Research article

‚Nützliches‘ Wissen in der wissenschaftlichen Politikberatung?: Ein linguistisch-erkenntnistheoretisches Projekt

Janine Gondolf*, 1 https://orcid.org/0000000256448328, Armin Grunwald1 https://orcid.org/000000033683275X, Dorothee Jahaj2, Nina Janich2

* Corresponding author: janine.gondolf@kit.edu

1 Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, DE

2 Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, DE

Zusammenfassung  Wissenschaftliche Politikberatung ist eine besondere, da hybride Art der wissenschaftlichen Tätigkeit: Wissenschaft in ihrer beratenden Funktion gerät in den Konflikt, Inhalte wissenschaftlich glaubwürdig, sachbezogen und wertfrei darstellen und gleichermaßen politisch wirksam, d. h. handlungsleitend und öffentlich nachvollziehbar, aufbereiten zu müssen. Die daraus resultierenden Texte sind daher für die Wissenschaftsforschung spannend im Blick auf die Frage, wie sich in ihnen das Ringen um epistemische Qualität und soziale Legitimierung sprachlich und inhaltlich in der (Ko-)Konstruktion von Wissen niederschlägt. Im Rahmen eines aktuellen interdisziplinären DFG-Projekts wird die Praxis wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland in Form, Inhalt und Funktion anhand exemplarischer Fälle linguistisch und erkenntnistheoretisch untersucht.

‘Useful’ knowledge in scientific policy advice?: A linguistic epistemological project

Abstract  Scientific policy advice is a special, hybrid type of scientific activity: science in its advisory function faces the conflict of having to present content in a scientifically credible, unbiased, and value-free form and, at the same time, to prepare it in a politically effective way, i.e., in a way that guides action and is publicly comprehensible. The resulting texts are therefore particularly interesting for approaching scientific research practices with regard to the question of how the struggle for epistemic quality and social legitimacy is reflected in their language and content in the (co-)construction of knowledge. Using exemplary cases, a current interdisciplinary DFG project investigates the practice of scientific policy advice in Germany in terms of form, content, and function from a linguistic and epistemological perspective.

Keywords  epistemology, policy advice, scientific responsibility, text linguistics, text procedures

© 2023 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 32/1 (2023), S. 63–68, https://doi.org/10.14512/tatup.32.1.63

Received: 04. 04. 2022; revised version accepted: 16. 01. 2023; published online: 23. 03. 2023 (peer review); online version corrected: 08 Nov. 2024

Produkte wissenschaftlicher Politikberatung

Im Schatten der globalen Corona-Pandemie wird erneut die besondere gesellschaftliche Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse hervorgehoben. Epidemiolog*innen und Virolog*innen treten öffentlich als Expert*innen auf und unterstützen aktiv Politik und Gesellschaft bei der Entscheidungsfindung und Legitimation bereits getroffener Maßnahmen. Die beiden Funktionen wissenschaftlicher Politikberatung – die epistemische, in deren Rahmen Wissen generiert, verhandelt und kontextualisiert wird, und die legitimatorische, also die Rechtfertigung politischer Entscheidungen (Schützeichel 2008, S. 16; Grunwald 2018; 2022) – erzeugen eine besondere Gemengelage von Herausforderungen im Umgehen mit wissenschaftlichem Wissen: Neben epistemischer Qualität wird von öffentlicher Expertise und Beratung erwartet, dass Wissenschaftler*innen das fachlich tiefe, disziplinär generierte Wissen für andere Handlungsfelder nutzbar machen können, dass sie Gesellschaft und Politik also ‚nützliches‘ Wissen anbieten (Carrier 2022). Erwartet werden Diagnosen und Handlungsempfehlungen, die auf möglichst gesichertem und belastbarem Wissen basieren und zugleich klar und verständlich formuliert sind. Oft ist ersteres bei tagesaktuellen Themen, die Gestaltung ermöglichen oder erfordern und deshalb politisch besonders relevant sind, ein nur selten zu erreichendes Ziel. Trotzdem versuchen Forschende (einzeln oder institutionell organisiert) in Stellungnahmen, Gutachten und Rahmenstudien den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand für eine potenziell breite Leserschaft zu erklären und darüber hinaus Empfehlungen für das weitere Vorgehen in verschiedenen, gesellschaftlich relevanten Sektoren abzugeben.

