Editorial

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TATuP Bd. 29 Nr. 3 (2020), S. 3, http://dx.doi.org/10.14512/tatup.29.3.3

Das aktuelle TATuP-Thema „Demokratie und Technikfolgenabschätzung (TA)“ erscheint gut gewählt, greift es doch virulente Fragen nach der angemessenen Normativität von TA auf, die sich z. B. in widerstreitenden Forderungen nach strikter Neutralität oder nach Parteinahme „für die richtige Sache“ äußern. Diese Fragen verschärfen sich auch vor dem Hintergrund der an sich willkommenen Öffnung von TA hin zu „Global TA“, denn viele ihrer Zielländer sind bekanntlich nicht demokratisch verfasst (China) oder demokratiefern (Russland). Selbst etablierte Demokratien (Brasilien, USA, Türkei) stehen derzeit unter hohem machtpolitischem Druck oder leiden an der Schwäche ihrer Institutionen (Mexiko).

Optimisten sehen hier TA als demokratieförderndes Unterfangen. So erwartet etwa Elena Seredkina (TU Perm), dass TA in der russischen Technologiepolitik die „richtige“ Balance zwischen Regierungshandeln und Bürgerbeteiligung erreichen wird (siehe TATuP Heft 29/2, S. 7). Kritische Stimmen werden dagegen TA hier eher als Feigenblatt sehen, das nur den politischen Eliten dieser Länder dienen kann. Zumindest ist das europäische TA-Verständnis auch eine Herausforderung für demokratieferne Länder mit TA-Ambitionen. Kann also TA den offenen Dialog zu soziotechnischen Fragen anstoßen oder wird sie sich in der Praxis notgedrungen den vorfindlichen politischen Realitäten unterordnen müssen?

In gewisser Weise stellen sich diese Fragen auch auf europäischer Ebene. Beispielsweise hat das EPTA-Netzwerk neben USA und Russland auch Polen als korrespondierendes Mitglied, das ja derzeit mit der EU im Konflikt um rechtsstaatliche Prinzipien liegt. Auch Ungarn und Tschechien sind von Demokratiemüdigkeit gekennzeichnet. Und selbst in Westeuropa wird nun die langjährig stabile „Wertegemeinschaft“ durch populistische Strömungen in Frage gestellt.

Somit sehen sich TA, ihre Konzepte und ihre Praxen auch in vermeintlich „sicheren Häfen“ künftig stärker herausgefordert. Denn klar ist, dass nur Freiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit die Nachfrage nach unabhängiger TA erst ermöglichen. Klar ist m. E. aber auch, dass TA keinen expliziten Demokratieauftrag hat und sich insofern weiter auf die offene Reflexion von Techno-Science und Gesellschaft fokussieren sollte, um ihr eigenes Profil in der Arena von Politik und Gesellschaft nicht zu verwässern. TA wird gleichwohl vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt und sich wandelnder politischer Kulturen neu auszuloten und zu definieren sein – hoffentlich ohne dabei ihr Gesicht zu verlieren.

Stephan Lingner

Stephan Lingner

Institut für qualifizierende Innovationsforschung und -beratung GmbH (IQIB), Bad Neuenahr-Ahrweiler
(stephan.lingner@iqib.de)