Einführung in den Schwerpunkt

Schwerpunktthema - Systemanalyse und Technikfolgenabschätzung als Politikberatung in Deutschland. Versuch einer Würdigung von Reinhard Coenen

Systemanalyse und Technikfolgenabschätzung als Politikberatung in Deutschland - Versuch einer Würdigung von Reinhard Coenen

Einführung in den Schwerpunkt

Ende Januar diesen Jahres hat Reinhard Coenen mit Erreichen der beruflichen Altersgrenze ITAS verlassen und damit eine Laufbahn beendet, für die man früher den Terminus des „Lebenszeitforschers“ gefunden hat. Gemeint ist damit jemand, der sein ganzes Berufsleben unter den Fokus der Forschung stellt und der dies angesichts der Langlebigkeit bestimmter Fragestellungen auch tun kann - und die früher so genannten Großforschungseinrichtungen, heute Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren (HGF), beschäftigen sich mit solchen langfristigen Fragestellungen und mit so genannter Vorsorgeforschung.

Was im Schwerpunkt dieses Heftes versucht wird, ist keine Festschrift, in der sich Schüler und Weggefährten versammeln, um durch eigene Arbeiten den Jubilar zu ehren, es ist auch keine Laudatio im gewöhnlichen Sinne. Es ist der Versuch, im kritischen Rückblick Projekte, Themen und Fragestellungen Revue passieren zu lassen, an denen Reinhard Coenen mitgearbeitet, sie in maßgeblicher Funktion bestimmt oder selbst geleitet hat. Die Autoren und Autorinnen sind bis auf drei Ausnahmen (Hünemörder; Klann und Nitsch) Kollegen und Kolleginnen (aus ITAS und TAB), die selbst in den entsprechenden Projekten mitgearbeitet haben. Am Rande wird vermerkt, welche Funktion Reinhard Coenen jeweils hatte. Für das Gelingen der Projekte war der Geehrte häufig entscheidend, aber nicht seine Person soll im Mittelpunkt stehen, sondern das Thema. Das ist eine Art distanzierter Rückschau, die für ein wissenschaftliches Institut ein adäquates Format ist. Dabei werden bei den 40 Forscherjahren, um die es geht, auch Perspektiven für künftige Themen eröffnet.

Die Beiträge sind in einer zeitlichen Abfolge geordnet, sicher nicht die einzige Möglichkeit, wie Entwicklung nacherzählt werden kann, aber sicher eine nahe liegende. In einzelnen Beiträgen wird besonders anschaulich werden, welchen Kurs bestimmte Themen nahmen und welche Karriere sie hatten.

Im ersten Beitrag des Umwelthistorikers Kai F. Hünemörder, der auf seiner an der Universität Kiel eingereichten Dissertation „Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik" beruht und in der die SfS ein wichtiges Kapitel einnimmt, werden die Anfänge der „Studiengruppe für Systemforschung“ (SfS), zu der Reinhard Coenen und Herbert Paschen im Jahre 1964 stießen, nachgezeichnet und die ersten Projekte gestreift, mit denen sich die Studiengruppe profilierte. In seinem Beitrag „Die Heidelberger Studiengruppe für Systemforschung und der Aufstieg der Zukunftsforschung in den 1960er Jahren" geht es ihm aber nicht nur um die SfS, sondern um eine Einordnung in die breitere Entwicklung von auch systemanalytischen Ansätzen der damaligen Zukunftsforschung, die mit Namen wie Herman Kahn, Robert Jungk oder Georg Picht verbunden ist. Hünemörder sieht einen der Gründe, weshalb die Zukunftsforschung nicht als Wissenschaft anerkannt wurde, in der Konjunktur des Umweltthemas. An dieser Konjunktur hatte auch die Studiengruppe ihren Anteil. Der Band „Alternativen zur Umweltmisere“ von R. Coenen et al. war ein früher Bestseller. Ein Auszug aus einer Rezension in der FAZ vom 27. Januar 1973 findet sich nach diesem Beitrag.

Nachdem es nach Erhebungen zu Prioritäten der Forschungspolitik mit dem damaligen Forschungsminister zu Querelen kam, wurde ein Teil der Studiengruppe 1976 dorthin zurücktransferiert, wo sie herkam, zum damaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe.