Wie geht ‚die‘ Wissenschaft also konkret vor, wenn sie in der Politikberatung an zeiträumlich und thematisch determinierten Schnittstellen kollaborativ Wissen bereitstellt – sei es auf Aufforderung oder aus Eigeninitiative? Die bislang vorhandenen Erkenntnisse um diese Zusammenhänge basieren fast ausschließlich auf empirischer Sozialforschung zu institutionellen Modellen und zur Praxis von Politikberatung (Kropp und Wagner 2008; Weingart und Lentsch 2015; Weitze und Heckl 2016; Schrögel und Humm 2020). Dass jedoch auch die Art der Argumentation und die sprachliche Form der Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse und Prozesse in diesem Kontext relevant sind, spielt in diesen Untersuchungen keine besondere Rolle – diesem Desiderat entspringt das hier vorgestellte Projekt.

Das DFG-Projekt „Wissenschaftliche Politikberatung zwischen epistemischer und legitimatorischer Funktion. Textprozeduren der Relevanz-, Zuständigkeits- und Verantwortungszuschreibung“ untersucht in einem interdisziplinären linguistisch-erkenntnistheoretischen Zugriff politikberatende Stellungnahmen zu ausgewählten Themen aus den letzten 20 Jahren, und zwar von drei typologisch zu unterscheidenden deutschen Institutionen: dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung: Globale Umweltveränderungen (WBGU), der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und dem Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Es will einen interdisziplinären Beitrag zur innerwissenschaftlichen Kontroverse über die Verantwortung der Wissenschaft als unabhängige demokratische Instanz mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen und die öffentliche Kommunikation ihrer Erkenntnisse leisten (Grunwald 2015, 2022; Strohschneider 2014; Schneidewind 2015).

Texte als Artefakte ‚nützlichen Wissens‘

In inter- und metadisziplinären wissenschaftlichen Expertenteams, wie sie in der wissenschaftlichen Politikberatung üblich sind, werden angesichts (oft implizit) geteilter Theorien und Methoden Begründungszusammenhänge sprachpraktisch wie epistemisch anders verhandelt als es beispielsweise der Austausch innerhalb der eigenen Fach-Community erlaubt. Insofern ist die wissenschaftliche Politikberatung von ‚wissenschaftlicher Forschung‘ zu unterscheiden (Weingart und Lentsch 2015, S. 42 f.): Sie ist der Art und der Verpflichtung nach immer fachlich ‚offen‘, denn die Bereitstellung von gesellschaftlich und politisch ‚nützlichem‘ Wissen ist das Ziel. Der Rückbezug auf Evidenzen, das Herstellen von Nachvollziehbarkeit sowie das Sicherstellen der Reproduzierbarkeit von Aussagen sind allerdings derart genuine wissenschaftliche Normen, dass sie in der wissenschaftlichen Politikberatung nicht nur weiterhin befolgt, sondern (in gewissem Maße) auch öffentlich und verständlich dargelegt werden müssen, um daraus resultierende Handlungsoptionen begründet kommunizieren zu können. Neben den eigentlichen Erkenntnissen sollten gerade in diesen Kontexten im Idealfall also auch epistemische Traditionen und Werte, Theorien und Methoden aktiv aufgegriffen oder zugeordnet, Netzwerke mobilisiert und Expertise ausgewiesen werden (Gethmann et al. 2015). Es ist zu erwarten (bzw. zu fragen und zu prüfen), dass (bzw. ob und inwieweit) politikberatende Texte diese Zusammenhänge in Aufbau, Inhalt und Form bezeugen und sich damit von wissenschaftlichen Originalpublikationen unterscheiden.

