Systembiologie als Nexus zwischen Genen und Gesundheit? TA-Implikationen konzeptioneller Innovation in den Lebenswissenschaften

Schwerpunkt: Science- und/oder Technology-Assessment?

Systembiologie als Nexus zwischen Genen und Gesundheit?

TA-Implikationen konzeptioneller Innovation in den Lebenswissenschaften

von Regine Kollek, BIOGUM Hamburg

Die neue Systembiologie kann als Reaktion auf den molekularen Reduktionismus betrachtet werden, der die biomedizinische Forschung jahrzehntelang dominierte. Ihre forschungspragmatische Umsetzung wäre jedoch ohne die Zusammenführung verschiedener technologischer Entwicklungen kaum möglich. Deshalb ist nach ihren Implikationen für Wissenschaft und Gesellschaft – und hier speziell für die Medizin und das Gesundheitswesen – zu fragen. Dieser Artikel erläutert die Charakteristika der „neuen“ Systembiologie und skizziert einige ihrer Ansätze in der Medizin, bevor die konzeptionellen Prämissen und Handlungsziele der Systemmedizin und ihr „Technoscience-Charakter untersucht werden. Abschließend werden einige Aufgaben benannt, die sich aus diesen Entwicklungen für ein „science“ und/oder „technology assessment“ ergeben.

1    Einleitung

Bei der Evaluation biomedizinischer Innovationen stehen häufig einzelne Techniken wie beispielsweise prädiktive Gentests oder die tiefe Hirnstimulation sowie deren ethische und gesellschaftliche Implikationen im Zentrum der Untersuchung. Entwicklungen wie die Systembiologie (SB) passen jedoch nicht in dieses Muster: Es handelt sich bei ihnen nicht um eine Technologie, sondern um einen konzeptionellen Wechsel der Perspektive von den molekularen hin zu den „Systemeigenschaften“ von Lebensphänomenen. Nichtsdestotrotz kann ein solcher Perspektivenwechsel weitreichende Konsequenzen haben. Der veränderte Blick auf die Entitäten und Prozesse des Lebendigen eröffnet Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, die das Menschenbild, das medizinische Handeln sowie die Normen menschlichen Zusammenlebens nachhaltig verändern können.

Die neue SB, die um die Millenniumswende herum deutlichere Konturen annahm[1], ist eine Reaktion auf die jahrzehntelange Fokussierung der lebenswissenschaftlichen Forschung auf die molekulare Ebene. Die im Rahmen des Humangenom-Projekts noch bestehende Hoffnung, dass die Identifikation von Genen, die in Krankheitsprozesse involviert sind, ermöglichen würde, neue Wirk- und Zielmoleküle für Therapie und Diagnostik zu definieren, hat sich nur bedingt realisiert. Gefordert wurde deshalb die Entwicklung und Förderung von Forschungsansätzen, die auf ein besseres Verständnis des Zusammenwirkens molekularer Komponenten in Zellen bzw. Organismen abzielen und es ermöglichen sollen, Vorhersagen über das Verhalten der untersuchten Systeme zu treffen. Dabei soll die Integration von Daten zu einem Systemverständnis lebender Entitäten und Prozesse führen. Laut BMBF gilt sie „nach der breiten Einführung molekularbiologischer Methoden in Medizin und Biologie als zweite entscheidende Schlüsseltechnologie für den Erkenntnisfortschritt in den Lebenswissenschaften. Gleichzeitig legt sie die Basis für die Erschließung neuer Innovationspotenziale in der wissensbasierten Bioindustrie“ (BMBF 2008, S. 6).

Obwohl die SB überwiegend biologische Grundlagenfragen bearbeitet, sind diese zumeist unmittelbar auf mögliche Anwendungen gerichtet. Vor allem in der Medizin verspricht man sich von ihr weitreichende Impulse für das Verständnis von Krankheit und Gesundheit sowie für die Behandlung verbreiteter Leiden. Wie bei allen wissenschaftlich-technischen Innovationen ist es sinnvoll, die dadurch induzierten bzw. erwarteten Entwicklungen zu untersuchen und auf mögliche unerwünschte Effekte hin zu überprüfen. In diesem Artikel werden zunächst Charakteristika und Ziele der SB erläutert und ihre wissenschaftliche Bedeutung dargestellt, bevor einige systemorientierte Ansätze in der Medizin skizziert werden. Im Anschluss geht es um die konzeptionellen Prämissen und Handlungsziele der systembiologischen Forschung; hier stellt sich auch die Frage nach dem Technoscience-Charakter der SB. Der letzte Abschnitt ist den Aufgaben gewidmet, die sich aus der SB für die Technikfolgenabschätzung (TA) ergeben.

