Systembiologie als „Technoscience“? Zur Diskussion einer „emerging technology“ in Öffentlichkeit, Medien und Wirtschaft in Deutschland und Österreich

Schwerpunkt: Science- und/oder Technology-Assessment?

Systembiologie als „Technoscience“?

Zur Diskussion einer „emerging technology“ in Öffentlichkeit, Medien und Wirtschaft in Deutschland und Österreich

von Anne Brüninghaus, BIOGUM Hamburg

Die Systembiologie hat sich in den vergangenen Jahren, unterstützt durch eine gezielte Forschungsförderung, als neuer und wegweisender Ansatz in den Lebenswissenschaften etabliert. Im vorliegenden Beitrag wird sie als „emerging technology“ empirisch daraufhin untersucht, wie die Sichtbarkeit dieser Entwicklung, ihre Implikationen und Fragen der Regulierung in Öffentlichkeit, Medien und Wirtschaft in Deutschland und Österreich thematisiert werden. Das Verständnis von Systembiologie als Technowissenschaft bietet dabei ein erweitertes analytisches Potenzial für die TA, indem die diskursiven Dynamiken zur Systembiologie differenziert eingeordnet und Ursachen geklärt werden können.

1    Einleitung

Forschung in den Lebenswissenschaften zielt darauf ab, die biologischen Grundlagen lebender Systeme zu verstehen und das über sie erworbene Wissen in die Anwendung zu bringen. Die Systembiologie hat es sich dafür zur Aufgabe gemacht, die in bestimmten Reduktionismen begründeten Grenzen der Genomforschung durch einen systemorientierten und integrativen Ansatz zu überwinden. Der Ausgangspunkt dieses konzeptionellen Perspektivwechsels bestand in der Erkenntnis, dass mit dem ausschließlichen Wissen über Gensequenzen komplexe biologische Vorgänge nur sehr begrenzt verstanden werden können. Mit dieser sich abzeichnenden systembiologischen Wende hat ein Forschungsansatz an Bedeutung gewonnen, der sich jenseits eines deterministischen Verständnisses der Erforschung komplexer Funktionszusammenhänge von Genen, Zellen, Geweben u.v.m. widmet: Das System als Ganzes und seine grundlegenden Funktionszusammenhänge werden (wieder) Gegenstand biologischen Interesses. Ziel ist die qualitative und quantitative Modellierung biologischer Prozesse, mit der ein über die molekularbiologische Ebene hinausreichendes Verständnis biologischer Zusammenhänge erreicht werden soll. Jenseits der Grundlagenforschung ist die Systembiologie dabei auch mit dem Versprechen angetreten, mittelfristig eine Anwendung im Kontext klinischer und anderweitiger Forschung zu ermöglichen.[1]

Für das Erreichen dieser Ziele ist die systembiologisch ausgerichtete Forschung in den letzten Jahren in einigen Ländern massiv gefördert worden.[2] In Deutschland erfolgte und erfolgt die Förderung maßgeblich durch das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Helmholtz-Gemeinschaft. Zielpunkt dieser Initiativen ist v. a. die institutionelle Etablierung des neuen Forschungsansatzes: „Das Konzept ‚Systeme des Lebens – Systembiologie‘ stellt einen neuartigen Förderansatz dar, der das Ziel hat, das relativ junge Gebiet der Systembiologie in Deutschland zu etablieren.“ (BMBF 2006, S. 296) Eine wichtige Rolle spielen dabei medizinische und industrielle Anwendungsfelder. Auf „massiven Datensätzen aufbauende Modelle sollen belastbar sein und die Entwicklung neuer nebenwirkungsarmer Medikamente, innovativer Diagnoseverfahren und nachhaltiger biologischer Produktionsverfahren beschleunigen“ (BMBF 2008, S. 238). Unterstützt werden diese Entwicklungspotenziale auch von anderen Institutionen und Fachverbänden, wie z. B. dem Bioökonomierat oder der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie, die das wissenschaftliche wie anwendungsbezogene Potenzial der Systembiologie positiv bewerten.