Die Expertentätigkeit innerhalb der wissenschaftlichen Politikberatung ist aber nicht nur eine Kommunikation ‚aus der Wissenschaft heraus‘ – im Textproduktionsprozess bringt sie zudem unterschiedliche Tätigkeitsfelder mit jeweils eigenen Fachkulturen, (Sprach-)Praktiken und (epistemischen) Normensystemen zusammen (Grunwald 2018; Gobbo und Russo 2020). Unterschiede zeigen sich dabei im Umgang mit Wissensbeständen, offenen Fragen und Leerstellen: Besonders zur fachexternen Wissensvermittlung unter Bedingungen wie Verantwortung, Legitimation und Nützlichkeit fehlen oft einheitliche Vorstellungen oder Gelingenskriterien (Carrier 2022; Kropp und Wagner 2008). Übersetzungsschwierigkeiten, wie sie nach Callon (1984) in der Translation als der Übertragung von einem in ein anders Wissensregime oder durch das Umsetzen und Nachnutzen von Begriffen in einem anderen Kontext (Gondolf und Nordmann 2021) vorkommen können, lassen sich epistemologisch nicht ausschließlich mit dem Verweis auf unterschiedlich kanonisierte und womöglich gegenläufige Strategien der Wissenskommunikation klären.

Wie geht ‚die‘ Wissenschaft vor, wenn sie in der Politikberatung Wissen bereitstellt?

In der wissenschaftlichen Politikberatung ist es also die verantwortungsvolle Aufgabe der Wissenschaft, den Austausch über die Grenzen, die Politik, Gesellschaft und andere beteiligte Interessensgemeinschaften und Handlungsfelder trennen, hinweg abzusichern und nachhaltig zu gestalten – und zwar zunächst unabhängig davon, welche Arten des Wissens innerhalb der Wissenschaft diskutiert und bearbeitet werden. In Bezug auf den geteilten demokratischen Rahmen kann (und muss womöglich) die Wissenschaft als Institution auftreten, die – quasi als Sprachrohr – auch durch einzelne Wissenschaftler*innen vertreten wird bzw. vertreten werden kann. In diesem Sinne sind letztere als Expert*innen vor allem Stellvertreter*innen einer bestimmten Kommunikationskultur (und nicht vorrangig eigenmotivierter Akteur in einem Austausch oder Aushandlungsprozess), an die kontextabhängig Erwartungen wie Offenheit, Antwortfreudigkeit und -fähigkeit sowie Transparenz von Annahmen und Methoden, aber auch Integrität, Effizienz und Nützlichkeit gerichtet werden. Die Grundlagen und Richtlinien guter Politikberatung beziehen sich dementsprechend auch auf allgemeinere Vorstellungen guter wissenschaftlicher Arbeit (Weingart et al. 2008; DFG 2022).

Texte als Produkte der wissenschaftlichen Politikberatung sind öffentlich zugängliche Artefakte, die potenziell in vielen nicht-wissenschaftlichen Bereichen Impulse setzen können und im digitalen Zeitalter zudem langfristig verfügbar sind. Sie sind zugleich als exemplarisch für eine kollaborative und öffentliche Selbstdarstellungspraktik der Wissenschaft und als entsprechende wissenschaftliche Selbsterklärung anzusehen. Epistemologisch sind die Texte besonders dahingehend interessant, dass unterschiedliche Arten des Wissens in handlungsleitende Informationen umgewandelt und dabei so aufbereitet werden müssen, dass sie in anderen Kontexten ‚brauchbar‘ (Kropp und Wagner 2008, S. 189) und ‚nützlich‘ (Carrier 2022) sind. Insbesondere erscheint interessant, inwiefern aus Einzelfällen einerseits gängige Muster, andererseits fallweise Auffälligkeiten und Besonderheiten zu erschließen sind, die Einsichten in die Praxis der Politikberatung gewähren und zugleich verstehen helfen, wo und warum Politikberatung innerwissenschaftlich immer wieder zu Konflikten und Kontroversen führt (Jahaj und Janich 2022). Dabei wird es um Fragen der Wissenschaft(ssprach)lichkeit ebenso zu gehen haben wie um den Umgang mit unsicherem Wissen, Kontroversen und unterstellten/möglichen Interessenkonflikten.

Herangehensweise

Als ein erster Einblick werden hier exemplarisch die jeweiligen Stellungnahmen und Gutachten der drei genannten Institutionen zum Thema ‚Bioenergie‘ (2008–2012) betrachtet. Die Linguistik mit ihren textanalytischen Verfahren bietet die Möglichkeit, auf sprachlicher Ebene vergleichend Schlüsse zu ziehen, zu denen eine reine Inhaltsanalyse keinen Zugang findet. Ausgegangen wird im vorliegenden Fall von der Hypothese, dass es insbesondere dort, wo eine relative Unsicherheit in Bezug auf das dargelegte Wissen besteht, zu Konflikten zwischen einem wissenschaftlichen Qualitätsanspruch (d. h. epistemischen Praktiken) und der Formulierung von Handlungsempfehlungen (d. h. legitimatorischen Praktiken) kommt.

Unsicherheit und unsicheres Wissen können sprachlich etwa durch die Referenz auf Unsicherheit durch semantisch explizit denotierende Lexeme markiert werden (z. B. Zweifel, Unklarheit, ungewiss, unsicher, unklar) oder durch eine Modalisierung der Proposition (z. B. mittels Konjunktiv, Modalverben wie können, müssen, sollen oder sog. hedges wie vielleicht, möglicherweise). Zu grammatischen Unsicherheitsmarkierungen gehören zudem Ausdrucksformen für Temporalität und der Negation (z. B. um ein ‚Noch-nicht-Wissen‘ oder auch ein ‚Niemals-wissen-Können‘ anzuzeigen) oder aber auch Satzarten wie Fragen (Janich 2018, S. 563; Janich und Simmerling 2023, S. 159 f.). Ein erster Ausgangspunkt für die Untersuchung der Versprachlichungspraktiken von unsicherem Wissen kann somit das Identifizieren solcher Textstellen sein, in denen Unsicherheitsmarkierungen in Bezug auf das behandelte Wissen zu finden sind.

Ihrer legitimatorischen Funktion werden die politikberatenden Texte erwartungsgemäß in all jenen Textstellen gerecht, in denen konkrete Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden. Gibt es eine solche Empfehlung zu einer politisch relevanten Problemlage, so kann diese im Nachgang als Rechtfertigung für politische Entscheidungen und Maßnahmen genutzt werden. Linguistisch betrachtet handelt es sich bei der Versprachlichung einer Handlungsempfehlung um einen direktiven Sprechakt, das heißt um den Versuch, Rezipient*innen des Textes zur Ausführung einer bestimmten Handlung in der Zukunft zu bewegen. Ein solcher Sprechakt kann in unterschiedlicher Verbindlichkeit durch direktive Verben wie empfehlen, raten, fordern performativ markiert sein. Alternativ kann der vom Sprecher intendierte kommunikative Zweck (Illokution) auf der sprachlichen Oberfläche auch durch weniger explizite Mittel – etwa Modalverben – verdeutlicht werden, um z. B. auf Dringlichkeit hinzuweisen. Eine qualitative Analyse der Texte, innerhalb welcher all jene Textstellen identifiziert werden, die Unsicherheitsmarkierungen und Handlungsempfehlungen enthalten, erscheint also notwendig, da für die konkrete Deutung sprachlicher Oberflächenphänomene auch die textuelle Umgebung der betrachteten Aussage berücksichtigt werden muss.

(1) „Es besteht daher noch technisches Potenzial zur Steigerung der globalen Ernteerträge. Ob dies in einer nachhaltigen Art und Weise erreicht werden kann, bedarf weiterer Untersuchungen.“ (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2013, S. 42)

In (1) verweisen die Textproduzent*innen auf wissenschaftliches Nichtwissen oder Noch-nicht-genug-Wissen (ob … erreicht werden kann), welches nur durch weitere Forschungsbemühungen behoben oder verringert werden kann (weiterer Untersuchungen). Dieses Forschungsdesiderat wird mit zweierlei Handlungsempfehlungen verbunden, indem erstens indirekt auf die Möglichkeit eines Wissensfortschritts verwiesen (technische Potenzial zur Steigerung globaler Ernteerträge) und zweitens explizit eine Handlungsnotwendigkeit (bedarf) formuliert wird. Ein tatsächlicher Konflikt zwischen dem Bereitstellen von wissenschaftlichem Wissen und der Legitimation bestimmter politischer Maßnahmen lässt sich hier allerdings noch nicht feststellen.