Neben der intern „E2“ genannten Studie (Leitung Herbert Paschen), die sich den „Konsequenzen des großtechnischen Einsatzes der Kernenergie“ widmete, war die „Kohlestudie“ unter der Leitung von Reinhard Coenen die zweite große Studie der damaligen Abteilung für Angewandte Systemanalyse. Detlev Wintzer, ebenfalls aus ITAS schon ausgeschieden, ordnet diese „Technikfolgenabschätzung zum verstärkten Einsatz von Steinkohle in der Bundesrepublik Deutschland“ ein, charakterisiert den zeitgeschichtlichen Hintergrund und nennt Hauptergebnisse. Angesichts divergierender „energiepolitischer Grundeinstellungen“ sei es, meint er im milden Licht des Rückblicks, „nicht immer nur harmonisch zugegangen“.

Das Thema, das Juliane Jörissen vorstellt, „Die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) als Instrument der Entscheidungsvorbereitung“ , hat bis heute Konjunktur. Dies liegt u. a. daran, dass das Vorhaben, auch Pläne und Programme, nicht nur zu bauende Anlagen, einer UVP zu unterziehen, in der EU zunächst nicht erfolgreich war und erst in einem zweiten Anlauf mit einer 2001 vorgelegten Richtlinie in Angriff genommen werden sollte, eine Richtlinie, die bis Mitte 2004 in nationales Recht umzusetzen ist. Dies könnte in der Tat „ein geeigneter Anlass für ITAS sein, sich wieder mit dem Thema UVP zu beschäftigen“, freilich nun ohne Reinhard Coenen.

Der langjährige Leiter von ITAS und vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), Herbert Paschen, blickt auf eine besonders folgenträchtige Studie zurück, folgenträchtig für die davon betroffene Fachpolitik, folgenträchtig auch für das TAB und dessen Akzeptanz im parlamentarischen Raum, die „Technikfolgenabschätzung zum Raumtransportsystem SÄNGER“ . Dieses Projekt wurde, da sich das TAB noch im Aufbau befand, von AFAS durchgeführt, und es bestätigt auch im Rückblick die Tragfähigkeit der damals für das TAB gewählten Konstruktion, nämlich „eine Einrichtung mit langjähriger Erfahrung in der wissenschaftlichen Politikberatung“ mit dem Aufbau und Betrieb zu betrauen. Die Empfehlungen dieser Studie hatten direkten Einfluss auf Beschlussvorlagen des Parlaments und eine Umstellung der Fachpolitik, nämlich die „spezifischen Arbeiten für ein SÄNGER-Konzept“ zu reduzieren und stattdessen die europäische Kooperation zu suchen. Die Studie hat also, wie es in der TA-Diskussion häufig unterschieden wird, eine „instrumentelle“ Verwendung gefunden.

Eine solche sieht Rolf Meyer (TAB) bei der von ihm vorgestellten Studie „Integrierte Umwelttechnik“ nicht, freilich eine vielfach nachweisbare „konzeptionelle“ Nutzung, bis in Formulierungen von Beschlussempfehlungen hinein. Einen Grund hierfür sieht er in der Schwierigkeit, präzise zu fassen, was denn integrierte Umwelttechnik ist, wenn etwa im Rahmen einer längerfristig anstehenden Innovation eine Anlage völlig neu gebaut wird und dann etwa mit einer besseren Energie- und Stoffbilanz positive Umwelteffekte erzeugt, ohne dass dies nun einer einzelnen Komponente, wie bei „additiver Umwelttechnik“, zugeschrieben werden könnte. Von daher auch der Haupttitel seines Beitrages: „Politikberatung bei mehrfacher ‚Unschärfe'“. Derartige Projekte können jedoch, wie Meyer anmerkt, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Diskussion im jeweiligen Themenfeld leisten, indem sie Orientierungswissen bereitstellen.

Jürgen Kopfmüller schildert in seinem Beitrag, wie die „Informationsstelle Umweltforschung“ zustande kam, welchen Auftrag sie ursprünglich hatte und wie in Interaktionen mit dem Auftraggeber die Aufgabenstellung immer wieder ausgeweitet und neu akzentuiert wurde (Global Change-Forschung, Klimaverhandlungen), bis hin zur Aufnahme des Themas „Nachhaltigkeit“, das dann in das Nachhaltigkeitsprojekt der HGF mündete, das ohne die hier dargestellten Arbeiten, so seine abschließende Einschätzung, nicht so zügig hätte aufgenommen werden können. Diese Zeitspanne (1990 bis zur Beendigung 1998) umfasst neun Jahre und war für den Autor durch eine enge Zusammenarbeit mit Reinhard Coenen gekennzeichnet.