In Österreich wurde systembiologische Forschung gezielt vonseiten der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) über das Programm GEN-AU gefördert, das sich allgemein der Genomforschung in Verbundprojekten widmet. Der Wissenschaftsfond (FWF) hat keine eigene Förderlinie zum Themenbereich „Systembiologie“ aufgesetzt, auch wenn sich in der Datenbank des FWF (einige wenige) Projekte zum Gebiet der Systembiologie finden, die an einschlägigen Instituten angesiedelt sind. Die Etablierung der Systembiologie in Österreich scheint, in ihrer Gesamtheit beurteilt, aufgrund kleinerer Fördersummen weniger stark fortgeschritten als in Deutschland.[3] Trotzdem wurde in den vergangenen zehn Jahren immer wieder auf die Bedeutung der Systembiologie hingewiesen: 2005 sieht beispielsweise der Rat für Forschung und Technologieentwicklung Systembiologie als ein Beispiel dafür, wie „neue heimische Stärkefelder“ geschaffen werden könnten (Rat für Forschung und Technologieentwicklung 2005a, S. 8). Auch die FFG betonte in der Vergangenheit immer wieder, dass die Life Sciences und die zugehörige Systembiologie zu den „wichtigsten Zukunftsfeldern in Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft“ zählen.[4] Schließlich war auch für das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Österreich im Jahr 2009 die „Stärkung des Forschungsstandorts Österreich in den Biowissenschaften, insbesondere [...] Systembiologie“ ein erklärtes Ziel (BMWF 2009).

Diese Potentiale und Herausforderungen werden nicht nur innerhalb der Wissenschaft, der Politik und der Forschungsförderung, sondern auch in Teilen auch in der Öffentlichkeit thematisiert. Die hier vorgestellte Studie[5] untersucht daher auf empirischer Basis, wie die Systembiologie in Deutschland und Österreich in den Bereichen Wirtschaft, Medien und weiteren Teilen der Öffentlichkeit (wie beispielsweise Interessensvertretungen) diskutiert wird. Eine solche Untersuchung ist für die Technikfolgenabschätzung (TA) insofern von Interesse, da sie hilft, Problemfelder und andere gesellschaftlich relevante Aspekte zu identifizieren, Entwicklungen einzuschätzen und auf wahrgenommene Regulierungsnotwendigkeiten hinzuweisen. Als zentrale Frage stellt sich also: Wie gestaltet sich der außerwissenschaftliche Diskurs über Systembiologie und wie kann er für die Begleitforschung fruchtbar genutzt werden?

2    Systembiologie, Technoscience und Technikfolgenabschätzung

Neue Wissenschaftszweige wie die Systembiologie oder die synthetische Biologie sowie die in ihrem Zusammenhang entwickelte Technologien können bedeutende Auswirkungen auf weite Bereiche der Gesellschaft und das alltägliche Leben haben. Solche Auswirkungen sind jedoch nur bedingt vorhersehbar – umso mehr, je forschungsnäher der untersuchte Bereich (noch) ist. Für die gerade im Prozess der Etablierung begriffene Systembiologie[6] ergibt sich noch ein zweites Problem: Der Begriff Systembiologie bezeichnet keinen klar umrissenen Gegenstand oder Forschungsbereich und kann damit als „empty signifier“ gelten.[7] Aus seiner diskursiven Definitionsmacht (etwa in Bezug auf Forschungsfelder oder Forschungsförderung und Zukunftsvisionen) und gleichzeitigen Unbestimmtheit in Bezug auf Grenzziehungen und tatsächliche weitere Entwicklungen erwächst die Schwierigkeit, das Objekt der Technikfolgenabschätzung angemessen zu bestimmen. Dieser Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Gebrauch des Begriffes könnte begegnet werden, indem der Diskurs zur Systembiologie selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht wird, spezielle Anwendungen bewertet werden oder Systembiologie als Technowissenschaft begriffen wird (Kastenhofer 2010).

