Book review: Davodeau, Étienne (2023): Das Recht der Erde

Ulrich Smeddinck*, 1

* Corresponding author: ulrich.smeddinck@kit.edu

1 Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, DE

© 2023 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 32/2 (2023)32/2, S. 62–63, https://doi.org/10.14512/tatup.32.2.62

Published online: 06. 07. 2023

Davodeau, Étienne (2023):
Das Recht der Erde. Eine Erzählung über den Boden, der uns trägt
Hamburg: Carlsen.
216 Seiten, 27,00 €,
ISBN 9783551771308

Warum eine Graphic Novel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift rezensieren? Étienne Davodeaus aus dem Französischen übersetztes Werk „Das Recht der Erde. Eine Erzählung über den Boden, der uns trägt“ nimmt direkten Bezug auf Forschungsanliegen der Technikfolgenabschätzung, denn es thematisiert das Verhältnis zwischen dem Boden als sprichwörtlicher Basis alles menschlichen Lebens sowie den technologischen Einwirkungen auf diesen. Hier aber nicht hinsichtlich der industriellen Landwirtschaft, siehe die Rezension von Stefan Albrecht (2020) in dieser Zeitschrift, sondern hinsichtlich der Folgen der Atommüll-Endlagerung. Die sehr langfristige Kontamination des Erdbodens (wie auch anderer Räume – Arktis, Meeresgrund, Atmosphäre, Weltall) rückt immer stärker ins wirtschaftliche, öffentliche und wissenschaftliche Interesse. Die fatalen und untrennbaren Zusammenhänge zwischen Boden, atmosphärischem Luftraum und technologischer Zivilisation zeigen sich nicht zuletzt dadurch, dass der Klimawandel ja auch schon in Frankreich Flüssen und Seen das Wasser entzieht – 2022 war das trockenste Jahr in Europa –, und damit auch das Kühlwasser für französische Reaktoren zu einem raren Gut macht.

Die Rechte der Natur und ihre mögliche Ausweitung werden gegenwärtig in verschiedenen transdisziplinären Formaten neu diskutiert. Bilder erreichen viel unmittelbarer das Bewusstsein als Buchstaben, Worte und Argumente. Ganz generell reiht sich auch eine Graphic Novel in neue Formate der visualisierten Wissenschafts- und Wissensvermittlung ein. Zugleich gibt es nicht erst seit ChatGPT eine Krise des authentischen Bildes bzw. wächst das Bewusstsein seiner Manipulierbarkeit. Bilder einer Graphic Novel verweigern sich aber der Authentizität und Objektivität, transportieren stattdessen bewusst den Bias ihres Autors und Zeichners. Gleichzeitig betonen aktuelle Debatten der Technikfolgenabschätzung, dass auch kulturelle Produkte, künstlerische Artefakte und Verhaltensweisen zum Gegenstand von Untersuchungen und Ausgangspunkt von Analysen gemacht werden sollten. Warum, nun als rhetorische Frage formuliert, also nicht die wissenschaftliche Rezension einer Graphic Novel?

Eine Wanderung von der Höhlenmalerei zum Atommüll

In der Kombination aus Bild- und Textgestaltung entfalten sich Motiv und Narrativ der Graphic Novel. Die Leser:innen werden von Davodeau auf eine Wanderung durch Zeit und Raum mitgenommen: ausgehend von einigen der frühesten Zeugnisse visueller Abstraktion der Umwelt – den Höhlenmalereien in Pech Merle im Südwesten Frankreichs – nach Bure im Nordosten, wo an der langfristigen Unterbringung des Atommülls gearbeitet wird. Auf der Wanderung öffnen sich die Augen für die Bedeutung des Bodens für alle Spezien und für seine Bedrohung durch Homo Sapiens, Technologien und Kapitalismus!

Das Auftaktbild ist tatsächlich der Umriss einer Fläche auf weißem Hintergrund, die „seit einigen Jahrhunderten und für unbestimmte Zeit Frankreich ist“ (S. 7). In diese Karte sind ein Mammut und ein Radioaktivitätszeichen für die beiden zentralen Orte des Narrativs eingezeichnet. Die ersten Bilder zoomen aus dem Weltall auf die Erde, in die Landschaft und dann in die Höhle von Pech Merle mit zahlreichen archaischen Tierzeichnungen.

