DEBATTE

Muster ohne Wert

Nassehis folgenloses Räsonieren über die digitale Gesellschaft

Johannes Weyer, Fachgebiet Techniksoziologie, TU Dortmund, Otto-Hahn-Str. 4, 44221 Dortmund (johannes.weyer@tu-dortmund.de) https://orcid.org/0000-0002-0181-8723

This is an article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License CCBY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

TATuP Bd. 29 Nr. 3 (2020), S. 76–77, https://doi.org/10.14512/tatup.29.3.76

Wer sich mit der Digitalisierung beschäftigt und nach dem Beitrag der Soziologie zum Verständnis der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fragt, kommt nicht umhin, sich mit den Zeitdiagnosen von Hartmut Rosa und Armin Nassehi zu befassen – zwei prominenten Vertretern des Faches, die das Bild der Soziologie in der Öffentlichkeit prägen. Denn das Projekt der Digitalisierung ist kein rein technisches Unterfangen, sondern ist auf die Mitwirkung der Sozialwissenschaften angewiesen. Wenn es beispielsweise um die Akzeptanz neuer Technik, die Änderung alltäglicher Praktiken und Routinen oder das Vertrauen in Institutionen (etwa des Datenschutzes) geht, ist soziologische Kompetenz gefragt. Auch die Abschätzung der gesellschaftlichen Folgen neuer Technik, also ihrer Potenziale und Risiken, kann nicht anderen Wissenschaften überlassen werden.

Die Technikfolgenabschätzung darf von der Soziologie folglich erwarten, nicht nur TA-kompatible Methoden und Reflexions- bzw. Orientierungswissen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Sie darf vielmehr auch auf Konzepte hoffen, die zu einem Verständnis der Funktionsweise komplexer soziotechnischer Systeme beitragen und zudem Ansatzpunkte für deren nachhaltige Gestaltung aufzeigen.

Weder Hartmut Rosa noch Armin Nassehi gelingt es, diese Erwartungen zu erfüllen. Beide liefern Diagnosen der modernen Gesellschaft, die mit wohlfeilen Worten elegant am Kern der Sache vorbeiargumentieren und zentrale Fragen unbeantwortet lassen – insbesondere diejenigen, die die TA-Community interessieren.

Beschleunigung

Hartmut Rosa hat eine Theorie der modernen Gesellschaft vorgelegt, die in dystopischen Tönen die Beschleunigung des Alltags beschreibt, welche mit der Einführung jeder neuen Technik einhergeht. Der sich beschleunigende technische und soziale Wandel brächte, so Rosa, eine Beschleunigung des Lebenstempos sowie eine Steigerung der „Zahl der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (2005, S. 463) mit sich. Zwar verspreche jede neu eingeführte Technik eine Zeitersparnis, doch führe dies letztlich zu Stress und Burnout. Vor diesem Hintergrund rückt Rosa die Frage in den Mittelpunkt, wie eine „Soziologie des guten Lebens“ (2012, S. 7) möglich sei. Er findet Antworten in Formen der Entschleunigung und neuerdings auch im Konzept der „Resonanz“ (2016) – einer neuen Form der Weltbeziehung, durch die das Individuum versucht, mit sich und der Welt wieder ins Reine zu kommen.

Rosas Analyse fokussiert nahezu ausschließlich auf die Ebene des singulären Individuums, thematisiert insbesondere dessen psychische Belastung und sucht neuerdings Auswege im Esoterischen. Gesellschaftspolitische Fragen der Gestaltung der modernen, digitalen Gesellschaft behandelt er allenfalls am Rande. Rosa brilliert vor allem mit starken, suggestiven Behauptungen, die nur schwach empirisch fundiert sind und als Quellen vor allem soziologische Klassiker sowie anekdotische Evidenzen anführen.

Muster

Im Gegensatz dazu verzichtet Armin Nassehi auf jeglichen Alarmismus und demonstriert mit Beispielen aus dem Alltag des Homo Digitalis, dass er sich in der digitalen Gesellschaft gemütlich eingerichtet hat. Er behauptet gänzlich unbescheiden, die erste Theorie der digitalen Gesellschaft vorgelegt zu haben, gesteht aber zugleich ein, nie zum Thema geforscht zu haben (2019, S. 11).

Nassehi etikettiert seinen Ansatz dezidiert als Techniksoziologie (S. 18 f.). Dies kann als eine Kampfansage an die sozialwissenschaftliche Technikfolgenforschung verstanden werden; denn er formuliert explizit sein Anliegen, den Blick auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Digitalisierung statt auf deren gesellschaftliche Folgen zu richten. Auf diese Weise entledigt er sich der meisten Fragen, die die TA-Community interessieren würden, und erteilt sich zugleich eine Art Generallizenz, über dieses und jenes zu räsonieren, z. B. über das frühe Christentum und den Buchdruck – beides Themen, bei denen sich die Verbindung zur digitalen Gesellschaft nicht gerade aufdrängt.

Sein zentrales Credo lautet, die Gesellschaft sei schon immer digital gewesen, und deshalb passe die Digitalisierung so gut zur Gesellschaft (S. 20, 343). Eigentlich gebe es nichts Neues zu entdecken (S. 349). Schon der Buchdruck des 15. Jahrhunderts hätte eine zeichenhafte Verdopplung der Welt geleistet (S. 146–151), und auch die Sozialstatistik des 19. Jahrhunderts hätte mithilfe ihrer Rechenverfahren bereits Muster in den Daten erkannt (S. 49–51). Nassehi setzt hier Zeichenhaftigkeit und Rechenhaftigkeit mit Digitalisierung gleich und blendet damit das Spezifikum digitaler Daten aus, die – auch im Bereich der privaten Lebenswelt – maschinell erhoben, verarbeitet und zu Echtzeit-Lagebildern aggregiert werden können. Dies konnten weder Gutenberg noch die frühen Sozialstatistiker.

