Suffizienzpolitik

Sufficiency policy

with/mit Uwe Schneidewind

by/von Michaela Christ

Uwe Schneidewind

ist Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal. Zwischen 2010 und 2020 war der Wirtschaftswissenschaftler Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie.

Keywords  sufficiency, urban planning, sustainability, mobility, degrowth

© 2022 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 31/2 (2022), S. 70–73, https://doi.org/10.14512/tatup.31.2.70

published online: Jul. 18, 2022 (editorial peer review)

Uwe Schneidewind gehört zu den Nachhaltigkeitsforschenden, die sich bereits früh mit Suffizienz beschäftigt und diese in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht haben. Das Wuppertal Institut für Klima, Energie und Umwelt, das er zehn Jahre als Präsident geleitet hat, ist in Deutschland eine der wichtigsten Institutionen der Suffizienzforschung. Uwe Schneidewind war beratend in zahlreichen politischen Gremien tätig: Von 2013 bis 2020 etwa als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit 2020 ist er Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal. Michaela Christ (Europa Universität Flensburg) fragt ihn, warum Suffizienzpolitik als besonders heikel gilt und warum sie gerade in Krisenzeiten wichtig ist.

Mäßigung, Verzicht, Bescheidenheit: Suffizienz wird auf verschiedene Art und Weise übersetzt. Herr Schneidewind, was bedeutet für Sie Suffizienz?

In unseren Arbeiten haben wir uns immer an den vier ‚E’s‘ von Wolfgang Sachs orientiert, um Suffizienz greifbar zu machen: ‚Entrümpelung‘, ‚Entschleunigung‘, ‚Entflechtung‘, ‚Entkommerzialisierung‘. Das bringt die Idee des ‚Weniger‘, ‚Langsamer‘, ‚Regionaler‘ und ‚Gemeinwohlorientierter‘ auf eine plastische Formel. Es macht deutlich, dass Suffizienz nicht nur eine Mengen-, sondern auch eine Raum- und Zeitdimension hat.

Sie waren zehn Jahre lang Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts. Wie hat sich in dieser Zeit die Diskussion um Suffizienz verändert?

Eigentlich ist es erschreckend, dass die Ansätze der 1990er-Jahre nichts an ihrer Aktualität verloren haben. Denn technologisch und ökonomisch ist in den letzten 30 Jahren viel passiert: Erneuerbare Energien haben sich in ihren Wirkungsgraden massiv weiterentwickelt und liefern heute Strom zu wettbewerbsfähigen Erstellungskosten. Der Durchbruch zur Elektromobilität ist absehbar. Die Diskussion um neue Wohlstandsmodelle jedoch stagniert. Auch die von 2011 bis 2013 eingerichtete Bundestags-Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ hat daran wenig verändert. Daher richten sich die Blicke interessiert auf das Bundeswirtschaftsministerium, das in dieser Hinsicht neue Initiativen angekündigt hat.

„Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik“ heißt das Buch, das Sie 2013 gemeinsam mit Angelika Zahrnt veröffentlicht haben. Darin argumentieren Sie, politische Rahmensetzungen seien notwendig, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Warum sollen Bürgerinnen und Bürger nicht selbst entscheiden können, wie sie nachhaltiger leben wollen?

Die Idee, dass politische Rahmensetzungen wichtig sind, hat Michael Kopatz vom Wuppertal Institut in einem Buch mit dem Begriff der ‚Öko-Routine‘ beschrieben:

Selbst wenn Menschen eigentlich suffizient leben wollen, sind sie oft in Routinen gefangen, die ein suffizientes Leben erschweren. Suffizienzpolitik will diese Rahmenbedingungen verändern: eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Verkehrsstruktur, flexible Arbeitszeitmodelle, bessere Informationsangebote und vieles mehr sind deren Bausteine. Suffizienzpolitik schreibt niemanden vor, nachhaltig zu leben. Sie macht die Umsetzung eines nachhaltigen Lebens nur leichter.

Ist die Aufgabe, die Nachhaltigkeitsstrategie der Suffizienz in politisches Handeln zu übersetzen, eine, im Vergleich zu anderen Aufgaben, besonders heikle Angelegenheit?

