W. Bender, J.C. Schmidt (Hrsg.), 2003: Zukunftsorientierte Wissenschaft. Prospektive Wissenschafts- und Technikbewertung.

Rezensionen und Kurzvorstellungen von Büchern

Wissenschaftsbewertung als integraler Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit

W. Bender, J.C. Schmidt (Hrsg.): Zukunftsorientierte Wissenschaft. Prospektive Wissenschafts- und Technikbewertung. Münster: agenda Verlag, 2003 (Darmstädter interdisziplinäre Beiträge), 230 S., ISBN 3-8968-8199-X, 25,00 Euro

Rezension von Frank Vogelsang, Ev. Akademie im Rheinland

Seit einigen Jahren ist es zumindest in der Wissenschaftstheorie kaum noch bestritten, dass sich Wissenschaft als Prozess der Erkenntniserweiterung nicht hermetisch den Wertorientierungen verschließen kann. Bei den Vertretern der Einzelwissenschaften und im öffentlichen Diskurs dominiert aber nach wie vor eher ein Wissenschaftsbild, das trotz aller Diskussionen an dem alten überkommenen Modell von Wissenschaft festhält. Diesem hartnäckig sich haltenden Verständnis von Wissenschaft wollen sich die Autoren des neu erschienenen Sammelbandes „Zukunftsorientierte Wissenschaft“ entgegenstellen. Der vorliegende Sammelband bleibt dabei nicht allein auf der Ebene einer metawissenschaftlichen Diskussion, sondern versucht, das Konzept eines erweiterten Wissenschaftsbildes mit konkreten einzelwissenschaftlichen Fragestellungen in Beziehung zu setzen.

Die Herausgeber stellen zu Beginn eine doppelte normative Wende in den Wissenschaften fest: Da ist erstens die innerwissenschaftliche Infragestellung eines Wissenschaftsverständnisses, das sich allein auf objektive Sachaussagen gründen will: wissenschaftliche Aussagen sind bei näherem Hinsehen immer wertdurchdrungen. Der gesellschaftliche Horizont ist der Schlüssel, um die zweite normative Wende zu verstehen. Wissenschaft kann auch nicht mehr sinnvoll von der Technik als einer alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Größe getrennt werden, Wissenschaft und Technik sind zwei Seiten einer Sache. Dieser Erkenntnis folgend unterscheiden viele Beiträge des Sammelbandes auch nicht mehr strikt zwischen Wissenschaft und Technik. Die Beiträge des Bandes lassen sich entsprechend dem Konzept in zwei Gruppen aufteilen, in eine solche, die eher metawissenschaftliche Beträge umfasst, und in eine solche, die aus fachwissenschaftlichen Perspektiven das Thema aufbereitet.

Auf einige Beiträge möchte ich kurz eingehen. Der konzeptionelle Vorschlag von Gerhard Gamm besteht darin, Technik nicht als Artefakt oder Instrument oder als eine spezifische Handlungsform zu deuten, sondern viel umfassender als Medium zu beschreiben. Ein Medium ist zum einen ubiquitär, es lässt sich nicht einem bestimmten, begrenzten Raum zuordnen, zum anderen ist es aber auch zugleich einem gestaltenden Zugriff entzogen. Der so entstehende Zusammenhang von Wissen und Nichtwissen schlägt sich in der Bedeutung des Risikobegriffs nieder: Die Grenze des Nichtwissens wird im Zuge der Ausweitung des Wissens als Risiko bewusst. Die Tendenz, die Gamm für die moderne Gesellschaft diagnostiziert, ist die, dass alle historischen Transzendenzerfahrungen, also alle gesellschaftsexternen Einflüsse, nun gesellschaftsintern als Risiko reformuliert werden. Mit seinem Beitrag weist Gamm also auch auf die Grenzen einer prospektiven Wissenschaftsbewertung: Es könne nicht darum gehen, alle Risiken einem vollständigen Kalkül unterwerfen zu wollen. Allerdings ist die Risikoanalyse in einem bescheideneren Rahmen doch zu aufklärenden Hilfestellungen in der Lage, was in diesem Text ein wenig unterbetont bleibt. Bedenkenswert ist die Diagnose von Gamm, dass es in unserer Gesellschaft einen Zug zur Aufrechnung aller Transzendenzerfahrungen in immanente Risikokalküle gibt.