Das Konzept der „Technoscience“ nach Nordmann (2005) geht davon aus, dass wissenschaftliche Grundlagenforschung nicht mehr als bloße Vorstufe der Entwicklung neuer Technologien sowie deren Anwendung angesehen werden kann (vgl. Bush 1945). Denn wissenschaftliche Fragestellungen führen oft zu einer gleichzeitigen Entwicklung anwendungsorientierter Verfahren und Technologien oder sind mit einem Anwendungsziel verknüpft, wie beispielsweise im Begriff der „entrepreneurial science“ deutlich wird (Weber 2010, S. 21). Hier übernimmt die „Zukunftstechnologie“ oder „emergente Technologie“ eine führende Rolle bei der Suche nach innovativen Produkten für neue Märkte und nach Lösungen für bestehende gesellschaftliche Probleme. Deshalb wirft nicht erst die Anwendung neuen Wissens und neuer Technologien die Frage nach deren Implikationen und Folgen auf, sondern schon ihre Erforschung und Entwicklung. Befragt werden müssen deshalb auch die dadurch entfachten Erwartungen, mobilisierten Visionen, Versprechungen und Warnungen. Das von Hottois (1984), Haraway (1995), Latour (1987), Weber (2003) und Nordmann (2005) eingeführte und entwickelte Konzept der Technoscience eröffnet damit eine Perspektive auf die untrennbare Verzahnung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft, indem es „the messy networks of research and development, industry and society“ (Weber 2010, S. 18) aufzeigt. Diese Perspektive öffnet den Blick für die Wahrnehmung aller an diesen Entwicklungen und ihrer diskursiven Verarbeitung beteiligten Akteursgruppen und ermöglicht eine umfassende Analyse des Etablierungsprozesses einer neuen wissenschaftlich-technischen Entwicklung.

In diesem Kontext verändert sich auch die Rolle der Begleitforschung: Sie schaut nicht nur auf die einzelnen Akteursfelder, sondern nimmt auch eine vermittelnde Rolle ein. TA wird damit selbst zum „Mitspieler“ (Bogner et al. 2010). Gleichzeitig tritt die Bedeutung des außerwissenschaftlichen Diskurses zu Tage. Weil Technikentwicklung immer auch die öffentliche Sphäre betrifft, ist es wichtig zu fragen, wie Systembiologie in der öffentlichen Wahrnehmung konzeptualisiert wird und welche gesellschaftlichen Implikationen sich daraus ergeben. Damit begibt sich TA zwar auf eine abstraktere Ebene als die einer reinen Folgen- oder Diskursanalyse. Dies wird jedoch den spezifischen Eigenschaften einer sich entwickelnden Technowissenschaft eher gerecht und umgeht gleichzeitig das Collingridge-Dilemma und das ihm zugrunde liegende Problem der Zeitgebung (vgl. dazu die Einführung zu diesem Schwerpunkt).

Im Folgenden geht es daher um die Frage, wie und in welchem Umfang die Systembiologie im außerwissenschaftlichen Diskurs aufgenommen wird. Der Fokus liegt dabei auf der Thematisierung der Systembiologie in den Medien, weiteren Bereichen der Öffentlichkeit sowie der Wirtschaft in Deutschland und Österreich. Basis der Analyse sind zentrale Dokumente sowie Interviews mit Akteuren der entsprechenden Bereiche. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht dabei die Diskussion kollektiver Sachverhalte und die mögliche Regulierung der Systembiologie. Theoretisch anschlussfähig ist dies an Benz et al., die eine Governanceperspektive als eine „Perspektive auf die Realität“ und als einen Analysebegriff fassen, der „Formen und Probleme der Regelung kollektiver Sachverhalte in den Mittelpunkt des Interesses“ (Benz et al. 2007, S. 14, S. 16) rückt. Diese ermöglicht es, die vielfältigen Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteuren in den Blick zu nehmen.

3    Der außerwissenschaftliche Diskurs zur Systembiologie

Der außerwissenschaftliche Diskurs zur Systembiologie ist dadurch gekennzeichnet, dass hier – ebenso wie im wissenschaftlichen Diskurs – kein einheitliches Begriffsverständnis von Systembiologie auszumachen ist. Die Auffassungen der Experten aus den unterschiedlichen Akteursfeldern reichen von der einer Hilfsdisziplin über die Fokussierung auf die mathematische Modellierung bis hin zu einem hochintegrativen, interdisziplinären Forschungsfeld.[8] Darüber hinaus werden Hinweise auf ein Verständnis von Systembiologie als technologische Wissenschaft gegeben, die neben der Beschreibung als Grundlagenforschung als logische Weiterentwicklung der Genomforschung gewertet und oft mit einem Anwendungsfeld verbunden wird. So differenziert der außerwissenschaftliche Diskurs nicht nur zwischen Grundlagenforschung und Anwendung, sondern thematisiert auch deren Verknüpfung. Teilweise wird Systembiologie aufgrund ihrer Komplexität auch als „Buzzword“ charakterisiert.