Bis ans Ende der Erzählung steht das Motiv der Wanderung im Zentrum. Eine Rhythmisierung entsteht, gleich dem wandernden Schrittmaß, inhaltlich durch Begegnungen und Gespräche auf der Reise, räumlich durch die wechselnde Darstellung von Landschaften und Stadträumen sowie insbesondere durch das wechselhaft dargestellte Wetter. Die Inhalte korrespondieren mit unterschiedlichen Bildgrößen und -zuschnitten, Bilder ohne Text, Bilder ohne Rand, innere Monologe, Einsamkeitsbilder des Wanderers, Gesprächsabfolgen. Das alles in Schwarz-Weiß. Mal karg, mal detailreich.

Doch der Reihe nach: Das wandernde Alter Ego des Autors sucht nach Erklärungen für die Höhlenbilder, begegnet zunächst nur ebenso Unwissenden, doch dann thematisiert ein Experte am Wegesrand (von nun an treffen wir viele Expert:innen an) deren tatsächliche Unerklärbarkeit: Das Mammut und andere Tierzeichnungen können zwar heute als „Tür zur Spiritualität“ und „Leib der Welt“ (S. 26) interpretiert werden, müssen aber aufgrund der vielfachen semiotischen Traditionsbrüche seit dem Jungpaläolithikum (vor ca. 45.000 Jahren) ein unerklärliches Rätsel bleiben: „[W]ir werden sicher nie erfahren, warum genau die Bilder gezeichnet wurden“ (S. 27). Und dies ist auch als ein Menetekel für die bisher ungelöste, in diesem Werk thematisierte Aufgabe zu verstehen, wie künftige Warnungen vor Atommülllagern für unsere Nachkommen in vielen Jahrtausenden noch verständlich sein sollen.

In der Folge treffen die mitwandernden Leser:innen einen Agrarwissenschaftler, der zur Beziehung zwischen Boden und Menschheit Rede und Antwort steht. Die Quintessenz lautet hier: „Kein Boden, kein Sapiens“ (S. 41), dargeboten in einem ikonografischen Bild, das an die Interview-Wanderung von Rudolf Augstein mit Heidegger erinnert. Die Pinkelpause des Wanderers, ja, auch dies gehört zu einer Wanderung, wird ganz in diesem Sinne als ein stickstoffzuführender Verbindungsakt gewürdigt.

Vom Saulus zu Paulus gewandelt ist der nächste Gesprächspartner: ein achtzigjähriger Veteran der Kernenergie, der heute als kritischer und unabhängiger Experte arbeitet. In Erinnerung an seine Zeit als Verfechter der Énergie Nucléaire im Frankreich der 1960er-Jahre erzählt er: „Wir sprachen nicht über Unfallrisiken und Atommüll“ (S. 95), wurde dann aber im Mai 1968 politisiert. Die Linke war damals nahezu geschlossen gegen Atomkraft eingestellt, dennoch wurde der Energieträger nach dem Wahlsieg Mitterands 1981 durch Lobbyeinflüsse noch forciert. Sein Resümee: „Wir sehen jetzt, dass diese wunderbare Stromproduktion, die aus großen wissenschaftlichen Entdeckungen hervorgegangen ist, gar nicht so wunderbar ist“ (S. 100). Eine weitere Begegnung auf dem Weg: Ein pensionierter Anstreicher und ehemaliges Gemeinderatsmitglied ermutigt zu Selbstermächtigung und Widerstand gegen das Atommülllager: „Manchmal kann man kaum glauben, dass man in einer Demokratie lebt“ (S. 117).