Schwieriger scheint eine konkrete Beratung bei Sachverhalten zu sein, die so ungewiss sind, dass es der Wissenschaft nicht möglich ist, auf dieser Basis Empfehlungen bzw. klare Aussagen über den Impact von Maßnahmen auf zukünftige Entwicklungen zu formulieren, wie beispielsweise im TAB-Bericht:

(2) „Die Ausbauszenarien sind von klimaschutzpolitischen (und ergänzenden umwelt- bzw. naturschutzpolitischen) Zielsetzungen ausgehend konstruiert. Sie stellen damit normative Szenarien dar und analysieren, inwieweit eine gewünschte Zukunft erreicht werden kann. Sie geben aber keine Antwort auf die Frage, wie sich die Bioenergie- und Energiepflanzennutzung in Zukunft unter verschiedenen Rahmenbedingungen entwickeln wird und welche Konkurrenzsituationen als Folgewirkung dabei zu erwarten sind.“ (Meyer et al. 2010, S. 55)

Auch das Prognostizieren möglicher Zukünfte zählen politikberatende Institutionen zu ihren Aufgaben. So setzt sich etwa das TAB unter anderem das Ziel, „die Potenziale und Auswirkungen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen umfassend und vorrausschauend zu analysieren“ (TAB 2022). In (2) wird die Aussagekraft der wissenschaftlichen Verfahren deutlich eingeschränkt (geben aber keine Antwort auf die Frage) und so auf die Grenzen wissenschaftlich fundierter Prognostizierbarkeit hingewiesen. Handlungsempfehlungen müssen dementsprechend immer in Anbetracht damit zusammenhängender Einschränkungen (sind von klimaschutzpolitischen … Zielsetzungen ausgehend konstruiert) verstanden werden. Während es innerwissenschaftlich in der Regel außer Frage steht, dass Forschung und Erkenntnisse immer nur einen aktuellen Wissensstand abbilden, der durch weitere Forschung jederzeit falsifiziert oder modifiziert werden kann, erwarten Politik und Öffentlichkeit eine möglichst stabile Wissensbasis für gesellschaftliche Entscheidungen (Weingart und Lentsch 2015).

Politik und Öffentlichkeit erwarten eine möglichst stabile Wissensbasis für gesellschaftliche Entscheidungen.

Aussagen wie die in (2) können diesen Erwartungen (und damit der legitimatorischen Funktion) daher wohl nur sehr beschränkt nachkommen – andererseits werden die Grenzen des Wissens bzw. sein tatsächlicher Geltungsbereich sprachlich transparent gemacht, so dass die epistemische Funktion wissenschaftlichen Standards entsprechend erfüllt ist.

Besonders häufig sind sowohl Handlungsempfehlungen als auch Prognosen in den hier untersuchten Texten mit einem expliziten Kausalzusammenhang verbunden:

(3) „Als förderungswürdig erachtet werden vor allem die Nutzung biogener Abfall- und Reststoffe sowie der Anbau von Energiepflanzen auf marginalem Land, wenn dabei verbesserter Klima-, Boden-, Wasser- und Biodiversitätsschutz nachgewiesen werden kann – und der Anbau auch bezüglich sozialer Kriterien positiv bewertet wird.“ (WBGU 2008, S. 332)

(4) „Vor allem weil davon auszugehen ist, dass fast die gesamte Biomasse, die weltweit nachhaltig angebaut werden kann, in Zukunft erforderlich sein könnte, um die wachsende Weltbevölkerung mit aus Biomasse gewonnenen Lebensmitteln und Waren zu versorgen, wenn Länder wie Brasilien, China und Indien den europäischen Lebensstandard erreichen und die entsprechende Ernährungsweise der industrialisierten Gesellschaft übernehmen.“ (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2013, S. 7)

