Meeting Report

Krisenfolgenabschätzung in der Sicherheitsforschung

Alexandros Gazos, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe, DE (alexandros.gazos@kit.edu) 0000-0002-4779-6179

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TATuP (2021) Bd. 30 Nr. 2, S. 67–68, https://doi.org/10.14512/tatup.30.2.67

Received: Mar 05, 2021; revised version accepted: May 30, 2021; published online: Jul. 26, 2021 (editorial peer review)

Globale Krisen werfen derzeit ihre Schatten voraus. Klimawandel und Covid-19-Pandemie dominieren das Gros der Diskurse wissenschaftlicher Disziplinen. Krisen hinterlassen ihre Spuren: Durch sie verändert sich der Diskurs, Perspektiven verschieben sich und Strategien werden überdacht. Krisen zeitigen Risse im Gewebe gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Jene Krisen werfen die Frage auf: Wie kitten wir die Risse im Gewebe kitten und welche Folgen bringen unsere Bemühungen mit sich? Dabei müssen wir nicht nur unsere Reaktion auf jene Krisen abstimmen, sondern auch eine Antwort darauf finden was jenes Gewebe ausmacht, das wir bewahren wollen. Der Wesenskern des Gewebes ist das Ergebnis eines Konflikts um Werte und Erwartungen. Ist dieser Kern erst einmal gesetzt, entbrennt der Konflikt um seine Auslegung. Einen solchen gesellschaftlichen Kern sowie die Reaktionen auf seine Krisen stellte die diesjährige Konferenz des Fachdialogs Sicherheitsforschung (SiFo) zur Diskussion. Die Konferenz drehte sich um den Kern staatlich verfasster Demokratie und die Spuren kontemporärer Krisen schimmerten durch seine Risse.

Multiple Krisen, Kipppunkte und strategischer Wandel

Die Konferenz „Zivile Sicherheit im demokratischen Staat“ fand am 22. und 23. April online statt. Die Bundesforschungsministerin Anja Karliczek stellte in ihrem Grußwort die Leitfrage der Konferenz: „Sind westliche Demokratien in der Lage, im empfindlichen Gleichgewicht aus Sicherheit und Freiheit mit Krisen umzugehen?“ Genau in diese Kerbe schlug die Keynote von Hans Vorländer von der TU Dresden zur Belastbarkeit von Demokratie: Zwischen Sekuritätserwartung der Bevölkerung und der notwendigen Akzeptanz von Sicherheitsmaßnahmen zeitigten Krisen demokratische Kosten, indem sie bestehende Missstände zuspitzen. Aufkeimender Protest und Populismus stellten die Vermittlung zwischen Demos und Repräsentation in Frage. An dieser Sollbruchstelle der Demokratie drohe nicht ein Kipppunkt, sondern Erosion. Demokratien seien prinzipiell resilient, doch seien sie disruptiven Repräsentationsdefiziten ausgesetzt. Revidiere man die Auflösung sozialer Infrastrukturen und stärke Beteiligungsmöglichkeiten, dann könne die Demokratie auch wieder mit Unsicherheiten umgehen und ihre Sollbruchstelle stabilisieren.

Die geradezu existenzielle Dringlichkeit von Partizipation machte Ilona Otto von der Universität Graz anhand kaskadierender Risiken und Kippelemente des globalen Klimasystem deutlich: Durch die Klimakrise induzierte Naturkatastrophen vermehrten das Risiko für alle gesellschaftlichen Bereiche, indem sich ihre Effekte untereinander kaskadenartig steigerten. Gleichzeitig gebe es „social tipping interventions“, die institutionelle, technische sowie normative Veränderungen umfassten. Ilona Otto zog daraus eine Lehre, die gerade in der Technikfolgenabschätzung (TA) Anklang finden mag: Es gibt keine Wunderlösung, Technologien allein führen nicht zu einem grundlegenden Wandel, sondern Werte und Normen tragen einen substanziellen Anteil an der Stabilisierung neu entstehender Systeme.

