RESEARCH ARTICLE
Michaela Evers-Wölk1, André Uhl*, 1, Siegfried Behrendt1
* Corresponding author: a.uhl@izt.de
1 Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung GmbH, Berlin, DE
Zusammenfassung • Gesellschaften stehen vor der Herausforderung zunehmender multipler Krisensituationen, wie etwa den Folgen des globalen Klimawandels, kriegerischen Konflikten oder Pandemien. Die Politik ist gefordert, angemessene Antworten auf Fragen nach dem Umgang mit zukünftigen Bedrohungen zu finden. Im Zuge der COVID-19-Pandemie konnten zahlreiche Erfahrungen mit in diesem Zusammenhang eingesetzten Frühwarnsystemen gesammelt werden. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen wird im vorliegenden Artikel diskutiert, wie Krisenwarnung im politischen Raum zukünftig verbessert werden kann.
Abstract • Societies are facing the challenge of increasing multiple crisis situations, such as the consequences of global climate change, armed conflicts, or pandemics. Policy makers are challenged to find appropriate answers to questions about how to deal with future threats. In the course of the COVID-19 pandemic, numerous experiences were gained with early warning systems used in this context. Based on these experiences, this article discusses how early warning in the political sphere can be improved in the future.
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass moderne Gesellschaften unerwartet verletzlich sind. Die Erfahrungen verdeutlichen, dass auch Gesellschaften, die in der Vergangenheit als stabil galten, anfällig sein können, wenn sie nicht über angemessene Vorsorge- und Reaktionskonzepte verfügen. Weitere Krisen im Ausmaß von COVID-19 sind auch in Zukunft nicht ausgeschlossen. Von Naturkatastrophen und Umweltkrisen bis hin zu wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen – die Liste potenzieller Krisen ist lang und vielfältig.
Entsprechend steigt das Interesse der Politik an strategischer Vorausschau, Früherkennung und Frühwarnung. Während die strategische Vorausschau oftmals komplexe Zukunftsbilder generiert, dienen Früherkennungssysteme dem möglichst präzisen Erkennen künftiger Entwicklungen und der Bewertung damit verbundener Handlungsnotwendigkeiten. Frühwarnsysteme konzentrieren sich zudem auf das frühzeitige Erkennen von Gefahren, Bedrohungen und Krisen sowie die Warnung davor. Im politischen Kontext sollen Frühwarnsysteme die Akteure dabei unterstützen, auf Grundlage bestmöglicher Daten und Einschätzungen zu entscheiden, welche unter den bekannten oder vermuteten Gefahren, Bedrohungen und Krisen diejenigen sind, denen die (politische) Aufmerksamkeit prioritär gelten sollte.
Im Zusammenhang mit politischen Frühwarnsystemen werden verschiedene Ansätze zur Vorbeugung genutzt, darunter Prävention, Preparedness und Resilienz. Prävention zielt darauf ab, Krisen zu verhindern, während Preparedness darauf ausgerichtet ist, auf eine mögliche Krise vorbereitet zu sein und darauf zu reagieren. Resilienz konzentriert sich hingegen darauf, sich nach einer Krise schnell zu erholen und idealerweise gestärkt daraus hervorzugehen. Der Resilienzansatz geht insofern davon aus, dass negative Schocks weiterhin auftreten werden und dass es daher umso wichtiger ist, die Handlungsfähigkeit eines Systems auch in Krisen aufrechtzuerhalten und eine Anpassung unter sich verändernden Umfeldbedingungen zu erzielen.
Im Jahr 2022 hat die Bundesregierung ihre Resilienzstrategie vorgestellt, die alle denkbaren Gefahren im Rahmen von Katastrophen in den Blick nimmt und über die Zuständigkeiten von Fachbereichen und administrativen Grenzen hinweg ein integriertes Risikomanagement fördern möchte (BMI 2022). Auch die EU hat begonnen, Krisenereignisse systematisch zu bewerten. In den „Strategic Foresight Reports“ der EU-Kommission von 2020 und 2021 (Europäische Kommission 2020 und 2021) wird die Verbesserung der Vorausschau, Früherkennung und Frühwarnung vor Krisen betont, um die Widerstandsfähigkeit Europas in Zeiten grundlegenden und raschen Wandels zu stärken.
