Technikfolgenabschätzung zum verstärkten Einsatz von Steinkohle in der Bundesrepublik Deutschland

Schwerpunktthema - Systemanalyse und Technikfolgenabschätzung als Politikberatung in Deutschland. Versuch einer Würdigung von Reinhard Coenen

Technikfolgenabschätzung zum verstärkten Einsatz von Steinkohle in der Bundesrepublik Deutschland

von Detlev Wintzer *

Die Kohle-Studie wurde von 1980 bis 1984 mit einem relativ hohen Personalaufwand im Auftrage des damaligen BMFT durchgeführt. Es wird erläutert, dass die Aktualität der Studie sich aus den damals vorliegenden energiepolitischen und energiewirtschaftlichen Besonderheiten ergab. Nach der Darlegung der Konzeption der Studie werden die Kernaussagen und die Empfehlungen der Studie umrissen, und es wird auf die Frage ihrer Folgen eingegangen. Die Studie ist ein Beispiel dafür, dass der für eine sorgfältige Bearbeitung erforderliche Zeitraum in Konflikt geraten kann mit der Geschwindigkeit, in der sich wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen und damit das Beratungsinteresse - im vorliegenden Beispiel auf Bundesebene - entscheidend verändern.

1     Anlass und historisches Umfeld der Studie

„Steinkohle - Technikfolgenabschätzung ihres verstärkten Einsatzes in der Bundesrepublik Deutschland" lautet der ausführliche Titel der hier vorgestellten Studie.

Vom Bundesminister für Forschung und Technologie wurde im Sommer 1980 eine Studie über die Auswirkungen eines verstärkten energetischen Einsatzes von Kohle ausgeschrieben. Die Abteilung für Angewandte Systemanalyse (AFAS; das heutige ITAS) des damaligen Kernforschungszentrums Karlsruhe beteiligte sich an dieser Ausschreibung. AFAS wurde 1980 mit der Durchführung der Studie beauftragt und schloss die Bearbeitung der Studie im Herbst 1984 ab.

An der Bearbeitung der Studie waren 29 Mitarbeiter von AFAS und sieben weitere externe Wissenschaftler beteiligt. Außerdem leisteten neun externe Organisationen mit einschlägigem Sachverstand Beiträge zur Studie - überwiegend im Rahmen von Unteraufträgen.

Damit ist der außergewöhnlich hohe Personalaufwand der Studie umrissen. Warum es zu diesem hohen Aufwand der Studie kommen konnte, hat im Kern zwei Gründe:

Zum einen gab es - zumindest zu Beginn der Studie - ein hohes Interesse an einer qualitativ hochwertigen und zugleich möglichst wenig interessengebundenen wissenschaftlichen Politikberatung zum Thema. Ein starkes energiepolitisches Interesse hatte sich aufgebaut, weil die Ölpreiskrisen von 1973 und 1979 die Suche nach Möglichkeiten zur Verringerung des Rohöl- Anteils an der Energieversorgung hoch aktuell gemacht hatten. Vor und zu Beginn der Studie hatte sich die Anti-Kernenergiebewegung entwickelt. Erdgas als Primärenergieträger wurde angesichts der Reserven- und Ressourcensituation als mit Erdöl vergleichbar eingeordnet - wenigstens in groben Zügen. Die Zukunftsaussichten von erneuerbaren Energieressourcen waren prinzipiell erkannt, es war aber ziemlich deutlich, dass sie keine Option zur raschen Verringerung der Ölabhängigkeit sein konnten. Der deutsche Steinkohlenbergbau hatte mit Absatzproblemen - hauptsächlich durch den sinkenden Kohlenabsatz im Bereich der Stahlindustrie - und daraus resultierenden Beschäftigungsproblemen zu kämpfen.