Die Nutzung und Anwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse ist für die Akteure in beiden Ländern maßgeblich. Das betrifft v. a. die industrielle Anwendung und den Bereich der individualisierten Medizin. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese in der industriebezogenen Forschung bereits etabliert ist, während sie für die medizinische Anwendung anvisiert und derzeit weiter beforscht wird. So schreibt der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie, dass „viele – heute noch unheilbare – Krankheiten einer bezahlbaren Therapie zugänglich sein“ werden (Bundesverband der pharmazeutischen Industrie 2011, S. 27). Das BMBF unterstreicht die Bedeutung der Systembiologie für die Entwicklung von Arzneimitteln: der Prozesse bis hin zur Marktreife könne beschleunigt werden und sicherer erfolgen. Insgesamt habe die Systembiologie ein „enormes Anwendungspotential“ (BMBF 2009, S. 9). In Österreich werden die Life Sciences als übergeordnetes Konzept, das auch die Systembiologie umfasst, ebenfalls hoch bewertet: Sie haben „das Potential, in Zukunft bei der Entwicklung neuer Therapien, bei der Gesundheitsvorsorge […] international eine bedeutende Rolle zu spielen“ (Rat für Forschung und Technologieentwicklung 2005b, S. 5). Jenseits von ökonomischen steht bei einer neuen Technoscience auch die Frage nach weiteren Implikationen im Raum. Diese Frage wird von den Akteuren zurückhaltend beantwortet: Grund hierfür ist die Ansicht, dass sich die Systembiologie in einem Entstehungsprozess befindet. Am ehesten werden Hinweise auf Bedenken in Bezug auf eine Ausgewogenheit zwischen öffentlichem Interesse und einer rein industriellen Anwendung deutlich.

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich wird kein besonderer Bedarf für eine Regulierung gesehen, sondern vielmehr konstatiert, dass bestehende Regelungen den bisherigen Stand der Wissenschaft abdecken. Zudem stellt sich die Frage, ob Systembiologie überhaupt einer Regulierung bedarf, da – anders als bei der synthetischen Biologie – Probleme im Bereich Biosafety and Biosecurity nicht befürchtet werden müssen. Generell gilt, dass viele Experten die Lage so einschätzen, dass im Bereich systembiologischer Forschung auf die rechtlichen, ethischen und sonstigen Implikationen geachtet werde. Einzig beim Schutz von Daten wird auf eine Sensibilität verwiesen, die jedoch ebenfalls bislang durch bestehende Regulierung von Datenbanken abgedeckt sei. Im Vergleich von Systembiologie und synthetischer Biologie durch die befragten Experten wird für die Systembiologie – anders als für die synthetische Biologie – eine Regulierung über die bestehende hinaus (derzeit) nicht als notwendig erachtet, für die Zukunft aber nicht ausgeschlossen.

Fast alle befragten Experten schätzen die Diskussion des Themas durch die Öffentlichkeit als relevant ein, indem die Information der Öffentlichkeit, die durch die Medien bislang fehlt, möglicherweise dadurch aufgefangen werden könnte, dass die Bevölkerung weiter in die Diskussion von Experten involviert werde. Dabei solle das Wissen um mögliche Vor- und Nachteile der Entwicklung offen dargestellt werden. Allerdings wird auch auf die Probleme hingewiesen, die der Einbezug von Laien mit sich bringen kann. Die Begründungen dafür sind in beiden Ländern ähnlich: Zum einen sei das Thema hochkomplex und schwierig für Laien zu erklären, zum anderen fehle die konkrete Anwendung bisher und damit auch das Interesse der Öffentlichkeit – anders als dies für Biobanken oder in der Stammzelldebatte der Fall sei.[9] Dennoch geben viele Interviewpartner an, dass eine Beteiligung der Öffentlichkeit wünschenswert sei.