Wolfgang Liebert knüpft in seinem Beitrag an die Diskussion um die Wertfreiheit oder Wertbindung von Wissenschaft an. In 10 Thesen zeichnet Liebert die Diskussion in den wichtigsten Stationen seit dem Werturteilstreit um Max Weber nach und plädiert für ein umfassenderes Wissenschaftsverständnis, das nicht einer objektivistischen Selbstinterpretation aufsitzen darf. Dabei unterscheidet Liebert zwischen einer schwachen und einer starken Form der Wertfreiheitsthese. Die schwache Form fordert ein vorurteilsfreies wissenschaftliches Vorgehen, also auch die Hinterfragung aller vorgegebenen Werte, die starke Form will alle wertenden Urteile aus der Wissenschaft heraushalten. Der ersten These kann schwerlich widersprochen werden, wenn denn Wissenschaft ein offenes Ringen um die bessere Erkenntnis sein soll. Wenn sich die Wissenschaft der Wertproblematik offensiv und selbstkritisch stellen soll, dann muss andererseits die starke Form der Wertfreiheitsthese verworfen werden. Deshalb ist die Vorstellung, Wissenschaft erziele mit ihren Bemühungen „objektive“ Ergebnisse, unhaltbar und kann, so der Verdacht von Liebert, eigentlich nur dazu benutzt werden, die Wissenschaft gegenüber unliebsamen ethischen oder gesellschaftlichen Ansprüchen zu immunisieren.

Paul Gottlob Layer weist in seinem Beitrag auf untergründige Entwicklungen in den herrschenden Erkenntnisparadigmen der Wissenschaften hin, die für das Selbstverständnis der Wissenschaft erhebliche Bedeutung haben können. Dies führt er am Beispiel der Molekularbiologie vor, deren Paradigma der bausteinähnlichen Grundstruktur der lebendigen Natur die Biologie in ihrem Selbstverständnis massiv verändert hat. Moderne Biowissenschaftler werden so zu Biomedizinern, da die Interessen in der Humanmedizin um ein Vielfaches größer als in anderen Biologiebereichen sind. Mit den Interessen wachsen aber auch - so die Gefahr, die Layer diagnostiziert - die Verflechtungen mit den anderen gesellschaftlichen Systemen.

Jan C. Schmidt gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die verschiedenen Konzeptionen des Technikbegriffs und diskutiert sie unter der Leitfrage der Gestaltbarkeit von Technik. Hier unterscheidet er sich in der Akzentuierung seines Interesses deutlich von dem Beitrag von Gerhard Gamm. Das gesuchte Konzept von Technik muss einerseits gestaltungsoffen sein, darf andererseits aber auch nicht der Suggestion Raum geben, alles Technische sei auf einfache Weise beherrschbar. Die Technik muss sich in dem gesuchten Konzept als zugleich gestaltbar und widerständig gegenüber Gestaltungsoptionen darstellen lassen. Es ist deutlich, dass sich hier sehr fundamentale Beschreibungen (anthropologische Notwendigkeit, Medium) nicht für die Frage nach Gestaltbarkeit eignen, aber auch zu einfache Beschreibungen (Instrument) sind wenig tauglich. Am ehesten sieht der Autor das Anforderungskriterium bei dem Entwurf von Günther Ropohl (Technik als soziotechnisches System) gegeben.

Setzt man mit diesem analytischen Ergebnis die Gestaltbarkeit von Technik (und damit wohl auch von Wissenschaft) voraus, so fragt es sich, welche Methode zur Anwendung kommen soll, um die Gestaltung in die Tat umzusetzen. Hier nun bietet Wolfgang Bender einen Überblick über einige Wege ethischer Urteilsbildung und ihre Umsetzung in praktische Felder. Ethische Urteilsbildungen müssen in einem Verfahren konkretisiert werden. Bender erläutert dann die Verfahren, die in der praktischen Arbeit von IANUS, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit an der Technischen Hochschule Darmstadt, zur Anwendung kommen und führt dies für zwei Technikfelder, die Atomtechnik und die Biotechnologien, genauer aus.

