Jonas Moosmüller1, Maximilian Roßmann2, Steffen Albrecht3, Reinhard Grünwald3
1 Institute for Technology Assessment and Systems Analysis (ITAS), Karlsruhe Institute of Technology (KIT), Karlsruhe, DE
2 Faculty of Arts and Social Sciences, Maastricht University, Maastricht, NL
3 Office of Technology Assessment at the German Bundestag (TAB)
EUROPA
Die Rolle der Wissenschaft bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen war selten so prominent – und zuweilen auch umstritten – wie während der COVID-19-Pandemie. Vor diesem Hintergrund hat die Generaldirektion ‚Research and Innovation‘ der Europäischen Kommission untersuchen lassen, wie das wissenschaftliche Beratungssystem verbessert werden kann. Der im Oktober 2023 erschienene Bericht befasst sich mit aktuellen Trends wie dem wachsenden Einfluss von KI-gestützten Vorhersagen auf politische Entscheidungen, der Konzentration auf auftragsorientierte Forschung oder der zunehmenden Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Wissenschaft. Der Bericht weist auch auf die Notwendigkeit hin, wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten und die Ungewissheit, die mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden ist, besser zu berücksichtigen. Es sei wichtig anzuerkennen, dass sowohl die Wissenschaft als auch die Politik wertebasiert und Wertedebatten ein wichtiger Bestandteil von Beratungsmechanismen sind.
POLITIKBERATUNG
Auch in den kommenden fünf Jahren wird das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) die parlamentarische Arbeit des Bundestags mit unabhängiger wissenschaftlicher Expertise unterstützen. Am Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beobachten Forschende des ITAS bereits seit 1990 wissenschaftlich-technische Trends, erstellen Analysen zu aktuellen forschungs- und technologiepolitischen Fragen und identifizieren Innovationspotenziale. Partner für den Zeitraum bis 2028 sind wie zuvor das IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und der VDI/VDE Innovation und Technik. Um Handlungsoptionen für das Parlament künftig noch präziser zu identifizieren, erweitert das TAB sein Methodenspektrum, etwa mit digitalen Datenanalysen und partizipativen Szenariomethoden. Zugleich sollen die Foresight-Aktivitäten den Fokus noch stärker auf Innovation und transformative Resilienz legen. Darüber hinaus hat sich das TAB vorgenommen, die Sichtbarkeit seiner Ergebnisse auch außerhalb des Bundestages zu erhöhen.
STADTFORSCHUNG
Welche Spielräume haben Kommunen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen? Wie kann eine ökologisch und sozial verträgliche Mobilität in der Stadt gewährleistet werden? Und wie können Städte die Vorteile von Digitalisierung und KI nutzen? Seit dem Jahr 1973 beschäftigt sich das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) mit den täglichen Herausforderungen von Stadtverwaltungen und Kommunalpolitik. Gegründet wurde das gemeinnützige Institut auf Initiative des Deutschen Städtetags unter dem Motto ‚Rettet unsere Städte jetzt!‘. Heute beschäftigt es knapp 200 Mitarbeitende am Hauptsitz in Berlin und einer Außenstelle in Köln. Das langjährige Mitglied im Netzwerk Technikfolgenabschätzung (NTA) ist damit das größte Stadtforschungsinstitut im deutschsprachigen Raum. Seinen 50. Geburtstag feiert das seit 2018 von Carsten Kühl geführte Institut mit einer Fachveranstaltung zu aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel und Wohnen, unter anderem mit Bundesbauministerin Klara Geywitz.
Im Jahr 1995 Gründungsdirektor des Instituts für Technikfolgeabschätzung und Systemanalyse (ITAS) und im Jahr 1990 des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB)
Sie gelten als Wegbereiter der TA in Deutschland. Woher rührt Ihr Interesse für das Forschungsgebiet?
Bereits in den 1960er-Jahren hat eine öffentliche Debatte über ökologische Auswirkungen des Einsatzes neuer Techniken eingesetzt. Damit einher ging die Forderung, die Informationsgrundlagen für politische Entscheidungen zu verbessern. Das hatte großen Einfluss auf meine Arbeit in der Heidelberger Studiengruppe für Systemforschung und später für die TA in Karlsruhe. Vorbild war das Office of Technology Assessment beim US-Kongress, zu dem ich auch persönliche Kontakte hatte.
Was ist für Sie Kern der politikberatenden Technikfolgenabschätzung?
Den sehe ich in ihrem unmittelbaren Handlungs- und Entscheidungsbezug. Fester Bestandteil aller TA-Analysen ist die Entwicklung von Handlungsoptionen, z. B. gesetzliche Maßnahmen zur Verhinderung oder zur Förderung bestimmter Anwendungen einer neuen Technologie.