Ein grundlegender Wandel scheint unumgänglich, wenn man wie Philipp Staab von der Humboldt-Universität in Berlin von einem akuten Kipppunkt moderner Gesellschaften ausgeht, der durch multiple Krisen in Ökonomie, Ökologie, Politik und sozialer Reproduktion ausgelöst wurde. Daraus resultierende Kontingenzen, so Staab, erschwerten jegliche Regierungsfähigkeit und erodierten die Plausibilität kalkulierbarer Risikoprävention. Dies führe wiederum zu einem strategischen Wandel: von Regimen des Fortschritts zu Regimen der Anpassung. Dementsprechend wandele sich auch die Natur zukünftiger Konflikte von Verteilungs- zu Infrastrukturkonflikten. Staab plädiert dafür, von einer Gesellschaft der Anpassung, wie sie im Betrieb kritischer Infrastrukturen praktiziert wird, über Kritikalität zu lernen.

Sicherheitstechniken und -taktiken

Wenn es jedoch um Lösungsansätze geht, die sich eine technische Bewältigung von Krisenzuständen versprechen, dann liegt der Fokus allzu oft auf konkreten Anwendungen und der Erforschung ihrer (nicht-)intendierten (Neben-)Folgen. Doch die Pandemie hat für Andreas Folkers von der Justus-Liebig-Universität Gießen ein anderes Regime ins Licht gerückt. Bei der Vorratshaltung werden technische Bestände eben nicht zum Einsatz gebracht, sondern bewusst für einen späteren Zeitpunkt vorenthalten, um möglicher sozialer Disruption sowie einer volatilen und kontingenten Zukunft die Kontinuität der technischen Welt entgegenzusetzen. Derzeitige Sicherheitskonzepte seien demnach durch eine Effizienzrationalität begrenzt, durch welche nicht vorhandene, aber kurzfristig benötigte Vorräte zum Problem werden. Der Staat unterminiere seine Autorität, wenn er in Krisenzeiten nicht darauf vorbereitet ist, seiner funktionalen Verantwortung als Lagerhaus nachzukommen. Kevin Hall, Klaus Scheuermann und Sven Opitz von der Universität Marburg zeigten auf, wie die Verwaltung während der Pandemie aufgrund mangelnder Vorbereitung eine taktische Entgrenzung vollzog. Sie vervielfachte ihren Personalstamm mit teils fachfremdem Neuzugang und reagierte strukturell mit einer Ausdifferenzierung von Arbeitsschritten: zwischen flexiblen Teamstrukturen mit flachen Hierarchien und rigider Fließbandarbeit. Anke Schröder und Maurice Illi vom LKA Niedersachsen markierten die Implementation technologischer Innovationen, wie Predictive-Policing-Software, als problematisch, da sie zumeist ohne Bedarfserfassung oder Praxisakzeptanz erfolgen. Rafael Behr von der Universität Hamburg sprach von der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Fundierung von Polizeiarbeit, um dem gegenwärtigen Trend zu technisch gestützter Überlegenheitsinszenierung und symbolischer Sicherheitspolitik entgegenzuwirken. Auch León von der Burg und Johannes Ebenaus, ebenfalls Universität Hamburg, machten einen Wandel in der polizeilichen Strategie aus. Angesichts der hohen Unsicherheiten des urbanen Rechtsterrorismus würden Streifenpolizisten technologisch aufgerüstet und auf taktisch-situative Eingriffe vorbereitet. Aus der Perspektive politischer Aktivist*innen fehle es dabei jedoch an struktureller Prävention, Sensibilisierung und affektiver Arbeit der Polizei. Darin zeigen sich zwei unterschiedliche Zugriffe auf das „Wie?“ von Resilienz. TA kann hier ansetzen, ihren Fokus um sicherheitstechnische Innovationen und das Abschätzen ihrer Folgen erweitern, Polizeiarbeit wissenschaftlich begleiten und bestehende partizipative Methoden für die Sicherheitsforschung weiterentwickeln.

