Book review: Reheis, Fritz (2022): Erhalten und Erneuern. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht

Sabine Hofmeister*, 1 https://www.orcid.org/0000-0003-0633-9331

* Corresponding author: sabine.hofmeister@leuphana.de

1 Institut für Nachhaltigkeitssteuerung, Leuphana Universität, Lüneburg, DE

© 2023 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 32/2 (2023)32/2, S. 64–65, https://doi.org/10.14512/tatup.32.2.64

Published online: 06. 07. 2023

Reheis, Fritz (2022):
Erhalten und Erneuern. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht
Hamburg: VSA
144 Seiten
12,80 €
ISBN 9783964881632

Zu Beginn seines Buches entwickelt Fritz Reheis, was er seine „Zeit-Brille“ nennt. Mit dieser richtet er den Blick auf den Umgang mit der Natur (Umwelt), den Mitmenschen (Mitwelt) und mit sich selbst (Innenwelt). Diesen Dreiklang der Blickrichtungen bettet er von zwei Seiten ein: normativ mit der Verpflichtung auf das Leitziel Nachhaltigkeit und perspektivisch im Schlusskapitel. Im Aufbau des Buches spiegelt sich die Doppelstruktur der Zeit/en gleichsam wider: Indem der Autor von der äußeren ‚Natur‘ (Zeiten der Stoffe/Energie) zur ‚inneren Natur‘ der Menschen (Zeiten des Körpers, der Seele und des Geistes) die Frage stellt, was es bedeutet, Leben und Wirtschaften mit dem Ziel der Nachhaltigkeit ‚klug‘ zu gestalten, entfaltet er einen in sich schlüssigen, zugleich linearen und ‚runden‘ Argumentationsgang.

Reheis eröffnet die Einleitung mit einer nachvollziehbaren Kritik an aktuellen Nachhaltigkeitspolitiken und -diskursen. Im Bild des „Verschiebebahnhofs“ (S. 11 ff.) weist er darauf hin, dass der (schon im Brundlandt-Bericht 1987 postulierte) Integrationsanspruch nachhaltiger Entwicklung bis heute nicht eingelöst sei. Einen Ausweg sieht der Autor darin, die Dimension Zeit konsequent zu berücksichtigen und sie in ihrer zyklischen und zugleich linearen Beschaffenheit zu verstehen. Aus der Gleichzeitigkeit beider Zeitformen leite sich ab, dass jede Veränderung eine „Wiederkehr des Ähnlichen“ zur Folge hat (S. 18), was – anders als der Begriff Kreislauf suggeriert – Irreversibilität auf der Grundlage resilienter und in diesem Sinne stabiler Prozesse bedeutet. Würden also transformative Prozesse durch die „Zeit-Brille“ gesehen, so ließe sich eine Lebens- und Wirtschaftsweise erkennen, die ihre sozial-ökologischen Grundlagen durch Erneuerung zu erhalten versteht. Die hiermit verbundene Gestaltungsaufgabe sucht Reheis mittels eines „regenerativen“ Umgangs mit Natur (Kapitel 1), eines „reziproken“ Umgangs mit den Mitmenschen (Kapitel 2) und durch den „reflexiven“ Umgang mit Sich-Selbst (Kapitel 3) zu bestimmen.