Wir leben in einer spätkapitalistischen Wohlstandsgesellschaft und erleben in Teilen der Bevölkerung einen enormen Wertewandel. Der Grundimpuls, morgens aufzuwachen und reinzuhauen und mehr zu leisten als die Eltern, um es selber mal zu schaffen und den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, dieser Grundimpuls ist bei vielen weg. Das, was eigentlich Sinn in einem Leben produziert, liegt für viele inzwischen auf einer ganz anderen Ebene. Gleichzeitig gibt es noch immer viele Menschen, für die materielles Wachstum und Aufstiegsversprechen eine wichtige Rolle spielen. Hier gibt es viel Konfliktpotenzial. Ja, es ist eine herausfordernde Aufgabe. Das hat damit zu tun, dass Suffizienz sehr unmittelbar mit Lebensmodellen zu tun hat, die identitätsstiftend sind. Dass Politik hier eingreift, löst in einer Welt, die für viele Menschen mit immer mehr Sachzwängen verbunden ist, schnell Widerstand aus. Zudem werden einzelne Ansätze der Suffizienzpolitik im öffentlichen Diskurs als vermeintlich freiheitsbeschränkend wahrgenommen.

Die Stadt Wuppertal hat sich, mit Ihnen als Oberbürgermeister, der Initiative des Deutschen Städtetags angeschlossen, in der Städte und Gemeinden fordern, Tempo 30 in Städten einführen zu dürfen. Was versprechen Sie sich von dieser Initiative?

Für die Mobilitätswende ist Geschwindigkeit ein Schlüsselthema. Die Reduktion von Geschwindigkeit ermöglicht ein anderes Miteinander der unterschiedlichen Verkehrsformen. In vielen Stadtbezirken hier in Wuppertal ist es heute bereits parteiübergreifend Konsens in bestimmten Bereichen – vor Schulen etwa – Tempo 30 auszuweisen. Dass wir das nur Einzelfallbezogen machen können, weil es übergeordnete Straßen sind, ist schade. Es gibt einen breiten Konsens in der Stadtgesellschaft, den man sonst bei anderen Mobilitätsthemen kaum hinbekommt und dann stehen bundesgesetzliche Beschränkungen im Weg. Wir kämen mit der Mobilitätswende anders voran, wenn Städte mehr Freiraum bei der Gestaltung hätten. Für die Bundesregierung ist es ja fast der billigste Beitrag zur Mobilitätswende. Ich hoffe, dass die sich einen Ruck geben. Gegenwärtig sieht es nicht danach aus, weil Tempo 30 in eine umfassende Reform der Straßenverkehrsordnung integriert werden soll und das im Ministerium etwas weiter unten im Stapel liegt. Umso wichtiger ist der Druck durch die Kommunen und den Städtetag.

Immer mehr Städte und Gemeinden setzen im Rahmen der kommunalen Initiative ‚Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit‘ eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um. Quelle: http://www.lebenswerte-staedte.de

Geschwindigkeit als Schlüsselthema. Es geht um mehr als nur Energieeinsparungen beim Tempolimit?

Absolut. Suffizienz ist ein Baustein für die Klimawende. Aber es geht um viel mehr, um Lebensqualität, um Rhythmus. Gerade die Verkehrsgeschwindigkeit liegt ganz in der Effizienzsteigerungslogik: Möglichst schnell von A nach B zu kommen, ist das Ziel. Dabei wissen wir, höhere Geschwindigkeiten führen nicht zu mehr ersparter Zeit. Interessanterweise ist die Zeit, die wir in Bewegung, in Mobilität investieren, über Jahrhunderte fast konstant geblieben. Was sich verändert, ist die Ausbreitung im Raum. Wir legen größere Distanzen zurück. Hier politisch anzusetzen ist unendlich schwierig, weil man an dem Thema merkt, wie tief die Steigerungslogik in den Köpfen steckt. Um das zu verändern, brauchen moderne Gesellschaften ein anderes Organisationsmuster.

Das heißt?

Moderne Gesellschaften stabilisieren sich über ihre Expansion und ihr Wachstum. Das ist das zentrale Thema der Moderne. Das bezieht sich auch auf die Art und Weise, wie wir soziale Sicherungssysteme und den sozialen Ausgleich organisieren. Die spannende Frage ist: Kann man moderne Gesellschaften auch jenseits einer Steigerungslogik stabil halten und in einem Modus des ‚genug‘ und ‚ausreichend‘ organisieren, statt auf ‚immer mehr‘ zu setzen? Insofern ist die Geschwindigkeitsreduktion in Städten ein interessantes Beispiel, das auch Mut machen kann, wenn es gelingt. Wenn man merkt, eine entschleunigte Gesellschaft, ist gar nicht instabiler, sondern wird sogar robuster. Weil jeder am eigenen Leib spürt: ‚Oh, ich hätte nie gedacht, dass ich als Handwerker zwar langsamer durch die Stadt fahren muss, dabei aber dennoch mein Geschäft gut organisieren kann‘. Allein, wenn man über so etwas wie Tempo 30 in der Stadt diskutiert, stößt man bei vielen, deren Business in der Wachstumslogik organisiert ist, sofort auf Widerstand.

