Rezension

Baustelle Mobilität?

Max Reichenbach, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Postfach 3640, 76021 Karlsruhe (max.reichenbach@kit.edu) https://orcid.org/0000-0001-9648-6313

Maike Puhe, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (maike.puhe@kit.edu) https://orcid.org/0000-0002-8376-4166

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TATuP Bd. 30 Nr. 1 (2021), S. 81–82, https://doi.org/10.14512/tatup.30.1.81

Brunnengräber, Achim; Haas, Tobias (Hg.) (2020): Baustelle Elektromobilität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Transformation der (Auto-)Mobilität. Bielefeld: transcript. 448 S., 38 €, ISBN 9783837651652, Open Access https://doi.org/10.14361/9783839451656

Eine Million zugelassene Elektroautos auf Deutschlands Straßen im Jahr 2020 – das war 2009 das politisch gesetzte Ziel. Das Jahr 2020 ist vorbei: Das Verfehlen der Million war schon länger eingestanden, sie wird nun erst für 2022 erwartet; dafür sollen es nun 2030 zehn Millionen und dazu eine Million öffentliche Ladepunkte sein. Zurecht setzen also Achim Brunnengräber und Tobias Haas das Stichwort „Baustelle“ in den Titel ihres Sammelbandes zur Elektromobilität, in dem sozialwissenschaftliche Perspektiven zu diesem Thema versammelt sind, wie der Untertitel verrät. Der Sammelband ist im Zusammenhang mit dem Projekt „Politische Ökonomie der Elektromobilität“ (2017–2021) zu sehen, welches die beiden Herausgeber zusammen am Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin leiten und in dessen Rahmen zwei Workshops stattfanden, in denen das Buchkonzept entwickelt wurde.

Der Sammelband umfasst vier Teile mit jeweils drei bis fünf Beiträgen: Die Mobilität im Wandel, Räumliche Ausprägungen des Mobilitätswandels, Lieferketten und Rohstoffe sowie Wertschöpfung und Beschäftigung. Aufgrund dieser großen thematischen Spannweite fokussiert sich diese Rezension vor allem auf den Gesamteindruck und einzelne Beiträge im Buch; insbesondere den Teil zu Lieferketten und Rohstoffen klammern wir hier im Wesentlichen aus.

Die große thematische Spannweite führt direkt zur Kernfrage, die sich schon beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses und erst recht beim Lesen des einführenden Beitrags der Herausgeber stellt: Geht es hier um die Elektromobilität oder um den Wandel von Mobilität insgesamt? Nicht nur Covid-19 hat 2020 durcheinandergewirbelt, wie wir über Mobilität denken; schon davor wurde die ‚Verkehrswende‘ zum breit in der Öffentlichkeit diskutierten Stichwort, angetrieben z. B. auch durch Fridays for Future. Wie gelingt es also den Herausgebern, in diesem Umfeld Fragestellungen zur Elektromobilität abzugrenzen?

Elektroautos alleine helfen der Transformation des Mobilitätssystems nicht

Um es kurz zu sagen: Diese Abgrenzung fällt schwer. Schon in ihrer Einführung machen die Herausgeber deutlich, dass eine „1:1-Elektrifizierung der Fahrzeugflotte“ (S. 18) sozial-ökologisch kaum hilft und die Wechselwirkungen zwischen Elektrifizierung und Umbau des Mobilitätssystems deswegen mit beachtet und analysiert werden müssen, um die Rolle der Elektromobilität als Baustein für die Transformation des Mobilitätssystems sinnvoll und letztlich mit gesellschaftlichem Mehrwert diskutieren zu können. Besonders deutlich wird diese Herausforderung im ersten und zweiten Teil: Dort fassen die einzelnen Beiträge das Thema einerseits besonders weit, betrachten das Mobilitätssystem als Ganzes oder nehmen Aspekte in den Vordergrund, die sich eher um die Automobilität insgesamt als deren Antriebstechnologien drehen. Während damit die Elektromobilität nur noch Bezugspunkt (statt alleinig fokussierter Betrachtungsgegenstand) ist, setzen die Beiträge dieser Teile zugleich einen äußerst wichtigen Rahmen, der für den gesamten Band die Einordnung der Elektromobilität erleichtert und es möglich macht, diese zu anderen Entwicklungen im Mobilitätssystem in Bezug zu setzen.

Katharina Manderscheid hilft gleich zu Beginn mit ihrem Beitrag, der dreifach zwischen den Debatten zur Antriebs-, Verkehrs- und Mobilitätswende unterscheidet, „die in einem Steigerungsverhältnis hinsichtlich der Tiefe der Transformation zueinander stehen“ (S. 40). Die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen die Elektromobilität nur eine Antriebswende oder eine Mobilitätswende herbeiführen kann, wird in verschiedenen Beiträgen mit unterschiedlichem Fokus aufgegriffen. Einig sind sich die Autorinnen und Autoren, dass für eine tiefgreifende Transformation existierende und vielfältige automobile Pfadabhängigkeiten aufgebrochen werden müssen. Exemplarisch wird das an Fabian Zimmers Beitrag zu diesem Thema deutlich: Dieser zeigt u. a. durch Einblicke in die Automobilgeschichte, wie bestimmte technologische oder infrastrukturelle Entscheidungen einzelne Entwicklungspfade stabilisieren und so späteres Umsteuern auf Basis veränderter Zielsetzungen erschweren, was durch die Investitionen in die Elektrifizierung des Autos noch stärker konserviert wird.

Der Band zeigt die vielfältigen Wechselwirkungen, die über einen Austausch des Antriebsaggregats im Auto weit hinausgehen.