2    Der Blick auf das Ganze: Integration molekularer Daten

Nach dem Hype um die Analyse des menschlichen Genoms und die damit verbundenen Versprechungen zu Beginn der 1990er Jahre ist heute klar, dass die Sequenz der DNA alleinwenig aussagt; weder lässt sich daraus die Funktion einzelner Gene bzw. Genomabschnitte ableiten, noch der Phänotyp einer Zelle oder eines Organismus vorhersagen. In Reaktion auf diesen Befund entwickelten sich zunächst die sog. „omics-Disziplinen“. Sie wollen nicht nur Genome (genomics), sondern auch die bereits prozessierte und in Botenmoleküle (transciptomics), Proteine (proteomics) oder Stoffwechselwege (metabolomics) übersetzte Information in ihrer Gesamtheit erfassen. Erklärtes Ziel ist die Beschreibung der Komplexität zellulärer Prozesse und ihrer Umsetzung in Funktionen oder Phänotypen. Resultat dieser Bemühungen ist jedoch weniger ein besseres Verständnis, sondern eher eine exponentiell ansteigende Fülle von Daten, die allein für sich wenig aussagekräftig ist. Ohne mehrdimensionale Modelle, die eine räumliche und zeitliche Verortung der zellulären Komponenten ermöglichen sowie deren Wechselwirkungen und quantitative Aspekte berücksichtigen, ist eine sinnvolle Interpretation zumeist nicht möglich. Denn die Information, die auf einem bestimmten Gen- bzw. DNA-Fragment liegt, hängt zwar auch von deren molekularer Struktur ab, kann aber nur in Bezug auf einen bestimmten Empfänger wie z. B. ein Rezeptormolekül angegeben werden.[2]

Die SB versucht, solche komplexen Modelle zu entwickeln. In diesem Sinne ist sie auch ein forschungspragmatisch notwendiger Perspektivenwechsel für den Umgang mit unüberschaubar gewordenen Variablen und den dazugehörigen Datenmengen. Bis weit in die Ära der Genomforschung hinein wurden die Variablen eines biochemischen Reaktionsnetzwerks und ihre Relationen untereinander in Form biochemischer Verlaufsdarstellungen (sog. pathway maps) dargestellt. Was darin jedoch nicht abgebildet werden kann (und bei der Entwicklung dieser Karten auch nicht im Vordergrund stand), sind beispielsweise die dreidimensionalen Relationen der beteiligten Komponenten, quantitative Aspekte oder Dynamiken. Ein zentrales Ziel der aktuellen SB ist es deshalb, diese statischen Karten in dynamische Modelle zu transformieren, die einen Einblick in die zeitliche Evolution biochemischer Reaktionsnetzwerke vermitteln (Wolkenhauer et al. 2005).

Die Konstruktion solcher Netzwerke stellt einen gemeinsamen Nenner aller systembiologischen Ansätze dar. Ziel ist es, die Reaktion des untersuchten (Sub-)Systems auf der Grundlage solcher Modelle so genau wie möglich vorherzusagen, um gezielte Interventionen zu ermöglichen. Während in den Anfangsphasen Reaktionsketten oder einfache Netzwerke modelliert wurden, stehen mittlerweile komplexere Systeme auf dem Programm. So ist es kürzlich gelungen, ein Computermodell des Wachstums- und Teilungszyklus des einzelligen Krankheitserregers „Mycoplasma genitalium[3] zu erstellen (Karr et al. 2012). Generell geht es der SB jedoch nicht unbedingt darum, Organismen vollständig zu beschreiben. Ihre „Systeme“ können unterschiedlich komplex und auf differierenden Organisationsebenen angesiedelt sein sowie von Aggregaten zweier interagierender Moleküle bis zu Organen oder Organismen reichen (Strange 2005).

3    Systemmedizin: Vorhersage und Kontrolle physiologischer Reaktionen

In der biomedizinischen Forschung, die auf die Aufklärung von Krankheitsmechanismen und die Identifikation neuer Ansatzpunkte und Wirkstoffe für therapeutische Interventionen zielt, trifft die SB auf großes Interesse. Denn trotz intensiver Forschung, massiver Förderung und exponentiell steigender Ergebnis- und Datenproduktion ist der klinisch relevante Ertrag dieser Forschung enttäuschend. Beispielsweise sank die Zahl neuer Wirkstoffmoleküle, die von der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA als Arzneimittel zugelassen wurden, von 53 im Jahr 1996 auf 19 im Jahr 2009 (Mullard 2012). Allerdings erfolgte bis 2011 wieder einen leichter Anstieg auf 24 (ders. 2012). Weiterhin kann die Entwicklung eines Medikaments relativ lange dauern und beträgt durchschnittlich 13 Jahre.[4] Eines der Probleme dabei ist, dass nur wenige Substanzen die notwendigen Verträglichkeits- und Wirksamkeitstests überstehen und für die Anwendung am Menschen zugelassen werden.

Aufgrund der hohen Unsicherheiten soll die Vorhersage der Wirksamkeit von Kandidatenmolekülen verbessert und somit die Entwicklungszeiten verkürzt werden. Die SB entwickelt nun auf der Grundlage von Daten aus Zeitreihen dynamische Modelle, die physiologische Zustände besser verständlich machen, die mit Gesundheit und Krankheit assoziiert sind. Die auf der Systemebene arbeitenden Methoden sollen auch die Konstruktion von Netzwerken erlauben, die einen aussagekräftigeren Kontext für die Interpretation der Funktion der Gene bereitstellen, die im Zuge genomweiter Assoziationsstudien als krankheitsrelevante Kandidaten oder neue Zielmoleküle identifiziert wurden. Von daher hat die computergestützte, mathematische Modellierung lebender Systeme für die medizinische Forschung eine besondere Bedeutung (Assmus et al. 2006). Sie soll nicht nur die Entdeckung neuer Zielmoleküle für Medikamente befördern, sondern die Chancen auf eine positive klinische Prüfung dramatisch verbessern (Schadt et al. 2009).

Heute ist die neue Systembiologie dabei, sich ihren Platz in der klinischen Forschung und ansatzweise bereits in der klinischen Praxis zu erobern. So will die System-Pharmakologie beispielsweise die Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten besser verstehen, indem sie deren Zielmoleküle im Kontext ihrer biologischen Netzwerke untersucht (Wist et al. 2009). Analysiert werden auch Wirkungen von Medikamenten auf körpereigene Netzwerke, die beispielsweise bei Herzerkrankungen gestört sind (Berger et al. 2011). Die systemorientierte Onkologie betrachtet Tumore als aus verschiedenen Zelltypen bestehende komplexe Strukturen, die gemeinsam die Tumorprogression befördern. Diese Wahrnehmung von Tumoren als „System innerhalb des Systems Patient“ soll Diagnose und Behandlung solcher Erkrankungen zukünftig erheblich verbessern. Grundlage dafür sind datenreiche biochemisch-genetische Profile individueller Tumore. Da verschiedene Patientengruppen unterschiedlich auf medikamentöse Wirkstoffe reagieren können, erhofft man sich davon Hinweise für die Stratifizierung von Patientengruppen und für die Vorhersage der Progression der Erkrankung (Critchley-Thorne et al. 2009). Andere systemmedizinische Ansätze richten sich auf Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen oder das „metabolische Syndrom“, bei denen mehrere physiologische Subsysteme des Körpers aus dem Gleichgewicht geraten sind.[5] Auch der Erkrankung einzelner Organe liegen in der Regel viele verschiedene Faktoren zugrunde, deren Wechselwirkungen bisher kaum verstanden sind. Ein systembiologischer Zugang, der die teilweise extrem umfangreichen Daten zu molekularen Veränderungen mit einer Computermodellierung verbindet, könnte zu einem umfassenden Verständnis solcher Erkrankungen beitragen und die klinisch wichtige Module in Zellen, Organen oder im Organismus identifizieren, die im Krankheitsprozess gestört sind. Solche Ansätze werden u. a. bei Nieren-, Herz- oder Lebererkrankungen verfolgt.

Insgesamt wird systembiologischen Ansätzen in der Medizin eine große Bedeutung zugemessen[6]. Darüber hinaus sieht man die SB als konstitutiven Bestandteil einer zukünftigen „personalisierten“, „prädiktiven“, „präventiven“ und „partizipativen“ Medizin an, die dann nicht länger als rein diagnostisch und kurativ gelten kann. Sie basiert auf der umfangreichen Analyse individueller genetischer und biochemischer Charakteristika (Hood/Friend 2011). Diese „P4-Medizin“, die teilweise auch als „systembiologische Medizin“ (Carlson 2010) bezeichnet wird, soll nicht nur die unmittelbare Behandlung von Patienten, sondern das gesamte medizinische System und die Gesundheitsversorgung grundlegend verändern (Bousquet et al. 2011).[7]

4    Technoscience oder „ganzheitlicher“ Zugang zum Leben?

Aufgrund der großen Hoffnungen, die sich mit der SB hinsichtlich der Medizin verbinden und des nahezu revolutionären Potenzials, das man ihr in diesem Bereich teilweise zuschreibt (Hood et al. 2012), ist nach den Prämissen und Implikationen dieses Ansatzes zu fragen, der zu so fundamentalen Veränderungen führen soll.

Der Auffassung vieler Systembiologen zufolge handelt es sich bei der SB weniger um eine Methode, eine Disziplin oder gar einen Paradigmenwechsel, sondern um einen neuen Ansatz, dem eine veränderte Perspektive und Herangehensweise an den Forschungsgegenstand zugrunde liegt (Kohl et al. 2010). Vielfach wird sie als Fortführung der klassischen Physiologie mit innovativen Mitteln angesehen (Strange 2005), die auch „integrative physiology 2.0“ (Kuster et al. 2011) oder „computational physiology“ (Auffray/Hood 2012) genannt werden. Nach der molekularbiologisch-reduktionistischen Perspektive der Genomforschung verspricht die SB in der Tat so etwas wie eine „ganzheitliche“ Perspektive auf die Entitäten und Prozesse des Lebendigen. Dennoch sind auch systembiologische Zugänge in methodischer und theoretischer Hinsicht[8] reduktionistisch (Ferrell 2009). Auch sie setzen darauf, komplexe biologische Systeme durch das Studium ihrer Bestandteile zu verstehen, berücksichtigen dabei allerdings auf einem höher integrierten Niveau als die Molekularbiologie deren Assoziation zu anderen Funktionseinheiten und Netzwerken sowie deren Interaktionen.

Solche grundsätzlichen Überlegungen zum Reduktionismus oder Holismus der SB und die Analyse ihrer Hoffnungen und Versprechen[9] helfen, ihren Charakter genauer zu verstehen. Doch die SB ist nicht nur eine auf hohem Niveau modellierende Molekularbiologie. Ihr konzeptionelle Kern sind vielmehr die Analyse, Quantifizierung, Formalisierung und mehrdimensionale Modellierung von Lebensprozessen, die die Molekularbiologie nur qualitativ und linear beschreiben konnte. Modelle sind aber immer auch durch experimentelle Prämissen und theoretische Vorannahmen über den Gegenstand geprägt. Vor diesem Hintergrund können beispielsweise vollständig auf theoretischen Überlegungen basierende Zellsysteme kreiert werden. Ihre Relevanz für real existierende, lebende Zellen oder Organismen ist allerdings unklar. Dieses Realitätsdefizit versuchen andere Ansätze zu vermeiden, indem sie Modelle entwerfen, die entweder auszugsweise oder vollständig auf experimentell erhobenen Daten basieren.[10] Insbesondere im zuletzt genannten Fall hofft man dabei zu Modellierungen zu gelangen, die natürlichen Systemen so ähnlich sind, dass sie realitätsrelevante Prädiktionen des Systemverhaltens erlauben und somit eine belastbare Grundlage für medizinische, im Effekt kontrollierbare Eingriffe in Patienten darstellen können. Letztlich möchte man virtuelle Patientenmodelle konstruieren, die die Hauptcharakteristika von Patienten repräsentieren und die es erlauben, Hypothesen zu generieren, die an kleinen Patientengruppen überprüft und validiert werden können (Auffray et al. 2010).

Abb. 1:  Die zweifache technische Zurichtung (Verfremdung) natürlicher Phänomene*

Die zweifache technische Zurichtung (Verfremdung) natürlicher Phänomene

*  In der Laborwelt bestimmt das Experimentalsystem mit seinen Selektivitäten Art und Charakter der experimentell generierten Daten. In der mathematischen Welt bestimmen die Ziele von Vorhersage und Kontrolle den Charakter und die Eigenschaften des Modells.[11]

Quelle:  Eigene Darstellung

Diese Hoffnungen sind nicht unberechtigt und können durchaus zu verbesserten Therapien führen. Im Blick auf mögliche Implikationen solcher Modellierungen ist jedoch bemerkenswert, dass es sich dabei nicht nur – wie bei den Ursache-Wirkungs-Modellen der Molekularbiologie – um eine einfache, sondern um eine doppelte technische Zurichtung handelt (siehe Abb. 1). Zum einen gibt das Design des Laborexperiments vor, welche Aspekte des Phänomens sichtbar gemacht werden. Diese Art der Zurichtung ist allerdings jeder (natur)wissenschaftlich-experimentellen Datenproduktion eigen. Im Rahmen der systembiologischen Konzeptualisierung und Modellierung erfolgt jedoch eine zweite Zurichtung, und zwar durch die mathematische Formalisierung, die die Konstruktion eines Computermodells erst ermöglicht. In den Entwurf eines solchen Modells gehen verschiedene medizinische, technische und ökonomische Zielvorstellungen ein. So sollen Prozesse und Reaktionen auf Interventionen reproduzierbar und kontrollierte Interventionen möglich sein. Ökonomische Vorgaben beschränken wiederum die Zahl der Komponenten, Prozesse und Einflussfaktoren, die bei der Modellierung berücksichtigt werden können.

Von daher sind auch Systemmodelle methodisch-reduktionistische Konstruktionen, die nur bestimmte Aspekte natürlicher Phänomene repräsentieren. Sie tun dies fraglos auf einem feineren und anspruchsvolleren Niveau, als die qualitativen molekularbiologischen Modellierungen dies konnten. Mehr postulieren im Übrigen auch viele Systembiologen nicht, obwohl manche Modelle (bzw. ihre Konstrukteure) einen höheren Realitätsanspruch erheben. Im Grunde sind solche Modelle effiziente heuristische Instrumente, die es erlauben, die enorme Komplexität umfangreicher Datensets auf einfache Hypothesen zu reduzieren (Bousquet et al. 2011, S. 6), um damit neue, wissenschaftlich und medizinisch nützliche Erkenntnisse zu gewinnen und Handlungsstrategien zu entwerfen.

Dennoch sind im Kontext der neuen SB Wissenschaft und Technik in mehrfacher Weise verbunden und können weder begrifflich noch handlungspraktisch auseinandergehalten werden (Nordmann 2005). Der technologische Kontext der Erzeugung und Verwendung von Wissen ist für die SB selber konstitutiv. In diesem Sinne ist sie als Technoscience zu begreifen: Im Modell wird die Repräsentation des natürlichen, aber bereits experimentell zugerichteten Systems mit den angestrebten Kontroll- und Anwendungszielen verknüpft. Dieses Verständnis stellt die potenzielle Leistungsfähigkeit solcher Modelle im Hinblick beispielsweise auf die Vorhersage der Reaktionen eines Organismus auf einen externen Stimulus oder Wirkstoff nicht in Frage. Es verweist jedoch darauf, dass die Frage nach den Implikationen der systembiologischen Wende in den Lebenswissenschaften nicht früh genug gestellt werden kann; sie muss bereits mit dem konzeptionellen Wandel einsetzen und nicht erst dann beginnen, wenn dessen Produkte und Verfahren auf dem Markt sind.

5    Die Modellierung von Lebensprozessen und ihre Implikationen für die TA

Aus dem vorher Dargestellten ergibt sich die Frage nach den möglichen Implikationen einer systembiologischen Konzeptualisierung des Lebendigen im Raum. Wird dadurch ein biochemisch-kybernetisches Menschenbild befördert? Entwickeln wir uns vom „l’homme machine“ des 18. Jahrhunderts zum „l’homme cybernétique“ des 21. Jahrhunderts? Eine solche biochemisch-kybernetische Konzeptualisierung des Menschen scheint in vielen Veröffentlichungen zur medizinischen Systembiologie auf, bedarf aber der genaueren Untersuchung. Denn sie hat Konsequenzen: Der Patient erscheint darin als selbstregulierendes System, wobei mit Selbstregulation nicht die Autoregulation der physiologischen Prozesse des Körpers gemeint ist, sondern die durch die Person selbst ausgeübte Kontrolle. Bekannte oder postulierte Feedback-Mechanismen würden so zum Regulativ der individuellen Lebensführung. Aus der Sicht einer solchen Konzeptualisierung und mit den wachsenden technischen Möglichkeiten des Monitorings physiologischer Zustände (so begrenzt oder futuristisch sie auch noch sein mögen) könnte von den Individuen eine verstärkte Verantwortung für ihre Gesundheit und deren rationaler Kontrolle erwartet werden – ähnlich wie im Zusammenhang mit der prädiktiven genetischen Diagnostik (Kollek/Lemke 2008, S. 223ff.).

Als konstitutiver Teil der P4-Medizin ist die SB bereits in der dafür relevanten Forschung auf die massive Erhebung von genetischen und anderen Daten größerer Patienten- oder Bevölkerungsgruppen angewiesen. Schon heute werden biologische, klinische und soziodemografische Daten sowie Daten zum Lebensstil (z. B. sportliche Betätigung, Ernährungsverhalten, Genussmittelkonsum) dieser Gruppen erhoben und verwendet, um die (molekularen) Ursachen komplexer Erkrankungen zu erforschen. Eine stärker systembiologisch orientierte Forschung würde diesen Trend noch verstärken. Darüber hinaus ist für die Forschung an Körpersubstanzen die „informierte Zustimmung“ der Daten- und Gewebespender erforderlich. Dies setzt die Schaffung adäquater Prozesse und Strukturen und auch personeller Ressourcen voraus und hat demzufolge infrastrukturelle Implikationen. Aufgrund der erforderlichen Kooperation der Bevölkerung stellt sich die Frage nach deren Bereitschaft, an solchen Studien teilzunehmen. Einige Befürworter dieser Entwicklung schlagen daher vor, so etwas wie eine „Sozialpflicht“ zur Spende von Körpergewebe und individuellen klinischen Daten zu etablieren, da ihre Kinder und Enkel später von den Ergebnissen dieser Forschung profitieren würden (Bousquet et al. 2011, S. 3).Wie eine solche „Pflicht“ jedoch genau formuliert sein sollte, was sie umfasst und welche Implikationen sie nach sich ziehen würde, ist keineswegs klar und muss aus ethischer und gesellschaftlicher Perspektive sorgfältig geprüft werden.

Sollten systembiologische Ansätze für individuelle Behandlungen relevant werden, sind sie auf Erhebung und Nutzung großer Mengen von sensitiven Daten angewiesen. Beispielsweise werden im Kontext einer systembiologisch arbeitenden Onkologie zehntausende von einzelnen Datenpunkten mittels Microarrays von gesunden und erkranktem Gewebe eines Patienten erhoben und daraus Profile erstellt, die Aussagen über das Progressionspotenzials des Tumors oder seiner Ansprechbarkeit für ein bestimmtes Medikament machen sollen. Man geht davon aus, dass im Zuge der Entwicklung der Systemmedizin jeder Patient in etwa zehn Jahren von einer virtuellen Wolke umgeben sein wird, die aus Milliarden von Datenpunkten besteht (Bousquet et al. 2011, S. 6). Daraus entstehen Anforderungen an den Datenschutz, denen die heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten kaum gewachsen sind. Hier muss dringend geklärt werden, wie solche persönlichkeitsrechtlich zumeist hochsensiblen Daten gespeichert und verarbeitet werden und wer sie unter welchen Bedingungen nutzen darf.

Auch die Befürworter der P4-Medizin (siehe Kap. 3 in diesem Beitrag) sind sich darüber im Klaren, dass die meisten Erkrankungen eine komplexe Ursache und Entstehungsgeschichte haben, die in der Person liegende, umweltbedingte und soziale Determinanten beinhalten. Insbesondere die sozioökonomischen Faktoren wie Zugang zur Ausbildung oder zum Arbeitsmarkt, Einkommen oder Wohnsituation haben einen deutlichen Einfluss auf die Gesundheit (WHO 2008). Wie und wodurch diese Faktoren jedoch die Homöostase des Körpers und damit die Gesundheit beeinflussen und zu Krankheit führen, ist weitgehend unklar. Wenn die SB etwas zur Aufklärung dieses Zusammenhangs – also des Gesamtsystems von gesundheitsrelevanten Faktoren – beitragen kann, wäre dies sicher ein großer Fortschritt. Zumindest derzeit konzentrieren sich ihre Bemühungen jedoch auf die Untersuchung interner (molekularer) Einflussfaktoren und der Wirkung externer Stimuli in Form von Medikamenten. Dabei steht die Behandlung von Krankheiten im Vordergrund, nicht aber deren Vermeidung (Burke/Trinidad 2011). Wie psychosoziale oder sozioökonomische Faktoren auf die Homöostase des menschlichen Körpers einwirken und sich über die Störung von Netzwerkfunktionen materialisieren und dadurch pathologische Prozesse anstoßen, ist zumindest derzeit nicht Forschungsthema der SB und wird von Mittelgebern auch kaum gefördert.

Dies sind nur einige der Fragen, die sich für die TA im Zusammenhang mit einer systembiologisch orientierten Medizin stellen. Der Erfolg und die Nachhaltigkeit der P4-Medizin – und damit auch der Systembiologie – wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit es gelingt, die Grenzen des Systems Krankheit/Gesundheit so zu ziehen, dass die psychosozialen Faktoren darin nicht nur als ideologischer Platzhalter, sondern als Forschungsgegenstand prioritär berücksichtigt werden.

Anmerkungen

[1]  Systemtheoretische Konzepte haben in der Biologie eine längere Geschichte. Sie reicht mindestens bis in die Mitte des 20. Jahrhundert zurück. Damals standen jedoch noch nicht die technischen Möglichkeiten zur Verfügung, um die molekularen Bestandteile und deren Interaktionsdynamiken zu untersuchen. Die „neue“ Systembiologie greift zwar teilweise auf die von ihren Vorläufern entwickelten Konzepte zurück, entwickelt aber auf der Grundlage ihrer enorm verbesserten technischen Möglichkeiten auch neue (vgl. u. a. Drack/Wolkenhauer 2011). Dieser Artikel fokussiert allein auf die „neue“ Systembiologie.

[2]  Siehe u. a. Sattler 1986, S. 132–135, und Kollek 1990.

[3]  Dabei handelt es sich um einen relativ kleinen und einfachen Organismus; er enthält lediglich 525 Gene. Dennoch stellt die Modellierung seines Wachstumszyklus eine enorme konzeptionelle und mathematische Leistung dar.

[4]  Vgl. http://www.ncats.nih.gov/research/reengineering/reengineering.html (download 16.8.12)

[5]  Das Metabolische Syndrom ist durch die – teilweise auch „tödliches Quartett“ genannten Faktoren – abdominelle Fettleibigkeit (Bauchfett), Bluthochdruck, veränderte Blutfettwerte und Insulinresistenz charakterisiert. Bedingt ist die Erkrankung zumeist durch permanente Überernährung und Bewegungsmangel. Sie betrifft einen hohen Anteil der Bevölkerung in Industriestaaten.

[6]  Vgl. BMBF 2008 sowie den Artikel von Brüninghaus in diesem Heft.

[7]  Die genauere Darstellung und Diskussion der P4-Medizin, ihrer Voraussetzungen und Visionen würden den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ihre Erwähnung soll aber deutlich machen, dass die Implikationen der SB auf die Medizin nicht nur im Hinblick auf einzelne Erkrankungen gesehen werden können, sondern dass die gleichzeitig erfolgenden Veränderungen des Gesundheitssystems bei einer umfassenden Evaluierung mit berücksichtigt werden müssen.

[8]  Theoretisch interessanter als der methodische Reduktionismus ist der theoretische Reduktionismus, dessen Ziel es ist, emergente Eigenschaften aus denen ihrer Bestandteile zu erklären. Dieses Programm wird für die Biologie jedoch allgemein als gescheitert angesehen.

[9]  Vgl. dazu die Artikel zum Vision Assessment von Döring sowie Grunwald in diesem Heft. Vgl. auch Kollek et al. 2011.

[10]  Vgl. „The silicon cell“, http://www.siliconcell.net (download 16.8.12).

[11]  Modifiziert nach http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Systembiologie.jpg&filetimestamp=20070821103448 (download 13.8.12)

Literatur

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