Apropos Widerstand. In vielen Städten, in denen suffizienzpolitische Maßnahmen auch in größerem Maßstab, umgesetzt werden, nehmen wir die 15-Minuten-Stadt in Paris oder die Superblocks in Barcelona, wo Parkplätze in Grünflächen oder Radinfrastruktur umgewandelt werden, sind zunächst die Widerstände sehr hoch. Einmal realisiert aber, möchte kaum jemand zurück zum ursprünglichen Zustand.

Wir haben in Wuppertal ein großes Verkehrsexperiment, bei dem es um die Autobefreiung eines Platzes geht, bei dem wir genau dieses Muster beobachten. Zunächst wird ein Weltuntergangsszenario gezeichnet. Und jetzt, einige Monate nach der Umsetzung, zeichnet sich in Umfragen ab, dass das keiner mehr missen will. Diese entstehenden Inseln der Entschleunigung lassen uns spüren, welche Räume im urbanen Gefüge fehlen. Auch hat sich die Wahrnehmung dessen, was qualitativ hochwertige Innenstadt ausmacht, gewandelt. Interessant wird es dann, wenn Tempo 30 flächendeckend gilt. Erste Experimente gibt es. Städte, die konsequent mit Tempo 30 agieren. Auch für solche Experimente brauchen Kommunen mehr Handlungsspielräume. Was passiert dort? Welche Formen wirtschaftlicher Aktivität werden verdrängt? Welche Menschen zieht es dahin? Je mehr solcher gesamtstädtischen Inseln es gibt, umso größer der Kontrast zu klassischen, autogerechten Städten. ‚Boah, ist das hier stressig! So viele Autos, da muss man bei jedem Gang auf die Straße aufpassen. Und ich bin da aus meiner Stadt etwas ganz anderes gewohnt!

Sie beschreiben die große Attraktivität, die in der Entschleunigung liegt und den Wunsch, ein anderes Leben in der Stadt zu ermöglichen. Was heißt das für Ihren Alltag als Oberbürgermeister?

Wir sind auch in der kommunalpolitischen Diskussion noch tief verankert in der Wachstumslogik. Beispielsweise über ein Flächenmoratorium, also die Begrenzung des Zubaus neuer Wohnflächen, nachzudenken, ist für einen Oberbürgermeister ein Sakrileg. Die Idee, Wirtschaftswachstum könne es nur geben, wenn wir immer mehr Flächen ausweisen, ist ein klassisches kommunalpolitisches Argumentationsmuster.

Sie sagen, Steigerungslogik und Gewöhnungseffekte verhindern Suffizienzpolitik. Aber gibt es nicht auch in der Art, wie Kommunen finanziert sind, Wachstumszwänge? Wenn ein Flächenmoratorium ausgeschlossen wird, liegt das nicht auch daran, dass Kommunen strukturell darauf angewiesen sind, immer neue Flächen auszuweisen, weil sie mit anderen Kommunen um Gewerbesteuer oder um solvente Einwohner*innen konkurrieren?

Ja, absolut. Das ist das Grundübel.

Welche Auswirkungen hat es in der Praxis, dass Städte wachsen müssen, um stabil zu bleiben?

Das macht es wirklich schwierig. Wenn man sich für Suffizienz stark macht, und sich damit bestimmte ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten systematisch nimmt, ist das lokalpolitisch kaum durchhaltbar. Dann heißt es schnell, man habe irgendwelche Ideologien im Kopf und die Entwicklungspotenziale der eigenen Stadt seien einem völlig egal. Mit diesem Abwehrmuster ist man sehr häufig konfrontiert, weil sowohl die Gewerbesteuer, als auch die Anteile an der Einkommenssteuer Anreize schaffen. Einfamilienhausgebiete werden ausgewiesen, um Wohnmöglichkeiten für Besserverdienende zu schaffen, da die Einkommenssteuer eine ganz wichtige Einnahmequelle darstellt. Das ist durch die einzelne Kommune nicht alleine auflösbar.

Und in Wuppertal?