In Kapitel 1 fragt er, was im gegenwärtigen Zeitalter des ‚Anthropozäns‘, in dem die „starre Gegenüberstellung“ zwischen Kultur und Natur (S. 23) kaum noch trägt, ‚Natur‘ ist. Jetzt käme es, so Reheis, darauf an, die gesellschaftlichen Naturverhältnisse so zu regulieren, dass die Regenerationspotenziale der ökologischen Natur nicht überdehnt oder gar ausgeschöpft werden. Mit Verweis auf die sogenannten Managementregeln der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ des 12. Deutschen Bundestages 1994 zeigt er, dass ein nachhaltiger Umgang mit Stoffen und Energie bedeutet, Material- und Energieumsätze in ein ausgeglichenes Verhältnis zu jenen der ökologischen Systeme zu bringen. Vorsorgendes Wirtschaften ist dann Erneuerung – es verbindet Herstellung mit Wiederherstellung, Produktion mit Reproduktion. Eine in diesem Sinne (re-)produktive Ökonomie aber ist keine „Kreislaufwirtschaft“ in der engen Bedeutung – keine, die Stoffe und Energie innerhalb der von Menschen gesteuerten Systeme unbegrenzt zu nutzen und wieder zu nutzen glaubt –, sondern eine, die ihre Stoffwirtschaft mit der ‚Natur‘ auszugestalten versteht. Das ist die mit der „Zeit-Brille“ gewonnene Erkenntnis: Eine materiell konsistente Ökonomie braucht eine zeitbewusste, auf die (Re)Produktion künftiger Produktionsvoraussetzungen gerichtete und in diesem Verständnis vorsorgende Wirtschaftsweise. Und „was heißt das praktisch?“, fragt Reheis, und er folgert: Erstens braucht es ein Bewusstsein über die (re)produktiven Leistungen der Natur, zweitens ein zeitbewusstes Verhalten der Produzent*innen und Konsument*innen und schließlich drittens eine ökologische Zeitpolitik.

Zu Beginn des zweiten Kapitels entwickelt Reheis mit Verweis auf Kants kategorischen Imperativ die Prämissen zwischenmenschlicher Beziehungen: Menschliches Verhalten verspreche dann Nachhaltigkeit, wenn es sich am Prinzip der Reziprozität orientiere. Damit wird ein Menschenbild entworfen, das – bewusst in Unterscheidung zu jenem des ‚homo oeconomicus‘ (S. 70 f.) – auf Gleichwertigkeit, Kooperationsfähigkeit und Solidarität beruht. Worauf diese optimistische Sicht basiert, erschließt sich entlang der folgenden historisch anthropologischen Ausführungen nicht von selbst. Reheis setzt normativ eine wünschenswerte Vision von einer Gesellschaft als „Solidargemeinschaft“ (S. 73) voraus – eine Gesellschaft, in der Menschen miteinander kooperieren, sich in fairem Austausch befinden und in einem quasi hierarchiefreien Raum ihre ‚guten Leben‘ miteinander teilen und genießen. Die „Zeit-Brille“ richtet sich hier auf die Frage nach einer vorurteilsfreien Kommunikation. Die unbequeme Frage, was das praktisch heißt, beantwortet Reheis so: Erstens brauche es das Bewusstsein, wechselseitig aufeinander angewiesen zu sein, zweitens substanzielle und mentale Reziprozität im alltäglichen Umgang und schließlich, drittens, eine „soziale Zeitpolitik“, die es den Menschen ermögliche, faire Beziehungen zueinander auf- und auszubauen, sie zu pflegen und zu leben – eine Politik, die prioritär auf „intragenerative Gerechtigkeit“ ziele.

Wer Nachhaltigkeitspolitiken als Zeitpolitiken zu verstehen und auszulegen sucht, findet im Buch analytisch kluge wie auch handlungsorientierte Überlegungen.

