REZENSION

Nicht alles Wissen ist mächtig, nicht selten sogar das wichtigste

Lässt sich das ändern?

Stephan Albrecht, Schlapphörn, 25870 Oldenswort (albrecht-living-ag-research@t-online.de)

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TATuP Bd. 29 Nr. 2 (2020), S. 70–72, https://doi.org/10.14512/tatup.29.2.70

Berthold, Peter (2017):
Unsere Vögel.
Warum wir sie brauchen und wie wir sie schützen können.
Berlin: Ullstein.
331 S., 12,– €,
ISBN 9783548377698

Busse, Tanja (2019):
Das Sterben der anderen.
Wie wir die biologische Vielfalt
noch retten können.
München: Blessing.
416 S., 18,– €,
ISBN 9783896675927

Schwinn, Florian (2019):
Rettet den Boden.
Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen.
Frankfurt am Main: Westend.
270 S., 24,– €,
ISBN 9783864892424

Die vierfache elementare Systemkrise des heutigen Weltsystems – Klimasysteme, Ökosysteme, Politische Ökonomie, Sozialstrukturen[1] – legt viele Aporien in dem Beziehungsgeflecht zwischen Wissen, Wissenschaft, korporativem und politischem Handeln oder Nicht-Handeln offen. Dabei gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: In den vergangenen gut 30 Jahren ist das zunehmend gesicherte Wissen über die alles Leben tragenden Systeme auf der Erde qualitativ und quantitativ so umfassend geworden, dass heute das Wissen weit mehr als hinreichend ist, um darauf wesentliche Strategien und Entscheidungen zur Minderung des Fluchs des Anthropozäns abzustützen. Die schlechte: Die privat und öffentlich Mächtigen dieser Erde haben von diesem Schatz bis heute wenig oder gar keinen ernsthaften Gebrauch gemacht. Zwar gibt es vielerlei Pläne, Entschließungen und Kommuniqués. Regionale, nationale und internationale durchgreifende Maßnahmen auf der Grundlage von vernünftigen gemeinsamen Strategien sind allerdings kaum zu beobachten.

Verluste und Zerstörung von biologischer Vielfalt

Die drei hier zu besprechenden Bücher versuchen auf unterschiedlichen Wegen, aber mit einem gemeinsamen Impetus, sich mit dieser verfahrenen Lage auseinanderzusetzen. Sie dokumentieren, durchweg auf aktueller wissenschaftlicher Grundlage, verschiedene Aspekte der Verluste und der Zerstörung von biologischer Vielfalt[2]. Peter Berthold resümiert sein langes Forscherleben im Rahmen der Max-Planck-Gesellschaft, indem er das Vogelsterben in Deutschland, das seit 1849 (!) dokumentiert ist, in den Kontext des größeren globalen Artensterbens stellt. Dazu benennt er sieben zentrale Hauptursachen (von mir leicht modifiziert):

  1. Biotopzerstörung,
  2. Verarmung an Strukturen und Habitatelementen,
  3. Nutzungsintensivierung vordem extensiv genutzter Lebensräume,
  4. Nutzungsaufgabe von Extensivflächen,
  5. Zerschneidung und Verinselung von Biotopen und Populationen,
  6. Umweltchemische Belastungen, v. a. Eutrophierung und Versauerung,
  7. Störungen durch menschliche Aktivitäten, inkl. Bauwerke und Infrastruktur (S. 95).

