Ernst Dieter Rossmann*, 1
* Corresponding author: kell.rossmann@t-online.de
1 Abgeordneter des Deutschen Bundestages (1998–2021), Berlin, DE
Lauterbach, Karl (2022):
Bevor es zu spät ist. Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält.
Berlin: Rowohlt.
282 S., 22 Euro,
ISBN 9783737101325
Karl Lauterbach – Bundesminister für Gesundheit, Abgeordneter des Deutschen Bundestags, Wissenschaftler, Mediziner, Vater, Sozialdemokrat – hat ein komplexes Buch geschrieben, in dem in sieben Kapiteln vier verschiedene und doch im Leben des Verfassers eng verbundene „Erzählungen“ miteinander verschränkt werden, anschaulich und durchaus locker geschrieben, bisweilen etwas redundant, aber das mag der pädagogischen Ader des Hochschulprofessors und Volksvertreters geschuldet sein.
Im Sinne der Transparenz sei erwähnt, dass der Verfasser dieser Rezension als Abgeordneter des Deutschen Bundestages von 1998 bis 2021 sowie als Vorsitzender des Ausschusses des Deutschen Bundestags für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung von 2017 bis 2021 Karl Lauterbach über 17 Jahre hinweg als Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktion und im Bundestag erlebt hat. Auch wenn persönliche Urteile über Kollegen schnell merkwürdig klingen mögen: Das Buch ist in seinen Stärken wie Schwächen absolut authentisch in dem, wie der Wissenschaftler Lauterbach in seinen Darlegungen und der Politiker Lauterbach in seinen Ämtern und in der Öffentlichkeit aufgetreten ist und agiert hat. Das Buch ist insoweit ein ‚echter Karl Lauterbach‘ – ein Manifest in der Sorge um das Wohl der Menschen, „bevor es zu spät ist“, und ein Manifest aus der Sorge heraus, „was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält.“
Das Buch ist, wie der Verlag ausdrücklich kenntlich macht, in Zusammenarbeit mit dem Biologen, Journalisten und Buchautor Lothar Frenz entstanden. Es ist in weiten Teilen ein Sachbuch von wissenschaftlicher Aktualität und doch viel mehr als nur ein Sachbuch. Es ist zugleich ein biographisch angelehntes Buch wie auch das Buch eines Vaters, der sich mit den Anliegen und Perspektiven seiner jugendlich engagierten Kinder auseinandersetzt. Es ist das Buch eines Ministers und Parlamentariers, der politische Abläufe in all ihren Facetten kennt und erklären kann, diese kritisiert und verbessern will. Und es ist das Buch eines Wissenschaftlers, der zum Politiker wurde, und eines Politikers, der von der Wissenschaft als seinem Lebensinhalt nicht lassen kann und will. Zwei Missionen will Karl Lauterbach mit diesem Buch vorantreiben: dem Klimawandel als die größte Menschheitsaufgabe für die Zukunft noch rechtzeitig und nachhaltig zu begegnen, und die zwei Systeme von Politik und Wissenschaft enger miteinander zu verknüpfen.
Die Einleitung mit dem Ausblick auf das ‚Jahrzehnt der Entscheidung‘ skizziert den Handlungsrahmen globaler Probleme mit dem Klimawandel als der mit Abstand drängendsten, aber nicht der einzigen Menschheitsaufgabe. Die zweifelnden, wenn auch noch nicht verzweifelten Fragen, warum wir es nicht schaffen, wissenschaftliche Erkenntnisse rechtzeitig in Handeln umzusetzen, beantwortet Lauterbach, der sich selbst als skeptischen, oder besser „realistischen Pessimisten“ (S. 27) verortet, mit drei Kernforderungen. Erstens, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen im politischen Prozess eine ganz andere Rolle spielen als bisher. Zweitens, die liberalen Demokratien müssen dringend an Geschwindigkeit zulegen. Drittens, die Politik muss Kompetenzen an die Wissenschaft auslagern. Lauterbach fordert hier nicht weniger als „eine Revolution des Zusammenspiels von Politik und Wissenschaft“ ein (S. 33).
Der schwierigen Beziehung von Wissenschaft und Politik ist denn auch das erste und mit 54 Seiten längste Kapitel des Buches gewidmet. Hier wird Lauterbach sehr persönlich und zugleich sehr direkt und sehr fordernd. Das Ideal eines Wissenschaftlers als eines politisch neutralen, allein dem Erkenntnisgewinn verpflichteten Denkers erscheint ihm nicht mehr zeitgemäß. Diese positivistische Sicht, die er in Deutschland im Unterschied zu seinem Bezugsland USA als noch zu sehr verbreitet ansieht, möchte er in eine andere Perspektive verändern – nämlich in die der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und in politisches Engagement, erst recht, wo es „im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig“ ist (S. 49).
Auf die Politisierung der Wissenschaft sollte eine wissenschafts- und evidenzbasierte Politik folgen: ‚Raus aus dem Labor, rein in die Politik‘, d. h. in die Parteien wie in die Parlamente. Dass dies ein unwägbares Abenteuer ist, das aber bestanden werden kann, beleuchtet er an seinem eigenen Lebenslauf, der motiviert und Mut zur direkten Mitwirkung macht. Die acht von Lauterbach diskutierten derzeitigen Wege, wissenschaftliche Erkenntnis in der deutschen Politik zu verankern, hält er nicht für ausreichend. Dass dabei das Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestages (TAB) übersehen wurde, ist aber mehr als befremdlich. Dies muss beiden Seiten zu denken geben, Lauterbach selbst, aber auch dem TAB und seiner Wirkungskraft ins Parlament hinein.
