterbestimmt, so dass sie im weiteren Verlauf sukzessive in theoretisch anschlussfähige Daten transformiert würden. Am Beispiel mehrerer sog. Datensitzungen der qualitativen Sozialforschung wurden drei empirische Mechanismen herausgearbeitet: (1) Relevanzmarkierung (von der Subjektivität zur Objektivität von Relevanz), (2) Fokussierung, Kodierung, Re-Inszenierung (vom dichten Dokument zum Einzeldatum) und (3) Theoretisierung (vom vagen Datum zur theoretischen Aussage). Auch die Fabrikation von Erkenntnis in der qualitativen Sozialforschung – resümierten Meier zu Verl und Meyer – sei durch eine soziale Maschinerie gekennzeichnet, die Datenmaterial re-inszeniert, eine Auflösung der Grenzen zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt betreibt und intersubjektive Nachvollziehbarkeit durch sukzessives Anreichern von Theorien an Datenmaterial gewährleistet.

Ausgangspunkt des Vortrags „Sozialtheoriefolgenabschätzung. Überlegungen zur Wissenschaftsforschung der Sozialwissenschaften“ von Barbara Sutter (Basel) war die Beobachtung, dass sich die Wissenschaftssoziologie bisher ihre Gegenstände jenseits der eigenen Disziplin suche. Dennoch sah Sutter zwei Möglichkeiten, diesen Trend umzukehren: erstens über die soziologische Selbstreflexion und zweitens über besonders geeignete Konzepte der Wissenschaftssoziologie. Zum einen könne eine pragmatische Soziologie die Soziologie als Institution begreifen und die Verteilung von Stellen, Ressourcen etc. beschreiben. Eine systemtheoretische Perspektive auf den sozialen Wandel könne fragen: Wie hat die Soziologie an ihrer Selbstbeschreibung mitgeschrieben? Eine Soziologie der Gouvernementalität schaue sich hingegen an, wie Soziologie in Herrschaftsverhältnisse eingebunden und instrumentalisiert werde. Zum anderen untersuche das wissenschaftssoziologische Konzept des Boundary Work die Generierung von Sinn. Auch könne man die Soziologie aus wissenschaftssoziologischer Perspektive als Realexperiment beschreiben, um die Rolle der Soziologie bei sozialtechnologischen Großprojekten (Gentechnik etc.) zu untersuchen. In ihrem Fazit gab Sutter zu bedenken, dass eine Wissenschaftssoziologie der Soziologie berücksichtigen müsse, dass sie Teil der Disziplin und Gesellschaft sei, die sie zugleich beschreibt.

3    Theorien in den STS

Die Fragestellung des Vortrags von Michael Decker (Karlsruhe) spiegelte sich im Titel des Vortrags wider: „Ist interdisziplinäre Forschung auch inter-theoretisch? Einige Überlegungen für die interdisziplinäre Technikfolgenabschätzung“. Probleme der interdisziplinären Forschung seien die Überschreitungen der Diskursgrenzen und die unterschiedliche Verwendung von Begriffen der jeweiligen Disziplin entsprechend. Am Beispiel der Technikfolgenabschätzung (TA) wurde die Herstellung von interdisziplinären Handlungsempfehlungen diskutiert. Die TA-Kooperationen strebten keine Allgemeingültigkeit an, wie Decker am Beispiel der Autonomie von Robotern zeigte, sondern disziplinspezifische Gültigkeiten. Techniker, Juristen und Philosophen beschrieben mit dem Begriff der Autonomie unterschiedliche Dimensionen und ordneten diese einander an, wenn es um die TA von Robotern gehe (technische, personale und moralische Autonomie). Dieser Fall stelle den Versuch dar, interdisziplinäre Argumentationsketten stufenförmig aufzubauen, die jeweils einen Rückbezug zur eigenen Disziplin haben. In seinem Fazit stellte Decker fest, dass (1) eine disziplinäre Gestaltung in einem interdisziplinären Text der TA im Rückgriff auf die eigene Disziplin formuliert werde, (2) Problemstellungen helfen würden, Relevanz-Entscheidungen zu treffen und (3) die interdisziplinären Texte disziplinär angereichert würden. Interdisziplinäre Forschung sei in diesem Sinne nicht inter-theoretisch, sondern multi-theoretisch.

Jochen Gläser (Berlin) und Grit Laudel (Twente) stellten zu Beginn ihres Vortrags „Warum gibt es in der Wissenschaftssoziologie keine Theorien mittlerer Reichweite?“ die These auf, dass es keine Theorien mittlerer Reichweite in den STS gäbe und es problematisch sei, dass STS-Beiträge gegenwärtig ohne Theoriebezug oder mit Bezug auf allgemeine Theorien alleine auskämen. Exemplarisch wurde eine Ausgabe der Zeitschrift „Social Studies of Science“ aufgelistet, in der sechs Einzelfallstudien veröffentlicht wurden: Drei Studien waren ohne Theoriebezug, ein Beitrag war mit Bezug zur Philosophie und zwei Beiträge bezogen sich auf allgemeine Theorien. Zwei Gründe sprächen für diesen Zustand: (1) weil es mit der konstruktivistischen Wende in den STS zum Bruch mit dem Konzept der Theorien mittlerer Reichweite kam und (2) weil man gegenwärtig Modelle nicht zu Theorien mittlerer Reichweite weiterentwickle. Im Fazit forderten sie, dass man theoretische Fragen an den Anfang empirischer Untersuchungen stellen, sich auf die Lösung von bestimmten theoretischen Problemen einigen und Angebote für Theorien gegenseitig wahrnehmen sollte, um Theorien mittlerer Reichweite in den STS erneut zu kultivieren.

Im Vortrag „Wozu denn Theorie? Politisches und Soziales in den Science & Technology Studies“ stellten Mario Kaiser und Martin Reinhart (beide Basel) den Begriff Negotiation als implizites Konzept (hier: „Metaphysik des Sozialen“) der STS vor. Unter Metaphysik sei eine gemeinsame Partizipation an Sozialität zu verstehen, die zu inhaltlichen Ähnlichkeiten führe, wie es z. B. zwischen soziologischer Theorie und Fernsehserien (CSI, Lost etc.) gezeigt wurde. Eine solche Metaphysik des Sozialen stellten Kaiser und Reinhart auch für die STS fest. Im Sinne eines Aushandlungsprozesses verweise der Begriff Negotiation daher auf eine kontraktualistische Metaphysik des Sozialen. Entlang verschiedener Sinndimensionen (sachlich, sozial und zeitlich) wurde gezeigt, dass dieser Begriff v. a. auf eine bestimmte rechtliche Dimension abziele (im Sinne einer Aushandlung von Verträgen). Daher läge die Tradition der STS in der politischen Philosophie, die die STS heutzutage einschränke. Kaiser und Reinhart wiesen mit ihrem Vortrag darauf hin, dass sich versteckte theoretische Konzepte nur durch eine Außenperspektive identifizieren ließen.

4    Fazit

Die leitende Frage „Was tun wir mit Theorien in der Wissenschafts- und Technikforschung, und was tun die Theorien mit uns?“ wurde aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Im Rahmen dieser Jahrestagung konnten drei Aspekte zur Beantwortung der Frage herausgearbeitet werden: