C. F. Gethmann, S. Lingner (Hrsg.): Integrative Modellierung zum Globalen Wandel

Rezensionen und Kurzvorstellungen von Büchern

CARL F. GETHMANN, STEPHAN LINGNER (Hrsg.): Integrative Modellierung zum Globalen Wandel. Berlin u. a.: Springer-Verlag, 2002 (Wissenschaftsethik und Technikfolgenbeurteilung, Band 17). 115 S., 49,95 Euro, ISBN 3-540-43253-1

Rezension von Achim Daschkeit, Geographisches Institut der Universität Kiel

Im Zeitalter von Quizsendungen und Internet ist es mittlerweile zu einer beliebten Antwort auf eine Wissensfrage geworden: "Guck doch im Internet nach - im Internet gibt's ja alles." Gesagt - getan. Schaut man unter den einschlägigen Adressen nach dem hier anzuzeigenden Buch, erhält man u. a. ein Cover-Bild des Buches mit dem Titel "Integrative Modellierung zum Globalen Handel". Nach der ersten kurzen Irritation ist es dann doch erfreulich, dass die Print-Ausgabe den richtigen Titel aufweist. Es bleibt höchstens die bange Frage nach einem "Freud'schen Verschreiber": Gibt es möglicher Weise integrative Modellierung zum Globalen Handel? Wenn nicht - sollte es sie geben? Wir denken dabei sofort an das Thema "Ökologisierung der WTO", das gerade im Zuge der globalen Nachhaltigkeitsdiskussion immer wieder aufscheint. - Oder hat etwa das Kieler Institut für Weltwirtschaft seine Finger im Spiel? Schließlich ist ein Beitrag des Bandes von Prof. G. Klepper verfasst, der dort die Forschungsabteilung "Umwelt- und Ressourcenökonomie" leitet. Okay - Scherz beiseite, nun zum Buch.

Das vorzustellende Buch (gut 110 Seiten - knapp 50 Euro) geht auf eine Tagung mit dem Titel "Integrative Modellierung zum Globalen Wandel" zurück, die im Januar 2001 stattfand (ein kurzer Tagungsbericht von mir findet sich in den TA-Datenbank-Nachrichten Nr. 1, 10. Jg., März 2001, S. 109-115). Es konnten nicht alle Beiträge der Tagung in den Sammelband aufgenommen werden, so fehlt bedauerlicherweise der Beitrag von Carlo Jaeger (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung). Ziel des Bandes ist es laut Vorwort, "Anhaltspunkte für eine angemessene Beurteilung der Notwendigkeit, Beschränkung und dem Entwicklungspotential integrativer Modellierungen zum globalen Wandel zu gewinnen" (S. VII). Es wurde eine Dreigliederung des Buches vorgenommen, sodass die einzelnen Beiträge den Rubriken a) Methodische Probleme integrativer Modellierung, b) Integration natur- und sozialwissenschaftlichen Wissens und c) Konsequenzen für Umwelt- und Forschungspolitik zugeordnet sind. Es wird allerdings nicht ganz klar (beschrieben), wer das vorrangige Zielpublikum des Bandes ist: Einsteiger, die sich für das Thema Integrative Modellierung interessieren? Oder diejenigen, die sich ohnehin und schon seit längerem mit dem Thema beschäftigen? Gegen Ende des Beitrages werde ich meine persönliche Einschätzung hierzu kundtun.

Im Folgenden werden nicht die 6 Beiträge des Bandes in gestraffter Form zusammengefasst, denn erstens habe ich dies ansatzweise schon in dem erwähnten Tagungsbericht ausgeführt (auf der Grundlage der Vorträge) und werde dies nachfolgend höchstens so knapp wie möglich zu halten versuchen, zweitens ist man bei einem "schmalen Bändchen" ohnehin geneigt, es gleich komplett zu lesen, und drittens will ich einen aus meiner Sicht glücklichen Umstand nutzen: Denn es kommt nach wie vor selten vor, dass man bei einer Tagung zu dieser Thematik einen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker hören kann (P. Janich); zumeist überwiegen hier Naturwissenschaftler und von den Sozialwissenschaftlern stellen Ökonomen gemeinhin die stärkste Fraktion.

Im ersten Beitrag von Joseph Alcamo wird auf drei wesentliche "Schwachstellen" beim Entwerfen und der Nutzung von integrierten Modellen hingewiesen: Das Problem der Explizierung von Unsicherheit sowie der Umgang damit, sodann das Einbeziehen sozialwissenschaftlichen Wissens (in einem weiten Sinne), und zuletzt die Frage nach der Legitimierung bzw. Verantwortbarkeit von Aussagen aus integrierten Modellen im politischen Prozess. Alle drei Punkte sind zwar bereits auch in anderer Literatur zum Thema zu finden, es ist aber zur Einordnung integrierter Modelle sehr hilfreich, eine knapp formulierte Zuspitzung auf integrative Modelle zu lesen, die reale oder potenzielle Schwachstellen keineswegs unter den Teppich kehrt - so bspw. der Hinweis auf die Fehlerfortpflanzung in gekoppelten und integrierten Modellen. Von daher wird auch nicht impliziert, dass integrative Modelle die Weltsicht aufzeigen könnten, sondern vielmehr zum Aufscheinen von Komplexität auch im politischen Entscheidungsprozess nützlich sein können. In Bezug auf die Sozialwissenschaften und ihren Beitrag zu integrierten Modellen kann auch Alcamo nur feststellen, dass sie generell unterrepräsentiert sind; und wenn Sozialwissenschaften dabei sind, sind es zumeist Wirtschaftswissenschaftler. Alcamo folgert, dass es entsprechend eine Herausforderung für die Sozialwissenschaften sein müsste, ihre Wissensbestände so aufzubereiten, dass sie in integrative Modelle eingepasst werden könnten, m. a. W.: das sozialwissenschaftliche Wissen müsste quantifiziert und mathematisiert werden. An dieser Stelle wird von vielen Sozialwissenschaftlern vorgebracht, dass die Mathematisierung dieser Wissensbestände die Mühe vermutlich nicht lohne, da gesellschaftliches Handeln (individuelles wie kollektives) kaum naturgesetzmäßig gefasst werden könne. Ich selber kann diesen Gegensatz nicht auflösen - kann aber Alcamo in der Propagierung von methodischen Ansätzen folgen (Agent-based Modeling, Application of Fuzzy Set Theory), die eine Mathematisierung zumindest versuchen. Ich denke, man wird hier in gewissen Bereichen grundlagenorientiert vermutlich ein bisschen "herumprobieren" müssen, um die Erfolgschancen realistisch einschätzen zu können. Um aus der von Alcamo festgestellten Legitimitäts-Lücke integrierter Modelle heraus zu kommen, schlägt er in prozeduraler Hinsicht ein Verfahren vor (Story and Simulation - SAS), das es gestattet, sowohl die genuin wissenschaftlichen Anteile an integrativer Modellierung erkennbar zu halten als auch die zunehmend geforderte Einbeziehung von stakeholdern oder anderen Teilen der Öffentlichkeit zu realisieren. Die Zukunft wird zeigen, ob sich integrative Modelle in ein paar Jahren tatsächlich an der von Alcamo beschriebenen Messlatte und den daraus gefolgerten Kriterien werden messen lassen können.

Im zweiten Beitrag des ersten Blocks wird von Peter Janich ein philosophischer bzw. wissenschaftstheoretischer Blick auf integrative Modelle geworfen ("Modell und Modelliertes. Zwecke und Methoden"). Ziel des Beitrages ist es, Begriffe und Unterscheidungen, die in der integrativen Modellierung bewusst oder unbewusst benutzt werden, kritisch zu hinterfragen. Janich argumentiert erkenntnistheoretisch, indem er zwei Paradigmen unterscheidet - das so genannte Präge-Paradigma und das so genannte Guss-Paradigma der Erkenntnis: "Im Präge-Paradigma der Erkenntnis ist die Natur bzw. die Wirklichkeit das Modell, während im Guss-Paradigma etwas Künstliches, nämlich die Instrumente des Laborforschers die Modelle sind, die z. B. durch operationale Definition der Parameter einer Naturbeschreibung den Erkenntnissen (in Form von Theorien) ihre Struktur geben" (S. 18 [1] ). Geht es im Präge-Paradigma um die vom Menschen unabhängige Natur, so geht es im Guss-Paradigma "um die nicht-sprachlichen Artefakte, also um künstlich-technisch hergestellte Geräte für Messung, Beobachtung und Experiment" (S. 21).

Nun ist diese erkenntnistheoretische Unterscheidung gewiss nicht neu, interessant aber ist der Vorwurf, den Janich daraus an die Modellierer ableitet. Er argumentiert, dass die integrativen Modelle wesentlich auf der erkenntnistheoretischen Abbildtheorie fußen, die den Einfluss der Instrumente (in unserem Fall zumeist: Computermodelle) auf die generierten Aussagen nicht hinreichend genügend berücksichtigen. Aus Janichs Sicht dürften von daher die Ergebnisse der Modellierer nur in eingeschränktem Maße "gültige" Aussagen produzieren. Am Beispiel des Klimawandels führt er aus: "Auch für die Modellierung eines globalen Klimawandels wird zu fragen sein, ob nicht in der philosophischen Naivität eines naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses ein Risiko für die Behauptungen liegt, man müsse erst einmal wissen, wie sich Klima vom Menschen unabhängig, d.h. natürlich entwickelt, um dann die anthropogenen Einflüsse im Risiko abschätzen und sozialwissenschaftlich auf technische, ökonomische und andere Ursachen zurückführen zu können" (S. 24). Hier wird - so meine ich - das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Vielleicht gibt es philosophisch naive Naturwissenschaftler im Sinne Janichs - aber man darf auf Seiten der Modellierer durchaus ein wenig wissenschafts- und erkenntnistheoretische Reflexivität unterstellen, denn nicht umsonst nimmt die Debatte um "Unsicherheiten" in der Modellierung, um Gültigkeitsbereiche von Aussagen aus integrativer Modellierung usw. einen recht breiten Raum ein. Hinzu kommt, dass auch gerade Janichs Guss-Paradigma in Richtung der wissenssoziologischen Laborstudien weist, die nicht nur die technischen Artefakte bei der Wissensproduktion untersuchen, sondern gleichzeitig noch das soziale Gefüge der handelnden Personen - gerade der letztgenannte Bereich ist einer, den Philosophen zu gern ausblenden, obwohl er als Faktor der Wissensgenerierung mit Sicherheit genauso hoch zu veranschlagen ist (vgl. Knorr-Cetina 2002).

Ein ähnlich harter Vorwurf an die Adresse der Naturwissenschaften wird aus der Diskussion der Begriffe "natürlich" und "anthropogen" abgeleitet (S. 27): Naturwissenschaftler würden zwar viel von Empirismus reden, könnten aber nicht zwischen erfahrungsmäßig gültigen und ungültigen Sätzen unterscheiden, weil ein vollkommen anderer Begriff von Erfahrung zugrunde liegt. In Bezug auf das Zusammenspiel von Naturwissenschaften mit Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften wird bzgl. der Klimathematik festgehalten: "In der kulturwissenschaftlichen Begleitung von Klimaforschung äußert sich dies z. B. darin, dass man sich an die naturwissenschaftliche Sichtweise der anthropogenen Störungen natürlicher Klimaverhältnisse anschließt, d. h. diese als Störungen von etwas Natürlichem auffasst oder aber das Natürliche (qua Ergebnis der Naturwissenschaften) als das Gegebene nimmt und kulturwissenschaftlich nach politischen und ökonomischen Optionen fragt" (S. 28, Hervorheb. i. O.). Diese Gegensätzlichkeit zwischen Natürlichkeit und anthropogener Störung, die Janich zentral anführt, spielt nach meiner Auffassung im Kontext der integrativen Modellierung keine so große Rolle: Es dürfte kaum jemanden geben, der nicht von einer konstitutiven, gegenseitigen Durchdringung von "Mensch" und "Natur" ausgeht. Gleichwohl ist interessant, dass gerade die "Störungs"-Metapher auch in anderen interdisziplinären Ansätzen verwendet wird - so z. B. in der sozial-ökologischen Forschung (siehe bspw. Becker/Schramm 2001). Und so weist auch Janich auf die zentrale Stellung der Gegenstandskonstitution der integrativen Modelle hin - allerdings mit kritischem Tenor, dass die integrierten Modelle menschliche Zwecke widerspiegeln, diese Zwecke aber keinesfalls reflektiert würden. Auf diese Weise würden sich bis in die politischen Diskussionen zu Klimawandel oder Nachhaltigkeit Annahmen durchziehen, die unrealistisch sind oder zumindest unreflektierte Hypothesen transportieren. In Bezug auf die Integration von Natur- und Kulturwissenschaften (incl. Sozialwissenschaften) wird pessimistisch geschlussfolgert, dass eine Integration mittels integrierter Modelle wohl kaum aussichtsreich sei (S. 30). Genau an dieser Stelle aber - so meine Ansicht - könnte Janich auf sein eigenes Argument zurück kommen, das er auf derselben Seite diskutiert: Wenn er den Naturwissenschaften mangelnde Reflexion bei der Gegenstandskonstitution vorwirft, könnte er zumindest überlegen, ob über eine reflektierte Form der Gegenstandskonstitution nicht möglicherweise doch Interdisziplinarität ermöglicht wird. Man kann zumindest die Frage stellen, ob es möglich ist, interdisziplinäre Gegenstände zu konstitutieren, die etwas anderes sind als die Addition der Gegenstände aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Das disziplinäre Selbstverständnis ist zwar auch für interdisziplinäre Forschungen relevant, aber es muss nicht zwangsläufig immer im Vordergrund interdisziplinärer Unterfangen stehen.

Nun ist es eine Sache, den Beitrag von Janich kritisch zu diskutieren - meine Einschätzung sollte deutlich geworden sein. Obwohl es einige Kritikpunkte gibt, wird doch einmal eine ganz andere Sicht auf die integrative Modellierung geworfen, die ich persönlich als Gewinn empfinde (auch wenn es auf der genannten Tagung zumindest ein paar spitze Diskussionsanmerkungen gegeben hat), denn man wird darauf verwiesen, auch bei elaborierten Modellen und ausgefeilten Methoden und Techniken kritisch hinter die Kulissen zu gucken. Es stellt sich unmittelbar die Frage, ob dieser doch "andere" Beitrag seine Spuren in den übrigen Beiträgen hinterlassen hat; ob also dieser Beitrag zur selbstkritischen Reflexion der Modellierer-community angeregt hat. Dieses ist die Perspektive, unter der die folgenden Beiträge schwerpunktmäßig betrachtet werden sollen.

Den zweiten Block bilden die Beiträge von Gernot Klepper sowie von Ortwin Renn. Im Beitrag von G. Klepper geht es um die Integration von natur- und sozialwissenschaftlichen Modellen am Beispiel der Klimaproblematik. Nach einigen allgemeinen Ausführungen zur Integration (Normativität von Aussagen, Problemdefinition, Handlungsorientierung, Anforderungen an Modellintegration, unterschiedliche Zeitskalen, verschiedene "Modellierungsphilosophien" (S. 39)), werden das ICLIPS-Projekt (Integrated Assessment of Climate Change) sowie die NICCS-DART-Kopplung präsentiert (NICCS und DART sind jeweils Abkürzungen für bestimmte Modelle). Es sollen hier nicht einzelne Ergebnisse wiedergegeben werden, sondern nur der Hinweis erfolgen, dass es beeindruckend ist, wie komplexe Modelle auf relativ knappem Raum doch sehr anschaulich beschrieben werden können und dabei soweit wie möglich auf eine transparente Darstellung der Modellannahmen Wert gelegt wird - erst dies ermöglicht eine Einschätzung über die Aussagekraft und -genauigkeit der Ergebnisse. Gerade die explizite Darstellung von Grenzen der Integration natur- und sozialwissenschaftlicher Modelle (zusammenfassend S. 50) zeigt deutlich auf, dass die Klimafolgenforschung noch weit entfernt ist von einer regionalspezifischen Betrachtungsweise (die Ausführungen Kleppers beziehen sich auf die globale Ebene) - gleichzeitig wird deutlich, dass man sich wohl mühsam wird voranarbeiten müssen.

Der Beitrag von O. Renn greift einen Aspekt auf, der bereits bei J. Alcamo thematisiert wurde: "Die Rolle der Sozialwissenschaften für die globale Umweltforschung". Dieser Beitrag hat - wie Renn selber anmerkt - eher grundsätzlichen und programmatischen Charakter. So stützt er sich in vielfältiger Weise auf seine Tätigkeit im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) - und hier insbesondere auf das "Risiko-Gutachten" von 1998 (WBGU 1999) - sowie auf Überlegungen, die er im Vorfeld des bmb+f-Klimaforschungsprogramms DEKLIM angestellt hat und unter Renn (2000) auch entsprechend zitiert sind. Es werden einige methodische Probleme der Folgenforschung diskutiert (Ambivalenz, Komplexität, Unsicherheit) und unterschiedliche Aufgabenbereiche der Klimafolgenforschung ausgeführt (u. a. "klassische" Folgenforschung, Maßnahmenwirkungsforschung, Resilienzforschung, Partizipations- und Governance-Forschung). Ein solcher Beitrag ist in einem derartigen Band sicherlich nötig, auch wenn die einzelnen inhaltlichen Aspekte eher programmatisch orientiert sind und wenig konkrete Anknüpfungspunkte an integrative Modelle bieten - man sollte den Beitrag von O. Renn als nachdrückliches Plädoyer verstehen, dass sich Natur- wie Sozialwissenschaftler im Sinne Alcamos aus "ihren Ecken" aufeinander zu bewegen.

Der längste Beitrag des Buches (S. 71-106) ist von Armin Grunwald und Stephan Lingner mit "Nachhaltigkeit und integrative Modellierung" überschrieben und gehört zum dritten Block des Bandes. Abgesehen von der Länge des Beitrages - immerhin ca. ein Drittel des gesamten Buches - erfahren wir über die ersten Kapitel hinweg (S. 72-80) kaum etwas Neues, vielmehr schöpft der Beitrag aus dem HGF-Nachhaltigkeitsprojekt, über das in dieser Zeitschrift vielfach und ausführlich berichtet wurde und wird. Hervorzuheben ist, dass wir hier eine der wenigen Stellen finden, die auf den Janich-Beitrag rekurrieren (z. B. auf den Störungs-Begriff; S. 73) und dass auf immerhin gut zwei Seiten (80-81) die relativ neue Entwicklung hin zur "sustainability science" kritisch gewürdigt wird, wenn auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der Ausweisung von Belastungsgrenzen hingewiesen wird.

An dieser Stelle "verheddern" sich die Autoren allerdings in der eigenen Argumentation, wenn sie darauf hinweisen, dass es durchaus auch "objektive" Belastungsgrenzen geben kann, woraufhin eine normative Diskussion über die Belastungsgrenzen eigentlich hinfällig sei - als Beispiel führen Grunwald / Lingner dann das Umkippen eines Sees an, das - normativer Anspruch: - vermieden werden sollte. Das Beispiel aber scheint schlecht gewählt: Gemeinhin wird ja zwischen "natürlicher" und anthropogener Eutrophierung unterschieden. Ersteres ist beispielsweise in so genannten Jungmoränenlandschaften (östliches Schleswig-Holstein, Teile Mecklenburg-Vorpommerns) in der postglazialen Entwicklung der letzten gut 10.000 Jahre als ein "normaler" Prozess der Verlandung von Seen anzusprechen. Die anthropogen getriebene Eutrophierung hingegen läuft auf völlig anderen Zeitskalen ab und bezieht sich u. a. auf den mehr oder minder kontrollierten Eintrag von Nährstoffen (Landwirtschaft, Waschmittel etc.). Beide Prozesse lassen sich eigentlich schwerlich in einen Topf werfen - und somit auch nicht unbedingt in gleicher Weise normativ diskutieren. Vermutlich ist es aber gar nicht in erster Linie ein unpassend gewähltes Beispiel, sondern es ist die Frage, die bei Janich schon unter der Rubrik "natürlich / künstlich" diskutiert wurde. Man kann auch heute zum Beispiel bei Naturschutzkonflikten beobachten, dass die konventionellen Konfliktlinien durchaus noch vorhanden sind, wenn sich - zugespitzt formuliert - Landwirte und Umweltverbände konfrontativ gegenüber stehen; gleichzeitig aber sind innerhalb der Natur- und Umweltschützer interne Konflikte zu beobachten, die m. E. wiederum von intern differenzierenden Positionen über Natürlichkeit/ Künstlichkeit herrühren (vgl. Christmann 1997). Es gibt bspw. völlig konträre Meinungen über die Sinnhaftigkeit bzw. Riskanz von Offshore-Windparks in der Nordsee zwischen Greenpeace und anderen Naturschutzverbänden. Es zeigt sich, dass normative Diskussionen nur schwerlich "überflüssig" sein können.

Im weiteren Verlauf des Beitrages wird wiederum relativ umfänglich auf das bereits erwähnte HGF-Projekt zur Nachhaltigkeit eingegangen - diese Aspekte sind bereits an anderen Stellen hinreichend oft nachzulesen, sodass es an dieser Stelle nicht unbedingt nötig gewesen wäre, zumal die Autoren sich immer vom eigentlichen Thema weg bewegen. Hervorzuheben ist allerdings, dass mehrfach betont wird, dass das Verhältnis von deskriptivem Wissen und normativen Beurteilungen wohl einer der zentralen Schlüssel bei der integrativen Modellierung sein dürfte (z. B. S. 87). Gegen Ende des Beitrages wird nochmals auf die Grenzen integrativer Modellierung hingewiesen, wobei sich allerdings ein paar Inkonsistenzen in die Argumentation eingeschlichen haben: Mit Bezug auf die Klimaproblematik geht es einerseits um die normativ keineswegs zwingende "Natürlichkeit" des Klimas, auf die zu Recht hingewiesen wird, um andererseits im direkten Anschluss daran auszuführen, dass "das gegenwärtige Klima in gewisser Weise höchst ungerecht" sei, wenn wir z. B. an El Nino denken (S. 93). Hier würde sich die Katze in den Schwanz beißen - wenn sie es denn könnte. Bei den einen wird angemahnt, dass man die Natürlichkeit des Klimas nicht festschreiben könne, bei den anderen ist es ungerecht und führt so zu benachteiligten bzw. bevorzugten Regionen. Es ist aus meiner Sicht nicht das statistische Konstrukt Klima, das hier zur Debatte steht (vgl. im Übrigen hierzu instruktiv Claussen 2003), sondern die anthropogene Inwertsetzung von Räumen (vgl. hierzu Davis 1994, 1999, 2002/1995).

Ebenfalls schwer nachvollziehbar sind die Ausführungen, wenn es um explizite oder implizite Bewertungsprobleme in der Nachhaltigkeitsforschung geht und z. B. gesellschaftliche Entwicklungen, Trends etc. daraufhin bewertet werden müssen, ob sie dem Nachhaltigkeitsprinzip entsprechen oder nicht (ebenfalls S. 93). Meines Erachtens verläuft die Argumentation hier zirkulär, wenn Bewertungen in der Nachhaltigkeitsforschung als Bewertungsmaßstab das Nachhaltigkeitsprinzip anlegen sollen ... Sehr instruktiv sind hingegen die Ausführungen zur sustainability science (S. 94-101). Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Diskussion um sustainability science bereits vor 10 Jahren im Bereich der Risikoforschung geführt wurde, aber: die entsprechende community muss sich fragen lassen, warum sie sich das Heft hat aus der Hand nehmen lassen, warum also die Erfahrungen aus Technikfolgenforschung und Technikfolgenbewertung erst spät und über viele Umwege in die Nachhaltigkeitsdiskussion und -forschung eingegangen sind. Als "das Neue" an der sustainability science heben die Autoren hervor, dass es die besondere Rolle der integrativen Modellierung sei und das implizite gesellschaftstheoretische Steuerungskonzept, das sich dahinter verberge (S. 96). Diese beiden Aspekte sollte man im Kopf behalten, wenn die nächsten hochkarätig besetzten Artikel in Science oder Nature erscheinen. In lesenswerter Weise konkretisieren Grunwald/Lingner ihre Überlegungen noch in Hinblick auf das Nachhaltigkeitsverständnis und auf die Modellierungsphilosophie sowie auf das Wissenschaftsverständnis der sustainability science (S. 98-99) und beschreiben u. a. den normativen Bias dieses Diskussionsstranges.

Der letzte, sehr kurze Beitrag von Udo Ernst Simonis ist als Diskussionsbeitrag in den Band mit aufgenommen. Es werden kursorisch einige summarische Betrachtungen über die Beiträge (der Tagung) hinweg notiert, die etwas abseits vom eigentlichen Thema des Buches stehen und eher wissenschaftspolitisch betrachtet werden sollten.

Fazit

Ich hatte weiter oben geschrieben, dass die Beiträge darauf hin betrachtet wurden, ob der philosophische bzw. wissenschaftstheoretische Impuls von Janich seinen Niederschlag gefunden hat. Mit Ausnahme des Beitrages von Grunwald und Lingner ist das nicht der Fall. Nun ist ja niemand verpflichtet gewesen, auf den Janich-Beitrag Bezug zu nehmen, aber wir dürfen wohl damit rechnen, dass eine reflexive Diskussion von Begriffen und Annahmen der integrativen Modellierung die Ausnahme bleibt. Ein beachtenswertes Gegenbeispiel ist im Übrigen einer Arbeitsgruppe der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen (die Akademie war, neben ITAS, Mitveranstalter der Tagung, auf die die vorliegende Buchpublikation zurückgeht, und der Band ist in der Akademie-Reihe erschienen) am Beispiel der Klimaproblematik gelungen: Die Publikation von M. Schröder et al. (2002) schlägt den Bogen von der naturwissenschaftlichen Modellierung über die klimapolitischen und rechtlichen sowie ethischen Implikationen bis hin zu wissenschaftstheoretischen Überlegungen (Unsicherheit, Aussagenschärfe, Bewertung transdisziplinärer Forschung etc.) - hier tauchen dann auch wieder die einschlägigen Namen auf: S. Lingner, A. Grunwald, G. Klepper. Ich persönlich habe jedenfalls aus der produktiven Spannung der einzelnen Beiträge zu dem philosophisch-wissenschaftstheoretischen Beitrag eine Reihe von Anregungen bezogen, künftig die Literatur zur integrativen Modellierung kritisch(er) zu würdigen.

Es stellt sich abschließend die Frage, an wen sich der Band richten könnte, zumal dieser Punkt nicht expliziert wurde (siehe meine Eingangsbemerkung): Nach meiner Einschätzung ist er für diejenigen, die sich bislang nicht mit integrativer Modellierung im Bereich Global Change bzw. Klimawandel beschäftigt haben, zu knapp und zu speziell gehalten. Für diejenigen, die bereits an dieser Diskussion beteiligt sind, ist es ein hilfreicher Band zur Vertiefung. Als Kompendium ist es wohl nicht gedacht und auch nicht hinreichend, hier müsste man auf andere Werke ausweichen, so z. B. Ehlers und Kraft 2001 (obwohl auch dies ein schmales Bändchen ist), Munn 2002, Heinen et al. 2001, Peng et al. 2002, Steffen et al. 2003, Tyson et al. 2002, v. Storch und Flöser 2001.

Anmerkung

[1] Wenn nicht explizit anders angegeben, beziehen sich Seitenzahlen immer auf das hier besprochene Buch.

Literatur

Becker, E.; Schramm, E., 2001:
Zur Modellierbarkeit sozial-ökologischer Transformationen. Zentrale Ergebnisse einer Sondierungsstudie. Frankfurt am Main: Institut für sozial-ökologische Forschung (Materialen Soziale Ökologie, 16)

Christmann, G.B., 1997:
Ökologische Moral. Zur Kommunikation, Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Opladen: Deutscher Universitätsverlag

Claussen, M., 2003:
Klimaänderungen: Mögliche Ursachen in Vergangenheit und Zukunft. In: Umweltwissenschaften und Schadstoff-Forschung. Zeitschrift für Umweltchemie und Ökotoxikologie 15 (1), S. 21-30

Davis, M., 1994:
City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles. Berlin, Göttingen: Schwarze Risse

Davis, M., 1999:
Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe. München: Kunstmann

Davis, M., 2002/1995:
Los Angeles nach Sturm: Die Dialektik gewöhnlicher Disaster. o. O. (übersetzt von Robert Geipel; 510201_davis.pdf)

Ehlers, E.; Kraft, T. (Eds.), 2001:
Understanding the Earth System. Compartments, Processes and Interactions. Berlin u. a.: Springer-Verlag

Heinen, D.; Hoch, S.; Krafft, T.; Moss, C.; Scheidt, P.; Welschhoff, A. (Eds.), 2001:
Contributions to Global Change Research. A Report by the German National Committee on Global Change Research. Bonn: IVM publications

Knorr-Cetina, K., 2002:
Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Munn, T. (Ed.), 2002:
Encyclopaedia of global environmental change. Chichester u. a.: John Wiley & Sons, 5 Volumes

Peng, G.; Leslie, L.M.; Shao, Y. (Eds.), 2002:
Environmental Modelling and Prediction. Berlin u. a.: Springer-Verlag

Renn, O., 2000:
Sozio-ökonomische Auswirkungen des Klimawandels. Einige Grundüberlegungen für ein Forschungsprogramm. In: Hake, J.-Fr.; Fischer, W. (Hrsg.): Klimawirkungsforschung auf dem Prüfstand. Jülich (Schriften des Forschungszentrums Jülich, Reihe Umwelt/Environment, Band 25), S. 95-104

Schröder, M.; Claussen, M.; Grunwald, A.; Hense, A.; Klepper, G.; Lingner, S.; Ott, K.; Schmitt, D.; Sprinz, D., 2002:
Klimavorhersage und Klimavorsorge. Berlin u. a.: Springer (Wissenschaftsethik und Technikfolgenbeurteilung, Band 16)

Steffen, W.; Jäger, J.; Carson, D.J.; Bradshaw, C. (Eds.), 2003:
Challenges of a Changing Earth. Proceedings of the Global Change Open Science Conference, Amsterdam, The Netherlands, 10-13 July 2001. Berlin u. a.: Springer-Verlag (Global Change - The IGBP Series)

Storch, H. v.; Flöser, G. (Eds.), 2001:
Models in Environmental Research. Berlin u. a.: Springer-Verlag

Tyson, P.; Fuchs, R.; Fu C.; Lebel, L.; Mitra, AP.; Odada, E.; Perry, J.; Steffen, W.; Virji, H. (Eds.), 2002:
The Earth System. Global-Regional Linkages in the Earth System. Berlin u. a.: Springer-Verlag (Global Change - The IGBP Series)

WBGU (Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen), 1999:
Welt im Wandel: Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998. Berlin u. a.: Springer