Nassehi verzichtet auf eine systematische Analyse der digitalen Gesellschaft und verweist stattdessen auf Analogien und Ähnlichkeiten – nach dem Trump’schen Motto: Corona ist so ähnlich wie Grippe. Digital ist so ähnlich wie analog (z. B. S. 191). Googles Suchmaschine wäre demnach nicht weiter als eine gigantische Druckerpresse, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft nicht zu analysieren lohnt.

Nassehi richtet den Blick auf gesellschaftliche Voraussetzungen der Digitalisierung und nicht auf deren Folgen.

Letztlich dienen Nassehis Ausführungen vor allem dem Nachweis, dass alles, was man über die digitale Gesellschaft wissen muss, bereits in den Werken der Klassiker nachzulesen sei, z. B. bei Niklas Luhmann, dessen Systemtheorie die Welt in die Schubladen der operativ geschlossenen Systeme einsortiert. Aber die Digitalisierung passt nicht ins Schema, überschreitet sie doch Grenzen, beispielsweise der Privatheit. Also macht man sie passend. Binäre Codes in den Funktionssystemen, binäre Codierung im Digitalen. Das klingt irgendwie ähnlich und erklärt – Nassehi wiederholt es unermüdlich –, warum die Digitalisierung so gut zur Gesellschaft passt (S. 190, 257, 262, 264, 344). Mithilfe dieses Tricks entledigt Nassehi sich seiner Ausgangsfrage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Digitalisierung. Die Systemtheorie ist wieder mit sich im Reinen und muss sich nicht mehr mit den Details des digitalen Alltags befassen.

Evidenzbasierte Wissenschaft?

Weder Rosa noch Nassehi leisten eine Analyse der digitalen Gesellschaft, die Ansatzpunkte für deren humane, nachhaltige, risikoarme Gestaltung eröffnet und Impulse für die Technikfolgenforschung gibt. Ihre eloquenten Streifzüge durch die Geistes- und Kulturgeschichte vergangener Epochen sind ein folgenloses Räsonieren, das am Kern einer soziologischen Analyse komplexer Sozialsysteme vorbeigeht.

Von einem Klimaforscher erwarten wir, dass er singuläre Ereignisse (z. B. das Schmelzen der Gletscher) systematisch mit dem Zustand eines von ihm modellierten Systems (des Weltklimas) verknüpft und mithilfe von Modellrechnungen Prognosen generiert (z. B. eines Ansteigens des Meeresspiegels). In der Soziologie sind evidenzbasierte Modelle wenig verbreitet, die die Mikroebene des Individuums systematisch mit der Makroebene gesellschaftlicher Funktionssysteme (z. B. des Verkehrs- oder Energiesystems) verknüpfen und die Wechselwirkungen der beiden Ebenen thematisieren (Esser 1993). Eine derartige Modellierung ermöglicht es, die Systemdynamiken zu verstehen, vor allem aber Prognosen über mögliche künftige Ereignisse zu treffen. Zudem lassen sich auf diese Weise Ansatzpunkte für steuernde Interventionen identifizieren.

Echtzeitsteuerung

Eine Soziologie der digitalen Gesellschaft kann mehr leisten als nur die Temporalinsolvenz zu beklagen (Rosa) oder die zeichenhafte Verdopplung der Welt zu thematisieren (Nassehi). Sie sollte auch Phänomene wie die Echtzeitsteuerung in den Blick nehmen – eine neue Form der Steuerung komplexer soziotechnischer Systeme, die durch deren Digitalisierung möglich wird.

Das Beispiel des Verkehrssystems illustriert die erstaunliche Leistungsfähigkeit dieses neuen Governance-Modus, der Elemente von zentraler Steuerung und dezentraler Koordination kombiniert: Die Verkehrsteilnehmer*innen produzieren große Mengen von Daten, die zu Lagebildern verdichtet werden, welche es wiederum ermöglichen, quasi in Echtzeit steuernd in das Systemgeschehen einzugreifen. Dieser Mikro-Makro-Mikro-Mechanismus erlaubt es den gesteuerten Individuen, autonom zu entscheiden, ob sie den Empfehlungen (z. B. eine andere Route zu wählen) folgen oder nicht. Ob und wie dies funktioniert und wie sich das Verkehrs- oder das Energiesystem nachhaltig transformieren lässt, kann man mithilfe von Computermodellen und Simulationsexperimenten erforschen (Weyer 2019).

Insofern greift es zu kurz, von der digitalen Gesellschaft zu sprechen, wenn man in soziologischer Perspektive das Verhältnis von (digitaler) Technik und Gesellschaft untersucht. Denn Digitalisierung ist der technische, nicht aber der komplementäre gesellschaftliche Prozess. „Echtzeitgesellschaft“ wäre eine mögliche Alternative (Weyer 2019), weil dieses Konzept die sozialen Dimensionen einer beschleunigten Gesellschaft (Rosa) in den Blick nimmt, in der algorithmisch generierte Muster (Nassehi) dazu verwendet werden, komplexe soziotechnische Systeme in Echtzeit zu steuern.

Literatur

Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main: Campus.

Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C. H. Beck.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Weyer, Johannes (2019): Die Echtzeitgesellschaft. Wie smarte Technik unser Leben steuert. Frankfurt am Main: Campus.

Der oben stehende Text wurde mit Zustimmung seines Autors und mit der Möglichkeit für eine Replik vor Abdruck an Armin Nassehi gesendet.