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Fragen, welche Erfahrungen während der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang mit Frühwarnsystemen gemacht wurden und wie die Frühwarnung in Bezug auf den vorbeugenden Ansatz der Resilienz verbessert und im politischen Raum verankert werden kann. Hintergrund ist das Projekt „Krisenradar – Resilienz von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft durch Krisenvorhersage stärken“ (2021–2023) des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB).
Die COVID-19-Pandemie hat verdeutlicht, dass Pandemien auch in Deutschland bis heute ein ernstes Problem darstellen, was die Überwachung neuartiger Ausbrüche von Krankheitserregern und Krankheiten notwendig macht. Für die Überwachung werden Frühwarnsysteme eingesetzt, die grundsätzlich in aktive bzw. ereignisbasierte Systeme und passive bzw. indikatorenbasierte Systeme unterschieden werden. Während ereignisbasierte Frühwarnsysteme versuchen, aus unstrukturierten Daten Ereignisse zu identifizieren, die ein akutes Risiko für Individuen oder Gesellschaften darstellen können, orientieren sich indikatorenbasierte Frühwarnsysteme an zuvor definierten operativen Kennzahlen, die auf strukturierten Daten basieren. Im Bereich gesundheitsspezifischer Frühwarnsysteme finden sich Beispiele für die Anwendung beider Ansätze (WHO 2014). In Deutschland werden in pandemischen Lagen überwiegend passive Systeme zur Frühwarnung genutzt. Das nachfolgende Kapitel vermittelt einen Überblick über die Nutzung von gesundheitsbezogenen Frühwarnsystemen in Deutschland während der COVID-19-Pandemie.
In Deutschland wurde das derzeitige Meldesystem für Infektionskrankheiten mit der Einführung des Infektionsschutzgesetzes (Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen – IfSG) im Jahr 2001 implementiert. Der Vollzug des IfSG erfolgt grundsätzlich durch die Länder und dort durch die unteren Gesundheitsbehörden. Das Meldesystem ist föderalistisch und dezentral organisiert, es zählt in die Kategorie indikatorengestützter und damit passiver Frühwarnsysteme.
Die Meldekette beginnt bei den Krankenhäusern, Laboren und Arztpraxen mit einer Meldung an die jeweils lokal zuständigen Gesundheitsämter, sobald eine meldepflichtige Krankheit diagnostiziert wird oder ein begründeter Verdachtsfall vorliegt. Die Gesundheitsämter geben die Meldung weiter an die auf Landesebene zuständige Gesundheitsbehörde, welche die Meldung in anonymisierter Form ihrerseits weitergibt an das auf Bundesebene zuständige Robert Koch-Institut (RKI 2022a). Das RKI stellt als zentrale Instanz Übersichten auf der Grundlage der anonymisierten Datenbasis zusammen. Dabei besteht keine zentrale Datenhaltung und es erfolgt kein Abgleich mit Melderegistern (Leitritz 2022). Zur Übermittlung an die jeweils nächsthöhere Ebene sind laut Gesetz jeweils maximal 24 Stunden Zeit, allerdings muss die Möglichkeit des Informationsaustauschs zwischen Landesbehörden, RKI und BMG rund um die Uhr gewährleistet sein. Je nach Ergebnis der Analysen des RKI wird die Meldung dann weitergeleitet an das „Early Warning and Response System (EWR)“ der Europäischen Union sowie an das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern (GMLZ) und von dort aus weiter an die WHO. Dadurch erfolgt laut Gesetz der Übergang von der Früherkennung zur Frühwarnung. Während die Früherkennung die Meldung und Weitergabe von Krankheitserregern an die Bundesbehörde RKI umfasst, beginnt die Frühwarnung erst dann, wenn das RKI nach Bewertung der Lage zu der Entscheidung kommt, weitere Behörden zu informieren, darunter das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), das GMLZ von Bund und Ländern sowie die Gesundheitsbehörden des betroffenen Bundeslandes.