Weitere Beiträge des Bandes widmen sich eingehender den Problemen der einzelnen Forschungsfelder. Eine Vermutung wird durch die Lektüre der unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte gestärkt, nämlich die, dass die metawissenschaftliche Erkenntnis der Wichtigkeit der Implementierung wertorientierter Reflexion in dem wissenschaftlichen Betrieb nicht einfach schematisch in den einzelnen Bereichen umgesetzt werden kann. Die Forschungsfelder unterscheiden sich in erheblichem Maße bezüglich ihrer politisch-ökonomischen Einbettung und der dort vorherrschenden Zwänge, aber auch der wissenschaftsimmanenten Argumentationsformen.

Der Text von Nicole Christine Karafyllis behandelt das Thema der nachwachsenden Rohstoffe. Sie bezieht sich zur Analyse insbesondere auf die von Meinolf Dierkes ausgearbeitete Leitbildtheorie. Das „Nachwachsen“ ist ein Bild, das an andere gesellschaftliche Bilder wie „Wachstum“ anknüpfen kann. Das kann zu Problemen führen, etwa wenn sich in den Studien zu nachwachsenden Rohstoffen zwei konflikthaltige Bilder vermengen: Nachhaltigkeit und Wachstum.

Christoph Pistner und Alexander Glaser berichten von Bemühungen der Technikfolgenabschätzung bei neueren Nukleartechnologien, die von IANUS im Rahmen eines TA-Programms im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrates vorgenommen worden sind. Es geht darum, das Potenzial zukünftiger Nukleartechnologien abschätzen zu lernen. Dazu wird von den Autoren ein 7teiliges Bewertungsraster aufgestellt, zu dem Kriterien wie Sicherheit, Proliferationsfähigkeit, Nachsorge, aber auch Ökonomie, Einsatzfähigkeit und andere gehören.

Kathryn Nixdorf und Wolfgang Bender untersuchen in einem Beitrag die Dual-Use-Problematik der biotechnologischen Forschung, also die Frage, inwieweit Forschungsergebnisse militärische Relevanz haben können. Die Autoren zeigen, dass ein erhebliches Missbrauchspotenzial in der biotechnologischen Forschung vorhanden ist.

Christine Hauskeller untersucht die ethischen Implikationen und gesellschaftlichen Kontexte des Forschungsfeldes humane Stammzellen. In ihrem kurzen Überblick über die wichtigsten Faktoren zeigt sie, wie weit reichend die Verbindungen eines scheinbar sehr begrenzten Forschungsfeldes in die Gesellschaft sind, denn um das Projekt der Stammzellforschung angemessen verstehen zu können, sind fundamentale Faktoren des gesellschaftlich verankerten Menschenbildes zu berücksichtigen, wie etwa das Bild von Gesundheit und Krankheit.

Zum Abschluss des Bandes behandelt Jan C. Schmidt die Nanotechnologien. Hier liegt nun ein Forschungsbereich vor, bei dem zumindest nicht behauptet werden kann, dass die ethische Urteilsbildung zu spät komme, denn dieser Bereich ist erst dabei, sich zu formieren und eigene Standards auszuarbeiten. Die Situation ist eigentümlich: Noch zeichnen sich keine gemeinsamen Forschungsstandards ab, aber die Verkünder der neuen Technologie sehen in ihr die künftige Basistechnologie aller anderen Technologien. Damit ist der Weg zu einem technokratischen Selbstverständnis gebahnt.

Angesichts des nach wie vor dominanten Selbstverständnisses in unserer Gesellschaft und insbesondere im Wissenschaftsbetrieb, dem gemäß es eine tiefe Kluft zwischen der sachorientierten Wissenschaft und ihrer Bewertung gibt, kann man den aufklärerischen Anspruch, der die Autorinnen und Autoren der Texte des Sammelbandes eint - Wertorientierungen offen zu legen und ihren Diskurs einzuklagen -, nur begrüßen. Bei der Lektüre des Buches wird deutlich, dass die größte Hürde nicht so sehr in der allgemeinen Feststellung der Notwendigkeit ethischer Orientierung der Wissenschaft liegt, sondern in der jeweils konkreten Umsetzung in den Einzeldisziplinen.