Wuppertal ist wie viele Städte inzwischen objektiv an den Grenzen angelangt. Hier muss niemand für ein Flächenmoratorium kämpfen, denn das gibt es faktisch bereits. Durch die spezifische Tallage, die ausgewiesenen Wald- und Naturschutzgebiete ist das Flächenpotenzial extrem begrenzt. Wir können gar nicht in den Wettbewerb treten, zu den Magdeburgs dieser Welt, die sagen, ach, da draußen haben wir doch noch mal 150 Hektar für Siemens.

Oder Tesla soll kommen, da ist noch eine ebene Gewerbefläche, die man einfach ausweisen kann. In Wuppertal dagegen müssen wir ohnehin unsere Wirtschaftsentwicklungsstrategie qualitativ definieren. Was sind wenig flächenintensive, aber hochproduktive Sektoren? Damit sind wir immer noch nah dran an der Wachstumslogik. Wir führen aber immerhin schon eine Qualitätsdebatte und verlassen die rein quantitative Ebene.

Wenn es um die Einkommenssteuer geht, stellt sich die Frage, welche Formen des Wohnens für einkommensstarke urbane Eliten attraktiv sind. Ist das noch das Einfamilienhaus mit großem Garten? Oder haben wir nicht, in Städten wie Wuppertal mit tollem Gründerzeit-Altbaubestand, andere Potenziale, die wir in der Innenraumentwicklung nutzen können? Durch Sanierung von Innenstadtlagen können ganz andere Flächendichten erreicht werden. Auch das sind Faktoren, mit denen man im kommunalen Wettbewerb bestehen kann. Der nächste Schritt wäre, zu fragen, wie ein föderaler Finanzausgleich aussehen könnte, in dem eine suffiziente Stadt, eine klimabewusste, entschleunigte Stadt eine Chance hat, ökonomisch zu überleben.

Das sind große Themen.

Das sind Themen, an die sich kaum jemanden systematisch heranwagt. Themen, bei denen man auch in der jetzigen Legislatur auf Bundesebene bisher kaum Ansätze erkennen kann. Wir merken, wie selbst ein grüner Wirtschaftsminister, der mit seinem neuen Jahreswirtschaftsplan etwas mehr Mut machen wollte, vor einer konsequenten Thematisierung des Themas zurückschreckt. Hier bräuchte es mehr Mut. Wir sind nicht einmal in der Nähe einer Suffizienz- oder Postwachstumsdebatte, obwohl sie gerade mit Blick auf die Resilienz von Gesellschaften einen wichtigen Beitrag leisten könnte. Gerade der Ukraine-Krieg macht es deutlich: Es ist schon fast paradox, dass bei 30 bis 40 Prozent Spritpreis-Steigerung die zentrale Sorge ist, man müsse Menschen Verhaltensanpassungen zumuten. Und statt sich auf die sozial besonders Betroffenen zu konzentrieren, wird mit Milliarden-Subventionen versucht, möglichst allen keine Anpassung ihrer Mobilitäts- und Heizmuster zuzumuten. Das macht deutlich, wie weit entfernt die aktuelle Politik sowohl auf Bundes- als auch auf kommunaler Ebene von der Idee der Suffizienz ist.

Unser Gespräch findet statt, nachdem die Bundesregierung ihr Entlastungspaket verabschiedet hat. Das beruht im Wesentlichen auf Effizienzmaßnahmen und finanziellen Entlastungen. Der Suffizienzgedanke findet sich nur im drei Monate gültigen ÖPNV-Ticket für neun Euro wieder. Wurde hier eine Chance für mehr suffizienzorientierte Politik verpasst?

Die spannende Frage ist, ob nur die Politik besonders ängstlich ist, und wir eigentlich als Gesellschaft in der normativen Verankerung schon viel weiter sind oder ob es wirklich so schwierig ist. Man könnte, wie Sie, sagen, das ist jetzt die Chance, in der Annahme, es gäbe eine Akzeptanz für Suffizienz. Joachim Gauck hat so argumentiert: Über Suffizienz, über ein ‚Genug‘ können wir uns von Putin unabhängig machen. Unabhängigkeit durch die Kraft der Selbstbeschränkung. Stattdessen sehen wir den Reflex der klassischen Wohlstandsökonomie: Angesammelte Reserven werden für Konsumausgaben vergeudet und gewaltige Neuverschuldungen in Kauf genommen, damit keine Verhaltensanpassungen nötig werden. Was hätte das Signal sein können? Wir sind eine gut aufgestellte Wohlstandsgesellschaft, die sich jetzt eine Weile zurücknimmt, um größere Unabhängigkeit zu erreichen.