Beide Textbeispiele enthalten ein konditionales ‚Wenn‘, welches Aussagen über notwendige Rahmenbedingungen für die Handlungsempfehlung (3) bzw. die zukünftige Entwicklung (4) markiert. Neben dem Kausalzusammenhang wird dadurch auch ein gewisser Grad der Unsicherheit ausgedrückt, indem aufgezeigt wird, dass sowohl die Sinnhaftigkeit der Handlungsempfehlung als auch die Eintrittswahrscheinlichkeit der Zukunftsprognose nicht völlig gesichert sind, dass also Alternativen bestehen, sollten die entsprechenden Voraussetzungen nicht gegeben sein. Im Gegensatz zu (2) ist es den politikberatenden Wissenschaftler*innen hier also zwar möglich, konkrete Aussagen zu machen, auch diese werden aber durch explizierte Konditionen beschränkt.

Die behandelten Beispiele und deren knappe Analyse zeigt, dass sich innerhalb des untersuchten Fallbeispiels ein breites Spektrum unterschiedlicher Sicherheits- bzw. Unsicherheitsgrade und somit legitimatorischen Potenzials aufspannt. Dessen Systematisierung auf Basis einer Analyse der Argumentationsstrukturen sowie der Einbezug von Rollen- und Verantwortungszuweisungen innerhalb der Texte werden, so unsere Annahme, tiefere Einblicke in die Beratungspraktiken bieten und das Spannungsfeld zwischen epistemischer und legitimatorischer Funktion noch weiter differenzieren.

Wissenschaftlichkeit und Politikberatung

Auch übergeordnete Fragen an wissenschaftliche Beratungsprozesse kommen im Projekt durch die Analyse der Texte in den Blick: Was macht Politikberatung über ihre Durchführung durch beratende Wissenschaftler*innen hinaus ‚wissenschaftlich‘? Ist Wissenschaft hier in besonderer Weise dem öffentlichen Nachweis von Nützlichkeitsaspekten verpflichtet, um gesellschaftlich legitimiert zu sein? Unter welchen Bedingungen ist das der Fall (Grunwald 2018; Carrier 2022)? Wie verhält sich diese Ebene von Wissenschaftlichkeit zu klassischen Konzepten des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, die der parteilosen Wahrheit als Aussage über eine geteilte Realität verpflichtet sind (Gobbo und Russo 2020; Chang 1999)? Inwiefern spielen hier Aspekte wie ‚true/false‘ (wissenschaftlicher Wahrheitsanspruch), ‚right/wrong‘ (Wertefragen und Handlungsbezug) oder good/bad (demokratisch-wissenschaftliche Verantwortung) eine Rolle (Grunwald 2018, 2022; Carrier 2022) und wie schlagen sich diese in den Texten nieder?

Diese weiteren Wirkzusammenhänge sind auch aus praktisch-pragmatischer Sicht höchst relevant: Im Kontext der wissenschaftlichen Politikberatung wird der funktionale Aspekt wissenschaftlichen Wissens in den Vordergrund gerückt. Im Expertenaustausch stellt sich daher in besonderer Weise die Frage, was Brauchbarkeit und Nützlichkeit in Bezug auf unterschiedliche Wissensformen und deren erkenntnistheoretische Grundlagen bedeutet. Inwiefern Aspekte und Vorannahmen der Wissenschaftlichkeit diese Auseinandersetzungen vor- und mitbestimmen, kann und soll anhand der Texte der wissenschaftlichen Politikberatung im Verlauf des Projekts genauer erforscht werden.