4    Die Bedeutung des außerwissenschaftlichen Systembiologiediskurses für die TA

Diese vielfach geäußerte Forderung nach einer frühen Diskussion neuer Entwicklungen durch die Öffentlichkeit ist ein zentrales, und v. a. auch für die TA maßgebliches Ergebnis der vorgestellten Untersuchung. Hier offenbart sich jedoch auch ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, also der Initiierung einer frühen und breiten Diskussion einerseits und einer unklaren Definitionen der Systembiologie, ihrer derzeit nicht absehbaren Anwendung sowie dem fehlenden öffentlichen Interesse andererseits.

Aufgrund der derzeit in den Anfängen befindlichen Realisierungen systembiologischer Erkenntnis scheint es schwierig zu sein, mögliche Technikfolgen zu benennen. Damit wird eine breite Kluft zwischen der Bereitschaft für und Notwendigkeit zu einer Diskussion auf der einen Seite und dem aktuellen Wissenstand auf der anderen Seite deutlich. Sieht man einmal von der unterschiedlichen Forschungsförderung und vom unterschiedlichen Etablierungsgrad von Systembiologie in Deutschland und Österreich ab, so fällt ins Auge, wie wenig sich der außerwissenschaftliche Diskurs zwischen beiden Ländern unterscheidet. Für Fragen der Folgenabschätzung scheint es keine Rolle zu spielen, in welchem Umfang die Systembiologie bereits in der Praxis angekommen ist.

Durch die Vielzahl der zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten und ihre Folgen ist eine in die Zukunft gerichtete Abschätzung der Systembiologie und ihrer Implikationen weder theoretisch noch praktisch möglich. Lineare Ansätze, wie beispielsweise eine „anticipatory governance“ (Guston/Sarewitz 2002) greifen deshalb zu kurz, denn auch für sie gilt, dass Folgen erst dann absehbar sind, wenn die technische Entwicklung weit genug vorangeschritten ist (Kastenhofer 2010). Gerade die Etablierung und Abschätzung der Zukunftspotenziale der Systembiologie gestaltet sich jedoch anders, da in ihr Wissenschaft und Anwendung untrennbar verbunden sind. Es ist zu erwarten, dass nicht nur Grundlagenforschung und Anwendung zeitgleich ablaufen, sondern dass mit der Zeit auch die öffentliche Diskussion eine zunehmende Rolle spielen wird. Welche Rolle die TA dabei übernimmt und ob sie zum „Mitspieler“ wird, kristallisiert sich derzeit heraus: Die aktuelle Begleitforschung zur Systembiologie wird durch die Analyse und das Zusammenbringen der unterschiedlichen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskurse in deren weitere Entwicklung einbezogen (vgl. dazu auch Grunwald in diesem Schwerpunkt).

Interpretiert man Systembiologie als Technoscience und folgt der damit verbundenen Annahme, dass Grundlagenforschung, Technologieentwicklung und Anwendung untrennbar miteinander verbunden sind, ergeben sich neue Perspektiven für die Analyse. So ist beispielsweise eine Diskussion mit allen Stakeholdern, um Entscheidungen stets so treffen zu können, dass die Möglichkeit einer Gestaltung von Technowissenschaft aufrechterhalten wird[10], zumindest in Bezug auf den außerwissenschaftlichen Diskurs nicht immer einlösbar. Hier fehlt es der Systembiologie derzeit unter anderem an Anwendungen, die als persönliche „Geschichten“ etwa in den Medien darstellbar wären. Nur damit lässt sich aber in aller Regel das Interesse breiterer Bevölkerungsgruppen wecken. Möglicherweise könnte TA hier als „Vermittler“ zwischen Systembiologie und Öffentlichkeit einen ersten Ansatzpunkt finden. Auch die von Liebert und Schmidt vorgeschlagene Orientierung an bestehenden Forschungsergebnissen, auf denen eine neue Disziplin bzw. ein neues Anwendungsgebiet aufbaut, scheint nicht einfach auf die Systembiologie anzuwenden zu sein. Der hohe Grad von Interdisziplinarität in systembiologischen Forschungsvorhaben bedeutet auch, dass sich nicht jeder am Diskurs beteiligte Akteur aufgrund des dafür umfangreich erforderlichen Wissens mit konkreten Anwendungsmöglichkeiten auseinandersetzen kann. Und nicht zuletzt erschwert die Konzeptualisierung als Hilfswissenschaft einerseits und die andererseits geäußerte Vermutung, dass es in Zukunft neben der industriellen weitere Anwendungsgebiete in der Medizin geben wird, die Einschätzung im öffentlichen Diskurs.