Krassimira Paskaleva-Shapira stellt ein Projekt vor, das in das fünfte Rahmenprogramm der Europäischen Union und dort in die Key Action 4: „Cities of Tomorrow and Cultural Heritage“ eingebettet war. Es ging u. a. darum, in konkreten Analysen der direkt kooperierenden Städte (Heidelberg, Graz, Thessaloniki, Veliko Turnovo in Bulgarien) und anderen Städten herauszufinden, wie vor Ort der Tourismus gehandhabt wird und wie er in Richtung von mehr Nachhaltigkeit und partizipativer Entscheidungsverfahren umgestaltet werden kann. Daher das Konzept „Governance“: „Sustainable Urban Tourism: Involving local agents and partnerships for new form of governance (SUT-Governance)“. In den genannten Städten wurden acht Beispiele für „Best Practice“ identifiziert. Die Autorin sieht dieses Projekt auch als Vorarbeit für die Beteiligung des ITAS an „INTELCITIES“ und „PICTURE", zwei weiteren, aktuell laufenden EU-Projekten des ITAS.

Der Beitrag von Uwe Klann und Joachim Nitsch (DLR) gilt dem letzten großen Projekt, in dem Reinhard Coenen der Koordinator war. Wie bekannt, war dies nicht nur ein ITAS-Projekt, sondern eines, an dem auch weitere Abteilungen von anderen HGF-Zentren wie auch externe Partner beteiligt waren. Unter dem Titel „Durch den Rückspiegel. Nützliche Erfahrungen aus Planung, Organisation und Arbeitsablauf des Projekts ‚Global zukunftsfähige Entwicklung - Perspektiven für Deutschland'" wird der Fokus gerichtet auf die Möglichkeiten und Grenzen, Konsistenz innerhalb wie auch zwischen den verschiedenen Arbeitsgruppen bzw. Themenfeldern der Studie zu erreichen. Die im Beitrag ausgewählte Ebene ist die der quantitativen Modellierung von drei Szenarien und der Prüfung und des Durchrechnens unterschiedlicher Annahmen im Verlauf des HGF-Projektes. Dabei kam ein umweltökonomisches Simulationsmodell namens „PANTA RHEI“, an der Universität Osnabrück entwickelt und bundesweit sicher das leistungsstärkste System, zum Einsatz. Das Simulationsmodell war im Projekt ein wichtiges Medium der Kommunikation und der wechselseitigen Abstimmung von Annahmen. Diese Kommunikation war, wie die Autoren resümieren, nicht einfach.

Armin Grunwalds Beitrag rundet den Schwerpunkt ab. Er ordnet die „Systemforschung und Technikfolgenabschätzung in der Helmholtz-Gemeinschaft" ein und umreißt künftige Anforderungen. Diese haben ihren Ursprung in der im letzten Jahr abgeschlossenen Evaluation im Rahmen der Programmorientierten Förderung, und zwar jener Programme, in denen auch Systemforschung und TA ein Teil sind („Nachhaltige Entwicklung und Technik"). Nach den Vorstellungen der Gutachter und der HGF-Senatskommission sollen thematisch ausgerichtete Forschung und begleitende Systemforschung enger aufeinander abgestimmt werden. Damit würde Systemforschung, wie früher, wieder stärker Forschungsprospektion werden.

Diese Beiträge und die darin vorgestellten Projekte und Fragestellungen zeigen, an welcher Fülle von Themen Reinhard Coenen mitgearbeitet hat, eine Fülle, die auch verdeutlicht, welches Multitalent hier wirkte (auch in seiner Funktion als stellvertretender Institutsleiter) und welchen Aderlass an Know-how es für ein Institut bedeutet, wenn eine Person dieses Formats geht - sicher ein Verlust an Kompetenzen, für die man sich eine vollständige Kompensation kaum vorstellen kann.

Zum Abschluss sei hier noch vermerkt, dass Herr Coenen auch aus der Redaktion dieser Zeitschrift ausgeschieden ist, der er von Anfang an angehörte, d. h. seit 1992, als das erste Heft erschien, damals noch unter dem Namen „TA-Datenbank-Nachrichten" (und nur ca. 40 Seiten dick, woraus man verschiedene Schlussfolgerungen ziehen kann...). Angesichts der in diesem Schwerpunkt dokumentierten Breite der Themen, die Reinhard Coenen im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere bearbeitet hat (wobei diese Liste bei weitem noch nicht vollständig ist), wird dies sicher eine nicht zu füllende Lücke bleiben. Denn es fehlt damit eine Instanz in der Redaktion, die mit sicherem Blick die Themen richtig einordnen und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden konnte. Jemanden wie ihn, mit seiner Erfahrung und der Kenntnis von Organisationen, Strukturen und Personen, verlässlich im Hintergrund zu wissen, war für die Redaktion der Zeitschrift von unschätzbarem Wert.

(Bernd Wingert und Ingrid von Berg, ITAS)