Im Band wird die Relevanz von Pfadabhängigkeiten aber auch an anderer Stelle deutlich: Weert Canzler und Andreas Knie skizzieren, wie die Elektromobilität dazu beitragen könnte, ein neues, wirkmächtiges Narrativ von nachhaltiger Mobilität zu entwickeln und so existierende Pfade zu verlassen. Jörg Radtke und Jürgen Daub beschäftigen sich mit der Verkehrswende im suburbanen Raum, wo die bestehende Infrastrukturausstattung zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten wesentlich prägt, und warnen zugleich bei einer zu starken Fokussierung auf Effizienzstrategien vor der Gefahr neuer Pfadabhängigkeiten. Sybille Bauriedl setzt sich anhand des E-Carsharing, ebenfalls kritisch, mit den Verheißungen neuer Mobilitätsdienstleistungen auseinander und fragt, für wen diese eigentlich geschaffen werden. Auch in Anja-Desirée Senz‘ Beitrag zur Rolle Chinas u. a. durch seine industriepolitischen Ambitionen im Automobilmarkt oder in Maximilian Strötzels Beitrag zur Krise der Automobilindustrie aus gewerkschaftlicher Perspektive wird sichtbar, wie das heute Vorhandene die Handlungsstrategien für die Zukunft prägt. Eindrücklich wird dieser Zusammenhang auch in Andrea Sticklers Beitrag zum gleichsam benachbarten Thema automatisiertes und vernetztes Fahren, in dem sie durch eine Diskursanalyse den „ingenieurswissenschaftlich dominierte[n] Diskurs“ (S. 110) anschaulich macht und problematisiert: Durch diesen, so Stickler, bestehe nicht einfach ein Mangel an „umfassende[n] sozial- und politikwissenschaftliche[n] Studien“ (S. 110), sondern es bleiben letztlich jene „umwelt-, sozial- oder raumverträglichen Prinzipien“ (S. 108) unterbelichtet, die gerade die Brücke bilden zu den Fragen, die es zur Rolle des automatisierten Fahrens ebenso wie der Elektromobilität in der Transformation des Mobilitätssystems zu stellen gilt.

Lesenswert trotz einiger Lücken

Durch die hier beispielhaft aufgegriffenen Verflechtungen der Beiträge untereinander lässt sich der Sammelband insgesamt auch als ein Versuch lesen, die skizzierten Unschärfen und Lücken in der bisherigen Debatte zu den technologischen Entwicklungen im Mobilitätssystem zu problematisieren. Elektromobilität wird hier explizit und prominent als sozio-technisches System konzeptualisiert, in dem sich technische, gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen gegenseitig beeinflussen. Um die nötige Transformation des Mobilitätssystems zu erforschen sowie intendierte und nicht intendierte Folgen frühzeitig abzuschätzen, ist eine solche umfassende Betrachtung essentiell. Der Sammelband hätte aus dieser Perspektive sogar einen Titel verdient, der einen weiter übergreifenden Anspruch als nur die Elektromobilität formuliert – auch wenn er diese Debatte nicht systematisch führt und insbesondere eine kapitelübergreifende Synthese mit den verbleibenden Herausforderungen im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs den Band ergänzen könnte.

Auch in der fokussierten Perspektive auf Elektromobilität verbleiben leider einige Lücken: So führt die Nutzerperspektive ein gänzlich spärliches Schattendasein. Aspekte wie die heterogenen und gleichzeitig überaus stabilen Nutzungsmuster in der Mobilität, u. a. zwischen den Geschlechtern, werden nur angerissen, z. B. im Beitrag von Sybille Bauriedl zu E-Carsharing. Eine tiefgreifende Auseinandersetzung fehlt, obwohl gerade die sozialwissenschaftliche Perspektive hier einen wichtigen Beitrag leisten kann, der Erklärungen jenseits individueller Einstellungen und Einkommenslagen bereitstellt – die im Band ebenfalls eher knapp behandelt werden. Außerdem fällt auf, dass Elektromobilität stark als Automobilität gerahmt wird und Busse, Scooter oder Pedelecs nur am Rande oder als Baustein eines Portfolios auftauchen. Die internationale Perspektive beschränkt sich im Buch auf die Rohstoffe und die Herstellerseite; die Rolle der Elektromobilität in den Mobilitätssystemen unterschiedlicher Länder oder gar Kontinente kommt dagegen nicht zur Sprache, wobei es in einer globalisierten Welt ja gerade diese Entwicklungen sind, von denen die Automobilwirtschaft maßgeblich beeinflusst ist. Deutlicher hätten schließlich auch die konkreten Schnittstellen zu ingenieurswissenschaftlichen und ökonomischen Fragestellungen herausgearbeitet werden können – auch und gerade um anschlussfähig für den im Band als technikfixiert identifizierten Diskurs zu sein.

Dennoch bietet der Sammelband in der Summe lesenswerte und auch ohne tiefes fachliches Hintergrundwissen interessante Impulse zum Thema (Elektro-)Mobilität und darüber hinaus. Er zeigt dabei Einsteigern anschaulich die Komplexität des Themas und die herausfordernd vielfältigen Wechselwirkungen auf, die über einen einfachen Austausch des Antriebsaggregats im Auto weit hinausgehen. Zugleich regt er auch Expertinnen und Experten zum Nachdenken an, wo vielleicht im eigenen Fachdiskurs blinde Flecken oder ‚diskursive Pfadabhängigkeiten‘ liegen könnten – deren Abbau nur im Sinne der gesellschaftlichen Herausforderung sein kann, die eine weitreichende Transformation des Mobilitätssystems bedeutet.