Auf die Politisierung der Wissenschaft sollte eine wissenschafts- und evidenzbasierte Politik folgen.
Lauterbach arbeitet weiterhin drei Schwierigkeiten heraus, wissenschaftliche Erkenntnisse in der Politik durchzusetzen: zunehmend wissenschaftsfeindliche statt faktenbasierte Haltungen in Teilen der Öffentlichkeit und Politik, zu wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Politik und eine zu späte und inkonsequente Einbringung der vorliegenden Erkenntnisse in den politischen Prozess verbunden mit dem Fehlen von verbindlichen wissenschaftsgeleiteten Verfahren.
Besonders interessant ist hier Lauterbachs These zum Verhältnis der Systeme Wissenschaft und Politik hinsichtlich ihrer Haltung zu Problemen: Wissenschaft suche Probleme systematisch und sehe diese als Herausforderung, während Politik Probleme vorrangig danach aussuche, dass sie zu schon vorher gefundenen realistischen Lösungen passen (S. 76). Auch deshalb brauche es zur Optimierung der Kooperation von Wissenschaft und Politik mehr Politikerinnen und Politiker mit wissenschaftlichem Hintergrund, insbesondere in den Parlamenten. Eine allgemeine Priorität politischer Ziele vor wissenschaftlichen Erkenntnissen sei nicht mehr zu akzeptieren, insbesondere hinsichtlich der Klimapolitik. Ein aus der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie gewonnener Vorschlag sind daher Expertenräte, die fokussierte, evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für politische Verhandlungen vorlegen.
Ob diese Aufforderungen von Karl Lauterbach zu einem neuen Rollenverständnis von Wissenschaft die Scientific Community, die politischen Brain Trusts und die Führungsorgane wirklich erreichen, sei dahingestellt. Das Buch wendet sich nicht an die Expertinnen und Experten aus der Klimawissenschaft und wird den Fachschaften der Energiewende nichts wirklich Neues bringen können, sondern hat seine Stärken in der Erklärung von Politik und der Motivierung zum eigenen Mittun. Der hier gesetzte Impuls kann auch durch die Teile der Leserschaft weitergetragen werden, die nicht innerhalb der Wissenschaft, sondern durch die Wissenschaft angesprochen werden. In diesem Sinne werden hier in beide Richtungen, die der Wissenschaft und die der interessierten Öffentlichkeit, sehr gelungene Beispiele von guter Wissenschaftskommunikation präsentiert, d. h. die Übersetzung von belastbaren Erkenntnissen der Wissenschaft in die Rezeption einer nicht primär wissenschaftlich qualifizierten Leserschaft, z. B. eine kurze Geschichte des Klimas – vom Urknall über die Physik, die Chemie, die Biologie, den Menschen bis hin zum Treibhauseffekt –, wie sie im Zeitalter des Anthropozäns in den verbindlichen Bildungskanon gehört. Für die vertiefende Lektüre finden sich im Anhang nicht nur umfangreiche Anmerkungen mit vielen digitalen Quellen, sondern auch eine Liste von 52 relevanten Büchern aus der deutschen wie auch internationalen Literatur.
Lauterbach diskutiert in vier Kapiteln Schlüsselfragen für die notwendige Transformation in den Bereichen Klimaschutz, Ernährung, Wassermangel und Pandemien. Im Besonderen orientiert er sich hier am Schellnhuber-Paradigma der Kipppunkte und Dominoeffekte, also „jene(n) Schwellen, an denen ein System seine gewohnte Funktionswiese drastisch verändert oder einstellt, so dass es kein Zurück mehr gibt“ (S. 19). Der Stand der Wissenschaft wird anhand gesicherter Fakten klar herausgearbeitet und gleichzeitig hütet sich der Autor vor der Verkündung letzter Wahrheiten. Das Reflektieren und Abwägen erhöht umso mehr die Überzeugungskraft der dann aufgezeigten Lösungsvorschläge. Das nimmt die Leserschaft mit, ohne sie zu überwältigen. Weil es Lauterbach so wichtig ist, scheut er sich auch nicht, frei nach Willy Brandt zu sagen: ‚Wir müssen mehr Wissenschaft wagen‘. Ähnlich der damaligen Begeisterung und Engagement für Veränderung und Demokratie erwartet Lauterbach eine zukünftige Fridays-for-Future-Generation, in der er politisch den „positiven Kipppunkt sieht, auf den alle gewartet haben“ (S. 253).
Rechtfertigt eigentlich ein Buch, das dieses Pathos nicht scheut, eine Besprechung und eine Empfehlung in der so rational angelegten Zeitschrift TATuP. Ich meine ja. Noch einmal Karl Lauterbach aus einem Interview in der FAZ vom 06. 03. 2022: „Für mich sind Vernunft und Moral nicht zwei Bereiche, die man ins Verhältnis setzen muss, sondern die Moral kommt aus der Vernunft.“ Wer Technikfolgenabschätzung betreibt, zählt zu diesen vernünftigen Moralisten. Die Aufforderung, hieraus vernünftige und moralische Politik demokratisch mitzugestalten, sollte angenommen werden.