Damit dieser gesetzlich geregelte Übergang von der Früherkennung zur Frühwarnung erfolgen kann, muss sich das RKI im Zuge der föderalistischen dezentralen Grundstruktur darauf verlassen, dass entsprechende Fälle von Krankheitserregern durch die meldepflichtigen Einrichtungen erfasst und gemeldet werden. Das RKI kann in den einzelnen Bundesländern nur tätig werden, wenn es von diesen um Hilfe gebeten wird. Erfolgt keine Meldung, so ist das RKI nicht in der Lage, sich vor Ort ein eigenständiges Bild zu machen (Leitritz 2022). Zwischen der Weitergabe der Meldung von einer zur nächsthöheren Ebene bestehen unter Umständen lange Wartezeiten, also von den meldepflichtigen Einrichtungen über lokale Gesundheitsämter, Landesämter bis hin zum RKI. Da dies jeweils bis zu 24 Std. dauern kann, können insgesamt bis zu 72 Std. vergehen, bis ein Verdachtsfall tatsächlich zum offiziellen Ernstfall wird und den Frühwarnprozess in Gang setzt. Dieser Umstand in Verbindung mit einer oft defizitären Personalausstattung der beteiligten Organisationen hat auch dazu geführt, dass manche Akteure der Meldekette als erstes aus den publizistischen Medien von dem neuartigen Coronavirus erfahren haben, und nicht von offizieller Stelle.
Während der Pandemie wurden im Meldesystem des IfSG verschiedene Maßstäbe für zu ergreifende Schutzmaßnahmen verwendet, die sich im Laufe der Zeit geändert haben. Anfangs diente die Sieben-Tage-Inzidenz als Leitindikator. Im August 2021 wurde dieser Indikator durch den neuen Leitindikator der jeweils in den letzten sieben Tagen hospitalisierten Fälle ersetzt, ergänzt durch den weiteren Leitindikator des COVID-Anteils an der Intensivkapazität. Dadurch wurde die Messung von Infektionen in der Bevölkerung auf die Messung der Belastung des Gesundheitssystems durch schwerwiegende Infektionsverläufe und stationäre Behandlungen verlagert. Die verwendeten Indikatoren beschränken sich insgesamt auf die Darstellung des aktuellen Zustands und weisen gewisse Messfehler und Zeitverzögerungen auf. Zum Beispiel wird die Dunkelziffer unerkannter Infektionen nicht berücksichtigt, die sich sowohl aus asymptomatischen Infektionen als auch aus der Tatsache ergibt, dass einige Menschen das Testen aus sozioökonomischen Gründen vermeiden (Wagner 2022).
Obwohl die Wissenschaft seit Jahren vor möglichen Pandemien warnt, hat COVID-19 die Melde- und Frühwarnsysteme sowie die Gesundheitssysteme unvorbereitet getroffen. Dabei wurden bereits bei der Influenza-Pandemie 2009 und der EHEC-Epidemie 2011 Schwachstellen im Meldesystem des IfSG identifiziert (Benzler et al. 2013): Diese reichten von uneinheitlicher bis lückenhafter Meldepraxis bis hin zu Medienbrüchen im Meldeprozess sowie fehlenden Möglichkeiten für eine schnelle, unstrukturierte Ereignismeldung unterhalb der Meldeschwelle. Zur Verbesserung wurden digitale Verfahren entwickelt, darunter das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS). Die Entwicklung von DEMIS verlief jedoch schleppend, und erst während der COVID-19-Pandemie wurde es regulär bundesweit eingeführt. Seit Januar 2023 sind alle Melde- und Benachrichtigungspflichtigen verpflichtet, DEMIS für alle Meldetatbestände zu nutzen. DEMIS ist nun ein zentrales Element im Rahmen des indikatorenbasierten epidemiologischen Frühwarnsystems in Deutschland und wird auch über die Pandemie hinaus eine wichtige Rolle spielen. Die Erfahrungen zeigen dennoch, dass die Umsetzung der Verpflichtung zur elektronischen Meldung in den Einrichtungen immer noch unzureichend ist (Krause 2022).
Ein weiteres digitales Frühwarninstrument zur Früherkennung von Engpässen bei der intensivmedizinischen Versorgung wurde während der COVID-19-Pandemie im April 2020 eingeführt: das DIVI-Intensivregister, entwickelt durch das RKI und die Deutsche Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Die Intensivstationen in den Krankenhäusern müssen ihre Kapazitätsauslastung täglich über das System melden, um Hinweise auf die aktuelle Lage und mögliche Engpässe zu geben. Das Register dient insbesondere in Zeiten hoher Inzidenzen und vieler schwerer Krankheitsverläufe als Hilfsmittel, um schwerstkranke Patient*innen und die Belastung der intensivmedizinischen Ressourcen zu analysieren sowie einen umfassenden Überblick darzustellen. Allerdings erfordert die Pflege des Intensivregisters noch viele manuelle Eingaben, da eine automatisierte Ausleitung aus den Krankenhausinformationssystemen (KIS) oder Patientendatenmanagementsystemen (PDMS) nicht möglich ist. Auch gibt es bisher keine gesetzliche Verpflichtung dazu. Ein On-Demand-Register, das für die individuelle fallbezogene Disposition und Suche von Intensivbetten zu allen Tageszeitpunkten geeignet ist, fehlt bislang (Dodt und Hinzmann 2022).
Im Sinne einer möglichst frühen Erkennung und Eindämmung der COVID-19-Ausbreitung förderte das BMG pilothaft von Juli 2020 bis Dezember 2022 zudem den Einsatz der Software SORMAS (Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System). Diese ursprünglich anlässlich der Ebola-Epidemie in Westafrika entwickelte Software wurde bei einem großen Teil der öffentlichen Gesundheitsämter in Deutschland installiert, um über eine Anbindung an das Meldesystem Corona-Infektionsketten über kommunale Grenzen hinweg verfolgen zu können. Dies erfolgte unter den Vorgaben, Einzelinstanzen für jedes Gesundheitsamt separat zu betreiben, die Übermittlung nur über Schnittstellen zu bereits vorhanden IfSG-Fachanwendungen zu vollziehen und die Dienste ausschließlich für COVID-19 zu öffnen (Krause 2022). Da die Kontaktpersonennachverfolgung bei SARS-CoV-2-Infektionen seit Mai 2022 außer Kraft gesetzt wurde, besteht aktuell keine Verpflichtung für die Gesundheitsämter mehr (RKI 2022a). Die Erfahrungen mit der Einführung von SORMAS haben gezeigt, dass die Gesundheitsämter aufgrund der Heterogenität ihrer Systemlandschaften und den damit verbundenen unterschiedlichen Prozessen mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Einführung konfrontiert waren (Deutscher Bundestag 2021). Dies begründet sich auch in Defiziten bezüglich homogener und wiederverwendbarer Softwaremodule sowie einer fehlenden Standardisierung und Modularisierung der grundlegenden Prozesse in den Gesundheitsämtern.
Neben dem DEMIS und dem DIVI-Intensivregister als flächendeckende Frühwarnsysteme existieren in Deutschland noch andere Systeme, die auf einer freiwilligen Teilnahme beruhen. Dazu zählen etwa das vom RKI betriebene „Grippeweb“, bei dem Bürger*innen wöchentlich selbst angeben können, wenn sie Symptome verspüren, sowie Sentinelstudien, bei denen Arztpraxen und Krankenhäuser freiwillig und ergänzend zum Meldesystem regelmäßig Daten zu Symptomen bei Patient*innen eingeben können (RKI 2022b). Weitere Systeme sind ICOSARI, an dem sich 73 deutsche Krankenhäuser beteiligen und wo akute Atemwegserkrankungen gemeldet werden können (Buda et al. 2017), sowie das Notaufnahmeregister „Aktionsbündnis für Informations- und Kommunikationstechnologie in Intensiv- und Notfallmedizin“ (AKTIN 2022), an dem sich 22 Notaufnahmen in Krankenhäusern beteiligen und die Teilnahme von 27 weiteren Notaufnahmen geplant ist (Stand April 2022) (AKTIN 2022).