Fazit

Das in diesem Beitrag vorgestellte Projekt bietet einen neuen Zugang zur wissenschaftlichen Politikberatung. Mit linguistischen und erkenntnistheoretischen Methoden werden die an der kommunikativen Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit entstehenden Textprodukte auf das in ihnen behandelte Wissen/Nichtwissen und seine Nützlichkeit, auf Praktiken der Handlungsempfehlung und auf Rollen- und Verantwortungszuweisungen hin untersucht. Ziel ist es, das (konfligierende?) Zusammenspiel der beiden unterschiedlichen Funktionen – Bereitstellen von wissenschaftlichem Wissen auf der einen Seite und Aussprechen von Handlungsempfehlungen zur Legitimation politischer Entscheidungen auf der anderen – in den Texten zu erheben und im Blick auf öffentliche Konflikte um die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft und für die Politik besser zu verstehen.

Funding  This research article has benefited from funding through the German Research Foundation (DFG), Project 453708784 ‚Wissenschaftliche Politikberatung zwischen epistemischer und legitimatorischer Funktion. Textprozeduren der Relevanz-, Zuständigkeits- und Verantwortungszuschreibung‘ (2021–2024).

Competing interests  The authors declare no competing interests except that author Armin Grunwald is a member of TATuP’s editorial board. This did not affect the peer-review process.

Research data

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2013): Bioenergie: Möglichkeiten und Grenzen. Online verfügbar unter https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2013_06_Stellungnahme_Bioenergie_DE.pdf, zuletzt geprüft am 02. 02. 2023.

Meyer, Rolf; Rösch, Christine; Sauter, Arnold (2010): Chancen und Herausforderungen neuer Energiepflanzen. In: TAB – Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Online verfügbar unter https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000102998/121852695, zuletzt geprüft am 02. 02. 2023.

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2008): Welt im Wandel: Zukunftsfähige Bioenergie und nachhaltige Landnutzung. Online verfügbar unter https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-zukunftsfaehige-bioenergie-und-nachhaltige-landnutzung, zuletzt geprüft am 02. 02. 2023.

Literatur

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Schneidewind, Ulrich (2015): Transformative Wissenschaft. Motor für gute Wissenschaft und lebendige Demokratie. In: GAIA – Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft 24 (2), S. 88–91. https://doi.org/10.14512/gaia.24.2.5

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Strohschneider, Peter (2014): Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In: André Brodocz, Dietrich Herrmann, Rainer Schmidt, Daniel Schulz und Julia Schulze Wessel (Hg.): Die Verfassung des Politischen. Wiesbaden: Springer VS, S. 175–192. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04784-9_10

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Weingart, Peter et al. (2008): Leitlinien Politikberatung. Berlin: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.

Weitze, Marc-Denis; Heckl, Wolfgang (2016): Wissenschaftskommunikation. Schlüsselideen, Akteure, Fallbeispiele. Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-47843-1

Autor:innen

Janine Gondolf

ist Wissenschaftsphilosophin und seit 2021 Teil der Forschungsgruppe „Soziotechische Zukünfte und Policies“ am Institut für Technikfolgenabschätzung am KIT.

Prof. Dr. Armin Grunwald

ist Professor für Ethik und Technikphilosophie und leitet das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am KIT sowie das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag.

Dorothee Jahaj

ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Angewandte Linguistik der Technischen Universität Darmstadt.

Prof. Dr. Nina Janich

ist Professorin für Angewandte Linguistik an der Technischen Universität Darmstadt.

Correction to Gondolf et al. (2024)

Received: 04. 04. 2022; revised version accepted: 16. 01. 2023; published online: 23. 03. 2023 (peer review); online version corrected: 08 Nov. 2024.

In the article “‚Nützliches‘ Wissen in der wissenschaftlichen Politikberatung?: Ein linguistisch-erkenntnistheoretisches Projekt” by Janine Gondolf, Armin Grunwald, Dorothee Jahaj and Nina Janich (TATuP – Journal for Technology Assessment in Theory and Practice, https://doi.org/10.14512/tatup.32.1.63), there was an error in the ‘Competing Interests’ section. The correct ‘Competing Interests’ statement is as follows:

The authors declare no competing interests except that author Armin Grunwald is a member of TATuP’s editorial board. This did not affect the peer-review process.