Zum anderen gab es ein großes Interesse von AFAS, die Stärken einer umfassenden Studie mit einer aktuellen politischen Motivation unter der Fahne „Technikfolgenabschätzung" zu demonstrieren. Die nicht nur von AFAS, aber besonders von AFAS geführten deutschen Bemühungen um eine dem US-Vorbild des OTA ähnliche TA-Institution waren damals voll im Gange. In dieser Situation war das Interesse von AFAS gegeben, möglichst viele interne und externe Wissensträger in die Studie in solchen thematischen Bereichen einzubinden, für die ein guter Sachverstand erkennbar war.

Die Studie wurde beratend begleitet durch den „Ad-hoc-Ausschuss Kohlestudie", der vom Bundesministerium für Forschung und Technologie berufen wurde.

2     Zielsetzung und Konzeption der Studie

Im Vordergrund der Studie stand die Frage, ob ein verstärkter Kohleeinsatz in der Bundesrepublik zur spürbaren Minderung der Ölabhängigkeit im Verlaufe von zwei bis drei Jahrzehnten möglich wäre, und es sollten „die technischen Möglichkeiten, die Realisierungsbedingungen und die ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Folgen eines verstärkten Einsatzes von Steinkohle zur Ölsubstitution" systematisch dargestellt und bewertet werden und Vorschläge zur „Vermeidung oder Milderung negativer Folgen und zur Überwindung von Realisierungsproblemen des verstärkten Kohleeinsatzes" gemacht werden.

Diese - mit dem Auftraggeber abgestimmte - Zielformulierung enthält im Grunde bereits die groben Züge einer ziemlich umfassend angesetzten TA-Konzeption. In der Konzeptbeschreibung der Studie wurde von der Anlage einer „problem-induzierten TA" gesprochen. Ob man diese Charakterisierung noch heute so wählen würde, ist angesichts der ausschreibungsgemäß weit gehenden thematischen Beschränkung auf die Ölsubstitution durch Kohle fraglich, aber wohl nur für TA-Historiker von Bedeutung.

Wichtig für die methodische Gestaltung der Studie waren die folgenden Punkte:

Die Breite und Tiefe der Studie lassen sich weiterhin durch die folgenden Angaben illustrieren:

Die technischen Analysen erstreckten sich auf die detaillierte Untersuchung von 26 Technologieketten eines möglicherweise verstärkten Steinkohleeinsatzes zur Ölsubstitution, und mit etwa ebenso viel ersetzten Technologien des Mineralöleinsatzes in den diskutierten Bereichen des Endenergieeinsatzes.

Die technologiespezifischen ökonomischen Analysen umfassten: 

Die Abschätzungen zu den Umweltfolgen umfassten Emissions- und Immissionsanalysen. Hinsichtlich der diskutierten Schadstoffe erstreckten sie sich auf:

Die Untersuchungen zu den gesellschaftlichen Bedingungen eines verstärkten Kohleeinsatzes umfassten 

Vergleichende Bewertungen der Vorteile und der Nachteile wurden zunächst für die einzelnen diskutierten Technologien und dann für die erwähnten Einsatzstrategien für Kohle zur Ölsubstitution ausgearbeitet.

Diese Skizze des methodischen Ansatzes und der Bearbeitungsschritte der Studie dürfte den oben beschriebenen Aufwand zur Bearbeitung angemessen erscheinen lassen. Sie lässt außerdem den Umfang des Abstimmungsbedarfs bei der Bearbeitung der Studie und die dementsprechenden Anforderungen an die Integrationsfähigkeit des Projektleiters Reinhard Coenen erkennen. In der Gemengelage der vielen Teilfragen der Studie, der unterschiedlichen energiepolitischen Grundeinstellungen und Einschätzungen der Bearbeiter der Studie sowie der Mitglieder des Ad-hoc-Ausschusses Kohlestudie ist es dementsprechend intern und extern nicht immer nur harmonisch und friedlich zugegangen.

3     Kernaussagen und Empfehlungen der Studie

Die ökonomische Kernaussage der Studie war, dass nahezu alle betrachteten Möglichkeiten der Ölsubstition durch Steinkohle zu ihrer Realisierung Subventionen erfordern würden. Bei einer Bilanzierung der mittleren realen Kosten über einen Zeitraum von 20 Jahren waren jedoch für einige Substitutionsmöglichkeiten Kostenvorteile aus volkswirtschaftlicher Sicht erkennbar, insbesondere beim Heizölersatz durch Fernwärme aus Kohle-Heizkraftwerken. Die ungünstigste ökonomische Bewertung ergab sich für die Ölsubstitution durch die Herstellung von Kraftstoffen aus Steinkohle. Der Stützungsbedarf für inländische Steinkohle stellte sich verständlicherweise als höher heraus als im Falle von Importkohle.

Hinsichtlich des Bedarfs an Arbeitskräften war bei allen Kohle-Technologien ein Mehrbedarf gegenüber den ersetzten Öltechnologien zu erkennen.

Die Aufmerksamkeit der Umweltanalysen war in erster Linie auf NOX, SO2, Staub und PAH gerichtet. Dabei ergaben sich u. a. gewisse Vorteile für „Veredlungsstrategien", die jedoch einen besonders hohen Subventionsbedarf aufwiesen. Der Umfang der (je nach Technologie) resultierenden Vor- oder auch Nachteile lies sich jedoch als gering erkennen im Vergleich zu den 1984 beschlossenen Regelungen der Großfeuerungsanlagenverordnung, deren positive Auswirkungen absehbar waren. Die Untersuchungen zum Abwasseranfall und zu den anfallenden festen Rückständen führten ebenfalls nicht zu gravierenden Bedenken. Hinsichtlich der CO2-Emissionen schnitten die Technologien mit Kraft-Wärmekopplung am günstigsten ab. Die Studie wies darauf hin, dass bei zeitlicher und insbesondere mengenmäßiger Extrapolation der Substitutionsoptionen der Kohle die Unterschiede relevant werden könnten, sofern sich das CO2-Problem als real erwiese.

Dem Gesichtspunkt der Emissionen klimarelevanter Gase würde man heute sicher eine höhere Aufmerksamkeit widmen als vor 20 Jahren.

Die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der Studie ergaben Hinweise auf die Einstellung der Bevölkerung zum Thema. Dabei zeichnete sich zweierlei ab: Erstens waren keine ganz klaren Präferenzen bei den Umfragen zugunsten bestimmter Arten des Kohleeinsatzes zur Ölsubstitution erfassbar. Ein unscharfes Präferenzmuster zugunsten der weniger primärenergieintensiven Technologien zeichnete sich jedoch ab.

Viel Aufmerksamkeit wurde bei den sozialwissenschaftlichen Analysen der Frage gewidmet, ob sich möglicherweise eine der Anti-Kernkraft-Bewegung analoge „Anti-Kohle"-Bewegung aufbauen würde. Die Antwort war: Wahrscheinlich nicht.

Auf die Studienergebnisse zu den Themen der langfristigen Sicherheit der Energieversorgung, der Versorgungssicherheit im Krisenfall, des Devisenbedarfs, des Investitionsbedarfs, der Finanzierbarkeit und zu weiteren Teilthemen der Studie kann hier nicht näher eingegangen werden.

Zum Stichwort Empfehlungen: Den Schluss der Studie bildete die Ausarbeitung einer „Mischstrategie" für den Fall einer politischen Willensbildung für eine Ölsubstitution durch Kohle. Die Mischstrategie wurde durch die Auswahl und durch technische Modifikationen so gestaltet, dass sich ein insgesamt vergleichsweise günstiges Spektrum von Vor- und Nachteilen ergab - jedenfalls aus der Sicht der Bearbeiter der Studie.