Diese Elemente ziehen sich mit einigen Variationen wie rote Fäden durch alle drei Bücher. Tanja Busse geht von der umfassenden internationalen Bestandaufnahme durch die Intergovernmental Science-Policy Platform for Biodiversity and Ecosystem Services (2019) aus und zeigt, dass mittlerweile die dramatischen Vernichtungen der biologischen Vielfalten sich quer durch alle Kontinente, Meere und alle Tier-, Pflanzen- und Mikroorganismenreiche zieht. Busses langjähriges Engagement als kritische Journalistin ist es zu verdanken, dass die Nutznießer, Beitragenden und Verantwortlichen in der chemischen und Agrarindustrie ebenso wie in der nationalen und europäischen Politik klar benannt werden. Florian Schwinn fokussiert in seinem Buch auf die fruchtbaren Böden. Auch hier muss von einem wahren Inferno im Umgang mit dem gänzlich unersetzlichen „Lebensboden“ (S. 249) gesprochen werden. Die industrielle Landnutzung behandelt fruchtbare Böden vielfach wie einen Kasten Sand, in den man einige chemische Elemente (Dünger, Pestizide) und Wasser einbringen muss, um Höchsterträge zu generieren. Dass diese rudimentäre und unwissenschaftliche Sicht auch heute noch über einen so enormen und mächtigen Einfluss verfügt, verweist auf den Nexus zwischen Wissen und Macht, besser gesagt zwischen Macht und Wissen.

Die Zusammenschau aller drei Bücher führt mich zu der eingangs erwähnten schlechten Nachricht. Wenn wir die o. g. sieben wichtigen Elemente der Zerstörung von biologischer Vielfalt – i. e. unserer buchstäblichen Lebensgrundlagen – etwas systematisieren, so können drei zentrale Triebkräfte ausgemacht werden:

  1. Landnahme durch Industrien, Verstädterung, Verkehr, Zersiedelung.
  2. Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung durch industrielle Aktivitäten.
  3. Die industriellen Regime in Ackerbau und Viehhaltung (Chemie, Pharma, Maschinen).

Ich weiß nicht, ob es jemals seit Entstehen der ersten urbanen Siedlungen vor etwa 4.000 Jahren so etwas wie eine gerechte Balance zwischen Land und Stadt gegeben hat. Darüber wird wissenschaftlich trefflich gestritten. Was aber unabweisbar ist, ist die Unterordnung des Landes unter die urbanen und industriell Mächtigen seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Beendigung der feudalen Herrschaft, die vor allem eine Landherrschaft gewesen ist, hat die soziale Abhängigkeit und Unterdrückung des besitzlosen Landvolks nur verschoben, kaum wirklich verändert (Meiksins Wood 2002). Die mit der Mechanisierung beginnende Industrialisierung der Landbewirtschaftung hat die Bauern von der feudalen – soweit diese, wie in vielen Weltregionen bis heute, nicht fortexistiert – in die kapitalistische Abhängigkeit geführt. Die Störung und Zerstörung von Ökosystemen, die eben vielfach als Verlust von biologischer Vielfalt erscheint, wozu die hier besprochenen Bücher zahlreiche Beispiele dokumentieren, ist direkte und indirekte Folge der Industrialisierung, die erst durch die Dynamik der kapitalistischen Kapitalakkumulation ihre weltweite Dominanz erlangen konnte.

Die wortwörtliche „Grundlage“ natürlichen Reichtums in Form von fruchtbaren Böden ist als kostenlose Rohmasse für menschliches Handeln willkommen, entbehrt aber einer angemessenen Wertschätzung.

Die Ersetzung von Menschen durch Maschinen und von natürlichem Reichtum durch Geldreichtum sind wesentliche Grundzüge dieser Dynamik. Mit anderen Worten: Die nicht von Menschen gemachte – und von Menschen auch nicht herstellbare – wortwörtliche Grundlage natürlichen Reichtums in Form von fruchtbaren Böden, zahlreichen miteinander vernetzten und sich gegenseitig nützenden Mikroorganismen-, Pflanzen- und Tierarten ist als kostenlose Rohmasse für menschliches Handeln willkommen, entbehrt aber einer angemessenen Wertschätzung. Das Privateigentum als überragendes Ideologem des kapitalistischen Wirtschaftens ist eine bis heute starke Stütze dieser gefährlichen Geringschätzung natürlicher Lebensgrundlagen. Eine zweite ist die systematische Schieflage zwischen privater Handlungsmacht und öffentlicher Handlungsfähigkeit im Gemeinwohlinteresse in den politischen Strukturen der allermeisten Staaten.