Indem er schließlich das Verhältnis „des Menschen“ zu sich selbst thematisiert, entwickelt Reheis im Kapitel 3 seine Überlegungen weiter. Nun geht es vorrangig um Identität und Integrität, um die „Natur des Menschen“ selbst (S. 99): um Fähigkeiten und Bedürfnisse, um Selbstachtung und -täuschung, die Befähigung zur Selbstkontrolle und -beschränkung sowie schließlich vor allem um die Befähigung, für ein ‚gutes Leben‘ zu sorgen. All die Bedürftigkeit, alle Fähigkeiten und Möglichkeiten beruhen, so die zentrale Botschaft, auf dem Wesensmerkmal „des Menschen“, sich selbst in der Welt zu verorten. Die mentale Kompetenz zur (Selbst-)Reflexion versetze Menschen in die Lage, sich auf die eigene ‚Natur‘, die Körperzeiten (S. 102 ff.) und die Zeiten der Seele (S. 105 ff.) zu besinnen sowie sich reflektierend auf die Zeiten des Geistes (S. 110 ff.) zu beziehen. Gestützt auf diese Annahmen über die Fähigkeiten von Menschen, z. B. zu freier Willensbildung (S. 114 f.) und Resonanz (S. 118 f.), fragt Reheis nach den Konsequenzen für die Praxis (S. 121 ff.): Erstens wird das Reflexionsvermögen als unmittelbare Voraussetzung für ein zeitbewusstes, vorausschauendes und vorsorgendes Handeln gesehen, zweitens ermöglicht es, mit der Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln konstruktiv umzugehen und Selbstwirksamkeit zu erfahren; und schließlich braucht es drittens eine Zeitpolitik, die „die Zyklen und Rhythmen von Körper, Seele und Geist“ vor (zer-)störenden Interventionen und somit die Menschenwürde schützt (S. 123).

Im Schlusskapitel rücken die strukturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen des gegenwärtig nicht nachhaltigen Umgangs mit Zeit und Zeiten in den Vordergrund. Der Autor knüpft hiermit an seine früheren Schriften an, indem er sich als versierter Kritiker temporärer Ungleichheitslagen und Hierarchien, Misswirtschaft und Zerrissenheit einer weder mit ‚Natur‘ noch mit sich selbst synchronen Gesellschaft und ihrer Ökonomie ausweist. Im Abschnitt „Lärm des Geldes versus Symphonie des Lebens“ (S. 127 ff.) spitzt er seine Kritik zu: Indem er die zeitliche Verfasstheit kapitalistischer Tauschwertlogik den Zeiten der Menschen und der Natur gegenüberstellt, zeigt er, dass und wie in einer Welt, in der „Geld als Kapital fungiert“ (S. 129), Marginalisierung, Ausbeutung und Zerstörung lebendiger Zeit/en systemisch geworden sind.

Ausgehend von dieser Erkenntnis liest sich das Buch noch einmal neu: In Kapitel 1 wäre statt eines „regenerativen“ Umgangs mit Natur von der (re)produktiven Regulierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse die Rede. Denn (wie schon der Buchtitel verrät) verbirgt sich hinter dem (reflexiven) Verb „sich regenerieren“ eine enorme gesellschaftliche Herausforderung – die Aufgabe, die sozial-ökologischen Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklung zu erneuern und wiederherzustellen. In dieser Sicht ist ‚Natur‘ sowohl Voraussetzung des Wirtschaftens und Lebens in der Zukunft als auch dessen Zweck und Ziel in der Gegenwart. Entsprechend weitet sich in Kapitel 2 der Blick auf die strukturellen Bedingungen, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft. Sie wirken auf die Beziehungen zwischen Menschen ein mit der Folge, dass Reziprozität und damit verbunden solidarisches Miteinander für ein gemeinsames ‚gutes Leben‘ konterkariert werden. Und schließlich geriete auch in Kapitel 3 die Verschiedenheit der Menschen in den Fokus: ihre in kultureller, sozialer, geschlechtlicher Hinsicht unterschiedlichen Möglichkeiten, sich selbst in der Welt zu verorten und zu reflektieren.

Dass Fritz Reheis um all das weiß und es radikal in zeitpolitische Postulate zu gießen versteht, offenbart der Schluss des Buches überaus deutlich. Seine Folgerungen für eine an Zeitwohlstand und gutem Leben orientierte Zeitpolitik sind so offenkundig wie radikal und weitsichtig: Wer Nachhaltigkeitspolitiken als Zeitpolitiken zu verstehen und auszulegen sucht, findet im Buch analytisch kluge wie auch handlungsorientierte Überlegungen, die in Strategien gegossen nachhaltig wirksam zu werden versprechen.