4     Folgen der Studie und rückblickende Einordnung

Zunächst ist zu sagen, dass nach ihrem Abschluss keine Strategie zur Ölsubstition durch Kohle von der Bundesregierung energiepolitisch verfolgt wurde - und dass dies so sein würde, war schon in der Endphase der Bearbeitung der Studie erkennbar. Die Ursachen dafür lagen nicht in einer mangelnden Qualität der Studie. Sie lagen vielmehr in der raschen Veränderung der energiewirtschaftlichen Gegebenheiten während der Bearbeitung der Studie:

In den Jahren 1981 und 1982 war das reale Bruttosozialprodukt um 0,3 % und 1,1 % gesunken, 1983 nur um 1,1 % gestiegen. Der Primärenergieeinsatz war - hauptsächlich rezessionsbedingt - von 408 Mio. t SKE in 1979 auf 362 Mio. t SKE in 1983 gesunken. Der Absatzrückgang der Steinkohle in der Stahlindustrie setzte sich deutlich fort, die Kohlehalden wuchsen auf 35 Mio. t SKE, die Arbeitsmarktprobleme in den Steinkohle-Fördergebieten nahmen zu. Die Finanzlage des Bundes war durch die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung auch nicht gerade dazu angetan, umfangreiche Subventionen zur Ölsubstitution bereitzustellen. Die Steinkohle war also innerhalb weniger Jahre in eine klare Defensivposition geraten, das Thema einer Kohleoffensive zur Ölsubstitution war aus der energiepolitischen Diskussion geraten. Die Konjunkturflaute hatte darüber hinaus den Mineralöleinsatz in der Bundesrepublik spürbar absinken lassen, so dass Maßnahmen zur Ölsubstitution nicht mehr als sehr vordringlich erschienen.

Nun hat aber die Studie nicht nur Aussagen über Strategien zu einem verstärkten Steinkohleeinsatz zur Ölsubstitution gemacht, sondern darüber hinaus für 26 Technologien des Kohleeinsatzes viele technische, ökonomische und umweltrelevante Aussagen erarbeitet. Diese Aussagen waren geeignet, auf der Ebene einschlägig interessierter Unternehmen oder Unternehmensverbände auch bei ungünstigen Gesamtaussichten für die Steinkohle Grundlagen beispielsweise für Marktanalysen zu bilden. In welchem Umfange dies geschah, darüber kann man verständlicherweise nur Vermutungen äußern.

Bei den Präsentationen der Ergebnisse der Studie sowie in den Kommentaren und den Rezensionen des Projektberichtes sind keine Zweifel an der wissenschaftlichen Qualität der Bearbeitung vorgebracht worden. Sicher dürfte auch sein, dass die diskutierte Studie damals zur Spitzengruppe hinsichtlich der Breite und Tiefe der untersuchten Gesichtspunkte unter den in Deutschland erstellten Technikfolgenabschätzungen gehörte.

Zu den Folgen der Studie in einem weiteren Sinne kann man die von 1984 bis März 1986 von AFAS unter Mitarbeit des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) und des TÜV Rheinland - ebenfalls im Auftrage des BMFT - ausgearbeiteten Studien „Methanol für den Straßenverkehr" und „Technikfolgenabschätzung für verschiedene Kohle-Kraftstoffoptionen" rechnen. In diesen Studien wurden - anders als in der Kohlestudie - auch folgende Optionen untersucht: 

Im Hintergrund dieser Studien standen nicht nur ein energiepolitisches Interesse an den Teilthemen, sondern auch anstehende Entscheidungen zu Fragen des Ausbaus oder des Abbaus forschungspolitischer Fördermaßnahmen für einschlägige Technologieentwicklungen. Auf diese Studien kann an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden.

*     Der Autor war vom 01.01.1965 bis 31.12.1998 Mitarbeiter des ITAS.

Literatur

Coenen, R. (Hrsg.), 1985:
Steinkohle - Technikfolgenabschätzung ihres verstärkten Einsatzes in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Springer

Coenen, R.; Findling, B.; Klein-Vielhauer, S.; Nieke, E., Paschen, H.; Tangen, H.; Wintzer, D., 1988:
Technikfolgenabschätzung für verschiedene Kohle-Kraftstoff-Optionen. Karlsruhe: Kernforschungszentrum Karlsruhe, Bericht Nr. KfK-4412

Kontakt

Dr. D. Wintzer
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Postfach 3640, 76021 Karlsruhe