Ralf H. Schneider*, 1 https://orcid.org/0000-0002-5838-6423, Leonie Seng1 https://orcid.org/0000-0001-6297-0000, Linda Nierling1
* Corresponding author: ralf.schneider@kit.edu
1 Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, DE
Die Verantwortlichen der 10. Jahrestagung des Netzwerks Technikfolgenabschätzung (NTA), die von 14. bis 16. November 2022 von der Stiftung für Technikfolgenabschätzung, TA Swiss, in Bern organisiert wurde, wählten ein für die TA-Community neues und ungewöhnliches Thema: „Gestreamt, gelikt, flüchtig – schöne neue Kulturwelt? NTA10 ‚Kultur und Digitalisierung‘“. Die Programmgestaltung war dementsprechend vielfältig – sowohl inhaltlich als auch mit Blick auf die gewählten Formate. Hierbei wurden die über hundert Teilnehmenden aus der TA-Community durchgehend mit Akteuren, Themen und Fragestellungen der Kulturszene verzahnt, zum Beispiel in einem von drei Hauptvorträgen in Form einer Lesung und anschließenden Diskussion mit Sibylle Berg, Schriftstellerin und Autorin. Gerfried Stocker, Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer der Ars Electronica in Linz, hielt einen Vortrag zum Thema „Öffentlichkeit schaffen: Wie digitale Kultur kritisch reflektieren und vermitteln?“. Daneben sprachen aber auch bekannte Vertreter*innen aus der TA-Szene wie Jessica Heesen vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, die sich in ihrem Vortrag mit der Frage beschäftigte: „Kann und darf die Technikfolgenabschätzung (digitale) Kultur bewerten?“. Zusätzlich gab es zahlreiche Workshops mit wissenschaftlichen Fachvorträgen an der Schnittstelle von Digitalisierung und Kultur sowie eine Projektagora.
Zur geplanten Verbindung der Kultur- mit der TA-Szene zählte auch die Entscheidung, die Moderation des Rahmenprogramms an den Schweizer Kabarettisten und Musiker Flurin Caviezel zu übergeben. Was zunächst irritierend klingen mag, stellte sich in der Umsetzung als gelungen heraus, verstand Caviezel es doch, die komplexen Themenbereiche durch musikalische Einlagen und passende Gags auf hohem Niveau in kulturelle und lebensweltliche Bezüge zu setzen.
Der Tagung vorgelagert war das Jahrestreffen des NTA, das von Michael Decker (Karlsruher Institut für Technologie) mit einem Rückblick auf die vergangenen Netzwerkaktivitäten eröffnet wurde. Als aktuelle Unternehmungen wurde vor allen Dingen die geplante Weiterentwicklung der ‚openTA‘-Plattform diskutiert sowie ein Bericht aus der AG Nachhaltigkeit vorgestellt. Es folgte ein Rück- und Ausblick auf die Reihe der Europäischen TA-Konferenzen mit Fortsetzung 2024 in Wien und die internationale Vernetzung mit Blick auf das Netzwerk ‚Global TA‘. Auch die Entwicklung zentraler Publikationsorgane wie TATuP wurde diskutiert.
wird die Kontrollfähigkeit grenzenlos sein“, dichtete Moderator Flurin Caviezel auf die Melodie des bekannten Lieds von Reinhard Mey „Über den Wolken“ als Einleitung für Sibylle Bergs Lesung aus ihrem aktuellen Roman „RCE #RemoteCodeExecution“. Mit ihren Texten will sie aufklären und Transparenz schaffen – und vor der „Durchwirkung“ des Internets durch Kontrollversuche und Überwachung warnen. „Wo will das alles hin?“, fragte Berg in der für den Themenkomplex viel zu knappen Stunde, in der sie mit der TA-SWISS-Projektleiterin Jeannette Behringer und Oliver Nachtwey von der Universität Basel diskutierte.
Gesundheitsdaten müssten analog bleiben, ist nur eine zentrale These Bergs. Denn alles Digitale könne gehackt werden. Oliver Nachtwey verglich das Bedürfnis von Menschen, sich (beispielsweise in Social-Media-Anwendungen) freiwillig digital überwachen zu lassen, mit den religiösen Tagebüchern von Pietisten im 18. Jahrhundert, in denen diese ihre eigenen Fehltritte und Sünden festhielten. Berg ist sich der Negativität ihrer Analysen stets bewusst: „Jetzt wollte ich noch was ganz Schönes sagen … das hätte Sie alle überrascht.“ Und dennoch liegt in ihren Aussagen etwas Hoffnungsvolles, denn sie betont auch immer wieder die Handlungsmöglichkeiten einzelner Akteur*innen oder Interessensvertreter*innen.
Beat Estermann vom Verein opendata.ch (Basel) stellte im von Stephan Lingner (Institut für qualifizierende Innovationsforschung und -beratung, Bad Neuenahr-Ahrweiler) moderierten Workshop „Digitale Kunst und kollektives Gedächtnis: Herausforderungen der Archivierung“ seine Erfahrungen von Datenräumen (bspw. geplant von der Europäischen Union) für Kultur- und Kulturerbedaten vor. Die Idee dahinter sei, dass Datenproduzierende sich in solchen Räumen (rechts-)sicher austauschen können sollten. In der 2021 gegründeten Swiss Data Alliance wird der Anschluss an den europäischen Datenraum vorbereitet. Estermann betonte, dass die digitale Transformation in diesem Bereich einer bewussten Steuerung und Koordination bedürfe. Die vorgesehene Öffnung von digitalen Kulturerbedaten für die IT-Konzerne berge, neben einiger Möglichkeiten laut Estermann auch große Gefahren, wie zum Beispiel Einschränkungen in der Datenzugänglichkeit. Auch lizenzrechtliche Probleme führten, gerade bei Daten zeitgenössischer Kulturerbemedien im audiovisuellen Bereich, zu einer Lücke im Datenraum.
Margit Rosen (Zentrum für Kunst und Medien, Karlsruhe) sprach in ihrem Beitrag „Zur aktuellen Wahrscheinlichkeit einer kulturellen Amnesie“ über die Vergänglichkeit digitaler Kunstwerke. Die ernüchternde Bilanz von Margit Rosen: Digitale Kunst wird nicht lange erhalten bleiben. Den Grund dafür sieht Rosen unter anderem in einem Mangel an für diese Form der Bewahrung ausgebildeten Fachleuten sowie an dem chronischen Geldmangel der betreffenden Einrichtungen. Die ‚digitale Ewigkeit‘ dauere für diese Kunst lediglich 25 Jahre, so Margit Rosen – unter anderem aufgrund der sich permanent verändernden Technik von Speichermöglichkeiten und Ausspielgeräten. Der ewige Streit, ob alles für die Ewigkeit bewahrt werden müsse, präge ihren Alltag. Der Anspruch der meisten Künstler*innen sei jedoch, bleibende Kunst zu schaffen, selbst wenn sie vom Konzept her ephemer angelegt ist.
Im von Walter Peissl (Institut für Technikfolgen-Abschätzung, Wien) moderierten Workshop „Entscheidungsmacht und Kontrolle durch Algorithmen widmeten sich die Vortragenden aktuellen Herausforderungen von künstlicher Intelligenz (KI) vorranging im Feld der ‚Sozialen Medien‘. Charlotte Spencer-Smith (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Klagenfurt) stellte aktuelle empirische Untersuchungen ihres Dissertationsvorhabens zur „Algorithmischen Depriorisierung“ vor. Sie zeigte auf, dass die Moderation und Inhaltsregulierung auf verschiedenen ‚Social Media‘-Plattformen sehr unterschiedlich gehandhabt werde. Sie nimmt eine daraus resultierende algorithmenbasierte ‚Depriorisierung‘ von sowohl Accounts als auch Beiträgen an. Positiv sei, so Spencer-Smith, dass problematische Inhalte reduziert würden; andererseits könne ein Bias gegen marginalisierte Gruppen entstehen, zumal Betroffene selten aktiv gefragt würden, ob sie im Sinne der Algorithmen ‚geschützt‘ werden wollen.
Murat Karaboga (Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe) ergänzte diese Einsichten stellvertretend für sein Team mit einem Beitrag zu „Deepfakes als kulturelle Praxis und gesellschaftliche Herausforderungen“. Die mit Deepfakes im Entertainment-, Bildungs- und Werbungssektor einhergehenden Risiken lassen sich in psychologische, finanzielle und gesellschaftliche Risiken unterteilen, die jeweils aber auch individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Chancen, wie z. B. kostengünstige Produktionen, Abbau von Sprachbarrieren oder Sensibilisierung für Falschinformationen in sich bergen. Dabei wurden die Erkennungsmöglichkeiten sowie mögliche Regelungen für Fakes thematisiert.
Das Programm ermöglichte eine Vernetzung und Erweiterung der TA-Community mit Blick auf kulturelle und künstlerische Belange, aber auch eine intensive Bezugnahme von TA-Forschenden auf Fragen der Kunst und Kultur. Es zeigten sich einige Schnittstellen beider Bereiche – und es wurden konkrete Formen der Zusammenarbeit vorgestellt und diskutiert, z. B. das Format der DigiLog-Lounge im Karlsruher ZKM –, doch es zeigte sich auch, dass vor allen Dingen die neueren Technologien selbst echte Schnittstellen der Bereiche ermöglichen.
Mit Blick auf das Tagungsthema werden damit verbundene Fragen für die TA sicher in Zukunft weiterverfolgt werden: In welcher Weise lässt sich Kunst in Formate der Wissenskommunikation über Digitalisierung einbinden und wie lassen sich aus TA-Wissen künstlerische Bezüge realisieren? Wie können aktuelle digitale Entwicklungen, wie z. B. KI-generierte Kunstwerke, von der TA bewertet werden? Wie lassen sich mit kultureller Perspektive auch methodische Konzepte der TA reflektieren?
Und nicht zuletzt: Die Verzahnung von Kultur und Wissenschaft lässt auch neue Blicke auf die Positionierung und Verortung der eigenen Position zu – ein erfrischender Blick über den Tellerrand im eigenen Tagungsformat.