Aber?

Aber: Auch die Grünen wissen, wie schnell Ihnen bei der Forderung nach einer solchen Debatte die wohl etablierten Stereotypen in der öffentlichen Debatte entgegenschlagen: ‚Ah, ihr Wohlstandsgrünen, ihr könnt euch solche Rhetorik erlauben. Was heißt das denn eigentlich für den Sozialhilfeempfänger?‘ Dabei greifen hier ja heute schon viele soziale Mechanismen über Wohngeld und Heizzuschüsse. Die besondere Herausforderung liegt aber bei den vielen Menschen, die arbeiten gehen und immer weniger verdienen, oft nur wenig mehr als in der Sozialhilfe, und die zu Recht das Gefühl haben, dass ihr Einsatz kaum noch honoriert wird. Hier gibt es in der Politik eine berechtigte Furcht vor einer unüberwindbaren Spaltung der Gesellschaft. Ähnlich wie in den USA, einer Demokratie, die kurz davor ist, sich selbst abzuschaffen. Die massiven Verwerfungen, die wir in Frankreich mit den Gelbwesten-Protesten erlebt haben, sitzt als Angst im Nacken vieler in der Politik tätigen Menschen hierzulande. Die hochentwickelten Spätwohlstandsgesellschaften, die sich nur noch über Konsumismus definieren, sind in einem Dilemma. Denn Beschränkungen dieses Konsumismus werden zur Demokratiegefahr und führen dazu, dass die Trumps und viele anderen Populisten dieser Welt übernehmen. Diese Destabilisierungsangst ist ein wesentlicher Grund dafür, dass niemand wagt, zu versuchen, dem Modus des ‚immer mehr‘ zu entkommen.

Wenn die Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft verhindert, über ‚Genug‘, über Suffizienz zu sprechen, wird in Kauf genommen, Konflikte in die Zukunft zu verlagern?

Ja, vermutlich schon. Und gleichzeitig möchte niemand derjenige gewesen sein, der diese Demokratie als Erster destabilisiert hat. Als politisch Verantwortlicher ist man sehr nah dran an den Menschen und spürt, wie tief diese Vorstellungen sitzen. Das ist ja keine Borniertheit oder Widerstandswillen, es sind tiefe innere Überzeugungen, die über Jahrzehnte kultiviert wurden. Vielen ist klar, wenn ich das zur Wahl trage, habe ich keine Chance auf die Wiederwahl. Das reicht bei vielen schon als Motiv, warum sie sich nicht dran wagen. Aber selbst bei Menschen, die jetzt nicht im Wesentlichen durch dieses Motiv getrieben sind, gibt es ein Zögern. Weil man merkt, das könnte eskalieren.

Darum ist wichtig, Inseln der Suffizienz zu organisieren. In der Hoffnung, dass die Diffusion schnell genug gelingt und sich eine Weiterentwicklung der normativen Ordnung ergibt. Darum tut mir das so unendlich weh, dass man die Ukrainekrise bisher nicht genutzt hat, um zu sagen: ‚Der nächste Winter wird hart. Vermutlich wird es in jedem Wohnzimmer ein paar Grad weniger sein. Wir werden auch eine Rezession riskieren, weil wir bestimmte Wirtschaftssektoren im Winter vom Netz nehmen müssen. Aber wir werden das packen. Lasst es uns versuchen. Was wir dafür bekommen, ist nicht nur ein Schub in der Energiewende, sondern eine Unabhängigkeit von einem diktatorischen Regime. Wir werden bewusst nicht nochmal 20 Milliarden Euro ausgeben, damit ihr noch drei Monate günstiger tanken könnt, sondern wir nutzen diese 20 Milliarden, um eure Heizung umzubauen und Häuser zu isolieren. Wir werden jetzt mit einer Offensive starten und Handwerker qualifizieren‘. Das wäre eine andere politische Reaktion. Eine mutige, die dieses historische Fenster nutzt. Bisher hat niemand diesen Versuch unternommen. Vermutlich ist die Hoffnung noch zu groß, dass es auch irgendwie so gut gehen wird und man im Wesentlichen in den alten Modus zurückkehren kann.

Literatur

Kopatz, Michael (2018): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom.

Sachs, Wolfgang (1993): Die vier E’s. Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil. In: Politische Ökologie 11 (33), S. 69–72.

Schneidewind, Uwe und Zahrnt, Angelika (2013): Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. München: oekom.