Direkt ins Herz der finsteren Themenstellung der Graphic Novel führt dann die Unterhaltung mit der Semiologin Valérie Brunetière, Expertin für verbale und nonverbale Redeanalysen im Zusammenhang mit Problemen wie dem Klimawandel und der Energiepolitik. Wir erinnern uns an das Menetekel der heute unverständlichen Höhlenmalereien von Peche Merle: Welche Zeichen, welche Form, welche Datenträger könnten bis in die ferne Zukunft vor dem Atommülllager in Bure warnen? „Verkehrszeichen […], das brauchen wir in Bure“ (S. 135). „In 100.000 Jahren gelten [aber] andere Verkehrsregeln.“ (S. 137) Schon über den Abstand von 500 Jahren, sagt Brunetière, würden zwei Menschen sich nicht mehr verstehen. Und die Langzeit-Datenträger? Formpapier mit geschmeidigstem und haltbarstem Substrat sei die sicherste Form, um Wissen über Jahrhunderte zu tradieren (S. 156). Digitaltechnik dagegen „heißt, eine Zivilisation ohne Gedächtnis zu schaffen“ (S. 157), weiß die Leiterin für angewandte Forschung der Abteilung für grafische Kunst am Louvre, Ariane de la Chapelle.

Für einen Abriss des politischen Umgangs mit der Atommüllproblematik in Frankreich referiert der Wanderer zunächst seine eigenen Erinnerungen (S. 167), ehe er mit einem letzten Zeitzeugen spricht: Joël Domenjoud, ein erfahrener Ökoaktivist, erst im Widerstand gegen ein Flughafenprojekt, dann auch in Bure gegen das Atommülllager. Er berichtet von dem in Deutschland kaum wahrgenommenen heftigen Widerstand, aber auch von dessen massiver staatlicher Repression – gerade auch in neuerer Zeit.

Die Ankunft in Bure gerät dann unspektakulär. Ein kurzer Besuch im Haus des Widerstands. Das Ortsbild bleibt mehr oder minder nichtssagend, aber auch dieser unscheinbare Ort sowie der teilweise für den Bau des Lagers gerodete Wald und seine „bescheidenen Bäume sind unser Gemeingut“ (S. 207). Den Anlagen des Atommüllprojekts darf der Wanderer sich nicht nähern, stattdessen wird er von Sicherheitskräften argwöhnisch beäugt und kontrolliert. Das Mammut aus Peche Merle steht plötzlich imaginär am Wegesrand als Reminiszenz an den Ausgangpunkt der Reise. Dann endet die Graphic Novel wie sie begann: mit einem distanzierten Blick auf die Erde aus dem Luft- und Weltraum.

Machart und Haltung

Falsch wäre der Eindruck, dass hier wie in einer der Jahreszeiten-Komödien Éric Rohmers permanent geredet wird. Im Gegenteil: In langen Passagen ist der Wanderer mit sich und der Natur allein, wird das Naturschöne reflektiert und der Naturgenuss geradezu romantisch gefeiert – bis zum nächsten Regenschauer! „Schreiben, zeichnen, laufen“ – so definiert der Autor den Kern seiner Tätigkeit: „Ich will verstehen, was die Orte miteinander verbindet.“ (S. 11) Für die transdisziplinäre Darstellung wissenschaftlicher und wissenschaftsnaher Inhalte bietet sich Davodeaus Werk als Identifikationsobjekt an: textlich im Stile aktueller Dokus in TV und Internet; bildlich auf den Spuren von Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer. Die Erkenntnisreise als neo-romantischer Selbsterfahrungstrip!

Was fehlt ist wissenschaftlicher Zugang zu Ambivalenzen und Paradoxien: Die Gegenseite kommt nicht zu Wort, kein Raum, keine Sprache für die Befürworter der Kernkraft. Unter dem Eindruck der repressiven französischen Verhältnisse lässt sich wenig gegen diese einseitige Darstellung einwenden. Es ist das Recht des Autors seine Sichtweise, seine Meinung bildgewaltig und mit verbaler Vehemenz zu vertreten. Freilich es bleibt eine anthropozentrische Weltsicht! Aber mit dieser verführt der Wanderer die im Geiste Mitwandernden zur Auseinandersetzung, zur Beschäftigung mit dem Boden. Das ist schwierig genug, aber es gelingt: Ein Endlager ist die ultimative subkutane Verletzung des Bodens!

Literatur

Albrecht, Stephan (2020): Nicht alles Wissen ist mächtig, nicht selten sogar das wichtigste. Lässt sich das ändern? In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 29 (2), S. 70–72. https://doi.org/10.14512/tatup.29.2.70