Dies wirft die Frage auf, ob Systembiologie möglicherweise eine spezielle Art von Technoscience darstellt. Die Arbeiten von Kastenhofer (2010) und Nordmann (2005) zeigen einen ersten Ansatzpunkt für diese Annahme auf: Versteht man Technoscience als „boundary object“ zwischen Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft (Kastenhofer 2010, S. 49), wird ihre dreifache Wirkung deutlich:

  1. Sie verändert unser Selbst- und Weltverständnis,
  2. fügt unserer Welt neue Objekte hinzu, und
  3. modifiziert unsere Fähigkeiten, die Welt gezielt zu kontrollieren oder ungezielt zu verändern (Kastenhofer 2010, S. 50).

Während der dritte Aspekt bislang hauptsächlich die Domäne von TA darstellte, wurde der erste Aspekt v. a. im Rahmen der Science and Technology Studies und der zweite zu einem gewissen Grad durch die ethische Diskussion bestimmt. Eine umfassende Einschätzung wäre erst durch die Kombination der verschiedenen Aspekte zu erreichen: Dann würde eine TA entstehen, die durch den Einbezug all dieser Dimensionen Technikentwicklung von vornherein begleitet. Da der Diskurs über Systembiologie ein anderes Weltverständnis offenbart und möglicherweise auch eine neue oder andere Art von Objekten hervorbringt, gilt es, diese Aspekte in eine Analyse einzubeziehen. Damit könnte TA zum Vermittler in der Diskussion um die Etablierung neuer Technosciences wie der Systembiologie werden.

Anmerkungen

[1]  Zum wissenschaftlichen Verständnis von Systembiologie und ihrer Anwendung in der Medizin vgl. auch Kollek in diesem Schwerpunkt.

[2]  Das belegen wissenschaftliche Publikationen, eigene Publikationsorgane und Einträge in Datenbanken. Beispielsweise wurde ein Großteil der derzeit fast 5.000 Einträge mit Systembiologie in Titel oder Zusammenfassung (Stand: Juli 2012) in der medizinischen Datenbank PubMed seit dem Jahr 2005 veröffentlicht (vgl. Kohl et al. 2010).

[3]  Vgl. auch Kastenhofer et al. 2012.

[4]  Siehe http://www.ffg.at und FFG 2010, S. 12.

[5]  Diese Untersuchung ist Teil des vom BMBF geförderten Projekts „THCL – Towards a holistic conception of life“ (vgl. Kollek et al. 2011; http://www.uni-hamburg.de/fachbereiche-einrichtungen/fg_ta_med/thcl_e.html). Sie umfasst neben der hier vorgestellten Analyse der Bereiche Wirtschaft, Medien und Öffentlichkeit auch die Bereiche Politik und Forschungsförderung. Dafür wurden dokumentierte Programme und Regelwerke sowie Interviews mit 20 Experten analysiert. Mein besonderer Dank gilt Karen Kastenhofer, die dieses Teilprojekt mit Rat und Unterstützung begleitet sowie einen Teil der Interviews in Österreich geführt hat.

[6]  Siehe z. B. O’Malley et al. 2007 oder Kollek et al. 2011.

[7]  Zum „empty signifier“ vgl. Wullweber 2008 anhand des Themas „Nanotechnologie“.

[8]  Zur Auffassung von der Hilfsdisziplin siehe Lee et al. 2006, zur mathematischen Modellierung Williamson 2005 und zum hochintegrativen, interdisziplinären Forschungsfeld Bruggeman/Westerhoff 2007 sowie Kitano 2002.

[9]  Zu den Biobanken siehe Gottweis/Zatloukal 2007 und zur Stammzelldebatte Gottweis 2008.

[10]  Siehe dazu die Forderung von Liebert/Schmidt 2010a und Liebert/Schmidt 2010b.

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