Reflexion soziotechnischer Krisenkonstellationen

Der Konferenz gelang es, Impulse zu setzen, die auch für die Technikfolgenabschätzung (TA) relevant sind. Beim Abschlusspodium bestimmten Krisenerfahrungen und Zukunftsperspektiven das übergeordnete Thema. Damit verbanden die Diskutanten jedoch schnell technologische Möglichkeits- und Bedrohungspotenziale. Mit den sozialen Medien und während der Krise hätten laut Karolin Schwarz, Autorin mit Publikationen zum Rechtsextremismus, die Versuche zur Vereinnahmung digitaler Technologien durch rechtsextreme Akteure eine neue Dimension erreicht. Die Diskutanten waren sich mit Ina Schieferdecker vom BMBF einig, dass der Staat Technologien entlang der eigenen demokratischen Werte ausrichten und fördern solle.

Sind westliche Demokratien in der Lage, im empfindlichen Gleichgewicht aus Sicherheit und Freiheit mit Krisen umzugehen?

Dass Technologie unmittelbar in den Fokus einer Diskussion über Krisenerfahrungen und Zukunftsperspektiven in der zivilen Sicherheit rückte, deutet die Lücke und das Potenzial für TA an. Bei den Zukunftsperspektiven öffnet sich der Raum für ein Vision Assessment ihrer Wirkmächtigkeit. Doch wie steht es um die Krisenerfahrungen? Von Interesse sind dabei vor allem die Bausteine und Versatzstücke, die durch die Risse der Konferenzsäulen hindurch schimmerten. Die thematischen Säulen handelten von multiplen Krisenzuständen und Strategien, um mit diesen umzugehen. Krisen sind immer schon diskursprägend gewesen, doch sozialer Wandel, globale Vernetzung und zunehmend existenzielle Bedrohungen stellen die Wissenschaft vor neue Herausforderungen. Vor allem Pandemie und Klimawandel veranschaulichen, wie Krisenbegriffe in den Diskurs eindringen und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen. Im Angesicht ihrer erdrückenden Realität ist die Rede von Kipppunkten, Entgrenzung, Anpassung, Resilienz, Kritikalität, Infrastrukturen und Kaskaden. Welche Inhalte Krisen dem Diskurs und seinen Visionen hinzufügen werden, wird sich auch in Entwicklungen von Strategien und Technologien bemerkbar machen. Diese vier Einflusssphären gehen einher mit Erwartungen, Aushandlungsprozessen und neuen Konflikten, denen die TA Rechnung tragen muss. In Erwägung komplexer Entstehungsbedingungen und mannigfaltiger Konsequenzen bedarf es einer umfassenden Erforschung sowie Bewertung soziotechnischer Krisenereignisse und -reaktionen. Zeitlichkeit und Materialität von Krisen(reaktionen) erschließen sich in ihrer Totalität nur durch eine Engführung auf ihren Ereignischarakter. Sie fügen den soziotechnischen Konstellationen ereignishaft neue Dimensionen und Dynamiken hinzu, die so vorher und in dieser Form nicht Teil des Bestehenden waren. Ein „Crisis Assessment“ könnte diese Neuheiten ausfindig machen, ihre Genealogie und Wirkmächtigkeit sowie die Aushandlungsprozesse, Konflikte und Strategien um sie herum beleuchten. Die SiFo-Konferenz hat deutlich gemacht, dass vor allem die Sicherheitsforschung einen Bedarf an Krisenfolgenabschätzung in soziotechnischen Konstellationen aufweist, da krisenhafte Ereignisse konstitutiv auf ihr Feld und dessen Diskurse wirken.

Weitere Informationen

Konferenzprogramm: https://fachkonferenz-sifo.de/programm