Trotz der weit verbreiteten Selbsteinschätzung vor der Pandemie, dass Deutschland gut organisiert und für unerwartete Herausforderungen gerüstet ist, hat das Frühwarn- und Meldesystem schlechter abgeschnitten als erwartet. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die Erfahrungen der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang mit Frühwarnsystemen vor allem Probleme im Bereich der Datenqualität, zeitnahen Datenverfügbarkeit und -nutzung, der Implementierung entwickelter digitaler Lösungen, aber auch einer insgesamt defizitären Modellierung liegen. Hierdurch wird eine datenbasierte politische Entscheidungsvorbereitung beeinträchtigt.
Die im Rahmen des Meldesystems verwendeten deskriptiven Indikatoren waren mit Messfehlern und Zeitverzügen behaftet, da die gemeldeten Infektionszahlen nicht mit der tatsächlichen Anzahl von Infektionen gleichgesetzt werden konnten. Die schwankende Testintensität hat die Inzidenzwerte maßgeblich geprägt, während die Dunkelziffer in den Zahlen nicht berücksichtigt wurde. Ein statistisches Instrumentarium auf nationaler Ebene könnte helfen, diese Mängel zu beheben. Denkbar wäre eine nationale Teststrategie wie in England, wo vom nationalen Statistikamt (Office for National Statistics – ONS) gezielt repräsentative Stichproben aus der Bevölkerung gezogen und getestet werden (Rendtel et al. 2021). Zudem könnte die Erweiterung der Frühwarnung auf abwasserbasierte Systeme helfen, um sowohl bekannte als auch neue Virusvarianten unabhängig von der Durchführung von Humantests frühzeitig zu identifizieren. Die EU-Kommission hat den Mitgliedsstaaten bereits 2021 empfohlen, ein Monitoring von SARS-CoV-2 im Abwasser zu etablieren, um die Verbreitung von Coronaviren frühzeitiger zu erkennen. Bislang sind Abwasserüberwachungssysteme in der Pandemiefrühwarnung in Deutschland nicht etabliert, werden aber gemäß der Empfehlung erprobt. Bei der Bewertung des Frühwarnsystems in Deutschland muss zudem berücksichtigt werden, dass die, während der COVID-19-Pandemie im Meldesystem verankerten Indikatoren keine ziel- und maßnahmenorientierten Indikatoren berücksichtigt haben. Indikatoren zur Beschreibung von Aktivitäten und Instrumenten, die benötigt werden, um politisch gewünschte Ziele zu erreichen, wurden während der Pandemie damit nicht gemessen (Wagner 2022).
Angesichts enormer und heterogener Datenmengen sind traditionelle statistische Methoden und Indikatorensysteme zur Frühwarnung in Zeiten einer Pandemie nicht ausreichend, um sowohl wiederkehrende als auch unerwartete Strukturen zu erkennen. Zur Einschätzung des Infektionsgeschehens sowie der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sind prognostische Modellierungen sinnvoll. Beispielsweise könnten dynamische Schätzungen von intensivmedizinisch zu betreuenden Patient*innen helfen, etwaige Kapazitätsengpässe frühzeitig zu erkennen und entsprechende datenbasierte Änderungen in der Versorgungssteuerung zu berücksichtigen. Trotzdem werden präventiv bzw. auf die Vorausschau ausgerichtete Systeme und Strategien (Predictive Analytics) bislang nur begrenzt umgesetzt. Im Meldesystem für Infektionskrankheiten sind prognostische Abschätzungen bislang nicht verankert. Die im Rahmen des Meldesystems verwendeten Indikatoren waren für die politische Steuerung damit insgesamt nur bedingt geeignet, hier ist Optimierungsbedarf angezeigt.