Die landwirtschaftliche Subventionspolitik der EU dokumentiert diese beiden Asymmetrien seit vielen Jahren. Während enorme Summen jedes Jahr für die sinnfreie Förderung des Landbesitzes in der landwirtschaftlichen Flächenförderung der EU ausgekehrt werden, kommen Regelungen zu dringlichen Minderungen von Verschmutzungen und Zerstörungen durch das industrielle Wirtschaften – wenn überhaupt – im Schneckentempo voran. Und im Zweifel ist die agrarchemische Industrie immer einen Schritt voraus mit Entwicklung und Einsatz neuer oder auch älterer (Glyphosat!) chemischer Substanzen, deren gravierende Schädlichkeit für Menschen, Bodenorganismen, Insekten u. a. Lebewesen dann erst einige Jahrzehnte später nicht mehr erfolgreich bestritten werden können.

Handlungsmöglichkeiten

Aus Sicht der Technikfolgenabschätzung stellt sich die Frage nach Handlungsmöglichkeiten. Die Autorin und die beiden Autoren geben hier ganz unterschiedliche Antworten. Peter Berthold schlägt vor, dass auf dem Gebiet jeder Kommune in Deutschland ein Biotop eingerichtet werden soll, in dem mit vielfältigem Bewuchs und möglichst Wasser ein Lebens- und Rückzugsraum für vielfältige Arten entstehen und sich entwickeln kann. Der Biotopverbund Bodensee bildet hierfür einen erfolgversprechenden Referenzrahmen (S. 169 ff.). Durch die zahlreichen kommunalen Biotope würde quasi von selbst ein Netzwerk von Biotopen entstehen, die durch ihre relative räumliche Nähe eine Gegenbewegung zu der vorhandenen Biotopzerstörung und -zerschneidung bilden würde. Florian Schwinn zeigt in seiner „Humuswende“ (S. 225 ff.) an vielen erfolgreichen Beispielen von verschiedenen Bauernhöfen in etlichen Regionen Deutschlands, dass es durchaus möglich ist, auch unter schwierigen natürlichen und klimatischen Bedingungen die Bodenfruchtbarkeit, deren Dreh- und Angelpunkt der Humus ist, zu verbessern. Schwinn setzt auf die ermutigende Wirkung des Exempels. Tanja Busse schließlich plädiert u. a. dafür, ein „Tribunal der Arten“ (S. 371 ff.) einzuberufen, in dem alle Arten zu Wort kommen, deren Entwicklung und Existenz durch menschliche Handlungen gefährdet sind.

Auch für diese Handlungsmöglichkeiten gilt, dass sie immer wieder auf das eiserne Korsett des herrschenden Besitz-, Rechts- und politischen Systems stoßen, wie Tanja Busse, Florian Schwinn und Peter Berthold immer wieder notieren. Eine Korsettstange ist der private Bodenbesitz als Mittel zur Gewinnerzielung – mitsamt dem daran ausgerichteten staatlichen Handeln. Das mindert den Wert der Vorschläge keineswegs. Es erinnert nur daran, dass Grundprobleme der heutigen Produktionsweise noch zu lösen sind. Und das weltweit.

Footnotes

[1]   Dazu gehören auch die Krankheitssysteme.

[2]   Die übliche biologische Definition von biologischer Vielfalt beinhaltet drei Ebenen: genetische Vielfalt, Artenvielfalt und Habitatvielfalt.

Literatur

Intergovernmental Science-Policy Platform for Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) (2019): Global assessment report on biodiversity and ecosystem services. Online verfügbar unter https://ipbes.net/global-assessment, zuletzt geprüft am 17. 04. 2020.

Meiksins Wood, Ellen (2002): The origin of capitalism. A longer view. London: Verso.