Um eine effektive politische Frühwarnung in Deutschland zu gewährleisten, sollten auch internationale, nichtstaatliche und ereignisbasierte Frühwarnsysteme wie das auf Big-Data-Analysen basierende „Program for Monitoring Emerging Diseases-mail“ (ProMED-mail) oder „BioCaster“, „HealthMap“ und „Medical Information System“ (MedISys) verstärkt in die staatliche Frühwarnung integriert werden. Diese Systeme nutzen primär frei zugängliche Nachrichtenartikel und Berichte als Informationsquellen und suchen aktiv nach Hinweisen. Obwohl sie bereits vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (European Centre for Disease Prevention and Control – ECDC) und der WHO verwendet werden, könnten sie stärker in die staatliche Frühwarnung einbezogen werden.
Trotz einiger Fortschritte bei der Frühwarnung lässt sich bislang wenig systematischer Zusammenhang zwischen Frühwarnung und konkreten politischen Krisenreaktionsansätzen erkennen. Deshalb ist die zentrale Frage nicht, ob Frühwarnung generell möglich ist, sondern wie eine verantwortliche Vorbeugung gestaltet werden muss, die sich auch systematisch mit den strukturellen Ursachen von Krisen auseinandersetzt.
COVID-19 ist nicht die erste Pandemie, die durch eine Zoonose ausgelöst wurde und damit einer Infektionskrankheit, die auf natürlichem Wege wechselseitig zwischen Menschen und Tieren übertragen wird. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Krankheitswellen, die eng mit Erregern aus dem Tierreich verbunden sind. Beispiele hierfür sind die Lungenkrankheit SARS (2002/2003), die Schweinegrippe H1N1 (2009), die Lungenkrankheit MERS (2012) und das Ebolafieber (2014). Auch zukünftig werden Zoonosen durch präventive Frühwarnsysteme nicht ausgeschlossen werden können. Laut dem 2020 veröffentlichten Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES sind etwa 1,7 Millionen Viren in Säugetieren und Wasservögeln vorhanden, von denen 631.000 bis 827.000 Menschen infizieren könnten. Der Bericht zeigt, dass weniger als 0,1 Prozent des potenziellen zoonotischen viralen Risikos bislang entdeckt wurden (IPBES 2020). Der wissenschaftliche Diskurs verweist insgesamt sehr deutlich darauf, dass das Risiko für Pandemien, vor allem durch vom Menschen verursachte Einflüsse, weiterhin stark zunimmt. Ursachen dafür sind die weltweite Vernetzung, globale Mobilität, Bevölkerungswachstum und eine weltweit oft chaotisch verlaufende Verstädterung. Hinzu kommt, dass exotische Tiere, gemeinsam mit ihren Erregern, zunehmend in globalem Maßstab als Nahrung, Heilmittel oder Haustiere dienen und global transportiert werden (Tappe et al. 2019). Aber auch die exzessive Tiernutzung und der voranschreitende Klimawandel gelten als wichtige Quellen für das Einwandern neuartiger Erreger.
Das Ziel im Umgang mit möglichen zukünftigen pandemischen Lagen besteht darin, das Risiko von Zoonosen zu minimieren und durch präventive Ansätze einen verbesserten Umgang mit Frühwarnung zu erreichen. Die multidisziplinären Konzepte One Health und Planetary Health bieten mögliche Zielsetzungen für die weitere gesellschaftliche Entwicklung, indem sie die Gesundheit des Menschen in einen größeren Zusammenhang stellen. Im Mittelpunkt von One Health steht die Erkenntnis, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander verbunden ist und ein Verlust der Biodiversität beispielsweise das Entstehen von Pandemien fördert (BMZ 2022). Planetary Health betrachtet die Gesundheit zudem über nationalstaatliche Grenzen hinweg im Zusammenhang mit ökologischen, sozialen und politischen Systemen und rückt dabei die veränderten globalen Verhältnisse für Prävention, Krankheit, Therapie und Epidemiologie in den Blick (Müller et al. 2018). Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie hat die Bundesregierung ihren Fokus auf die Pandemievorsorge und globale Gesundheit erweitert und im Juli 2022 die Deutsche Strategie zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen beschlossen. Diese Strategie verfolgt den ganzheitlichen One-Health-Ansatz, der die Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt sowie die stabile Versorgung im WASH-Sektor (Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene) berücksichtigt (BMI 2022). Die Erarbeitung von verbesserten Wissensbeständen ist dabei von zentraler Bedeutung, um die Zusammenhänge als Grundlage für die Gestaltung von Gesundheit in all ihren Bezügen und Implikationen vorausschauend zu verstehen.
Für die zukünftige Politikgestaltung sind entsprechend ressort- und politikfeldübergreifende Ansätze erforderlich, die die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikbereichen und Sektoren in den Mittelpunkt stellen. Auf internationaler Ebene wird bereits länger eine Gesundheitspolitik gefordert, die Gesundheit in Verknüpfung mit anderen Politikbereichen sieht (Health in All Policies, HiAP). In Deutschland steht das Konzept „Gesundheit in allen Politikfeldern“ erst am Anfang und wird insbesondere auf kommunaler Ebene und mit den Möglichkeiten des Präventionsgesetzes verfolgt (Köckler und Gene 2022). Es ist notwendig, zukünftig übergreifende Strukturen für die Umsetzung vorsorgender Politiken zu entwickeln und durchzusetzen. Dazu zählen unter anderem interministerielle Gremien, intersektorale Arbeitsgruppen, gemeinsame Budgets sowie sektorübergreifende Informations- und Frühwarnsysteme.
Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass wissenschaftliche Beratung und Evidenz eine entscheidende Rolle bei der Frühwarnung und Bewältigung von Krisen spielen. Entsprechend gilt es, eine integrierte interdisziplinäre Expertise für die Implementierung übergreifender Systeme zu schaffen und kritische Kontrollpunkte der Frühwarnung zu identifizieren und diese mit der politisch-administrativen Entscheidungspraxis zu verzahnen. Darüber hinaus haben die Erfahrungen der Pandemie gezeigt, dass es an digitalen und integrierten Verfahren mangelt, die ein nutzbringendes Lagebild nicht nur für die Situation in den einzelnen Bereichen der Gesellschaft, sondern auch die vermutliche Entwicklung aufgrund von fundierten prognostischen Abschätzungen zeigen. Handlungsbedarf besteht auch bei der Gestaltung agiler und flexibler Krisenvorhersageprozesse durch die Politik, die dann von nachgeordneten Behörden umgesetzt werden könnte, wenn entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen.
Um die im Zuge der COVID-19-Pandmie gewonnenen Erfahrungen mit der Frühwarnung zu nutzen und die Krisenvorhersage zu verbessern, sind vorbeugende und weitgehend genaue Resilienzanalysen notwendig, die nicht nur Einzelereignisse betrachten, sondern auch die Interaktionen zwischen verschiedenen Faktoren. Außerdem sollte analysiert werden, wie diese Faktoren das gesellschaftliche System beeinflussen können. Resilienzanalysen identifizieren potenzielle Gefahren und bewerten die Exposition und Sensitivität des Systems gegenüber möglichen Bedrohungen. Darüber hinaus bewerten sie die Anpassungs- und Lernfähigkeit des Systems und helfen dabei, mögliche Schwachstellen zu identifizieren und zu beheben, um eine verbesserte Widerstandsfähigkeit gegenüber zukünftigen Bedrohungen zu gewährleisten. Resilienzanalysen sind daher ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der Krisenvorhersage und -bewältigung im Sinne der Frühwarnung, sowohl bei pandemischen als auch bei anderen systemischen Risiken.
Ein neuer Resilienzrat, wie er von acatech (Kagermann et al. 2021), der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften vorgeschlagen wird, könnte dabei helfen, die Krisenvorhersage an zentraler politischer Stelle zu verankern und interdisziplinäre Fachkompetenz zu bündeln. Im Ernstfall sollte er in der Lage sein, schnelle und effektive Empfehlungen auszusprechen und somit die Lücke zwischen „Early Warning“ und „Early Action“ im politischen System bzw. in politischen Entscheidungsprozessen besser zu schließen.
Funding • This work received no external funding.
Competing interests • The authors declare no competing interests.
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