Mit dem TAB haben Sie den Grundstein für die parlamentarische TA gelegt. Was überwog bei den Abgeordneten, Begeisterung oder Skepsis?
Begeisterung war wenig zu spüren. Der Vorschlag der Enquete-Kommission sah einen dreijährigen Modellversuch vor und wurde überwiegend skeptisch beurteilt. Qualität und Nutzen der in dieser ‚Probezeit‘ durchgeführten Projekte waren entscheidend für den Beschluss, die TA langfristig beim Deutschen Bundestag zu institutionalisieren.
KI-Technologien sind derzeit in aller Munde. Gibt es Zukunftstechnologien, die daneben zu wenig Beachtung finden?
Die digitale Transformation wird zweifellos tiefgreifende Auswirkungen in allen Bereichen der Gesellschaft haben. Die TA wird signifikante Beiträge zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu leisten haben. Dies gilt auch für andere gesellschaftliche Zukunftsaufgaben, die ohne neue Technologien nicht zu lösen sind, z. B. ein klimaverträgliches Verkehrssystem.
Hand aufs Herz: Haben Sie bei der Einschätzung von Technikfolgen in Ihrer langen Karriere auch schon einmal danebengelegen?
Ich glaube, dass meinen früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mir das erspart geblieben ist. Generell kann es aber leicht zu Fehlurteilen kommen, wenn es um Techniken mit potenziell weitreichenden, anfangs jedoch kaum abschätzbaren Folgen geht.
Quelle: Bildquelle: Sabine Arndt
detailed video interviews available at www.tatup.de/youtube
31. 01.–01. 02. 2024, PADERBORN
4. Fachtagung Integrierte Forschung: Mensch-Technik-Verhältnisse transdisziplinär reflektieren und gestalten
integrierte-forschung.net/cluster/fachtagungen
14.–16. 02. 2024, GRAZ
18. Symposium Energieinnovation: Europas Energiezukunft – Sicher, leistbar, sauber!?
www.tugraz.at/events/eninnov2024
11.–12. 04. 2024, DRESDEN
Konferenz ‚Reallabore – ExperimentierRäume für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft‘
www.ioer.de/veranstaltungen/rlnk2024
06.–08. 05. 2024, GRAZ
The 22nd annual STS conference Graz 2024 ‚critical issues in science, technology and society studies‘
www.stsconf.tugraz.at/
09.–10. 05. 2024, KARLSRUHE
17th society and materials conference (SAM17)
www.itas.kit.edu/english/events_2023_sam17
23.–24. 05. 2024, BERLIN
Tagung ‚Expertise in digitaler Transformation‘
soziologie.de/aktuell/news/expertise-in-digitaler-transformation-mai-2024
04.–07. 06. 2024, ENSCHEDE
EU-SPRI Annual Conference 2024: Governing technology, research, and innovation for better worlds
www.utwente.nl/en/euspri2024/
Weitere Termine unter www.openta.net/kalender
BETEILIGUNG
Einen ganzen Nachmittag Zeit nahmen sich am 14. Oktober 2023 in Karlsruhe über 30 Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, um zu diskutieren, wie sich Klimaschutz für Bürgerinnen und Bürger lohnen könnte. Organisiert wurde die Dialogveranstaltung vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) im Rahmen der zweiten Science Week des Karlsruher Instituts für Technologie. Das Besondere an dem Format: „Die Bürgerinnen und Bürger hatten bei uns nicht nur die Möglichkeit, eigene Ideen zu entwickeln. Vielmehr sollen ihre Vorschläge auch tatsächlich in der Forschungsagenda des KIT berücksichtigt werden“, so Marius Albiez, der am ITAS die Veranstaltung mitkonzipiert hat. „Beeindruckt von der Vielfalt der Ideen“ zeigte sich dementsprechend auch die neue Vizepräsidentin für Digitalisierung und Nachhaltigkeit des KIT, Professorin Kora Kristof, die bereits vor Ort mögliche Anknüpfungspunkte für die Forschung identifizierte und die Ergebnisse entgegennahm.
www.itas.kit.edu/buergerdialog
Reallabore
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) will für die Interaktion von Wissenschaft und Gesellschaft in Reallaboren einen gesetzlichen Rahmen schaffen. Im Zusammenhang des Konsultationsprozesses zu der Gesetzesinitiative hat das Netzwerk ‚Reallabore der Nachhaltigkeit‘ eine Stellungnahme veröffentlicht. „Die Reallabore-Gesetz-Initiative ist grundsätzlich begrüßenswert, letztlich aber kommt es auf deren konkrete Umsetzung an“, sagt Oliver Parodi, der Sprecher des Netzwerks. „Wichtig sind hierbei“, so Parodi, „eine konsequente Nachhaltigkeitsorientierung, weitreichende Partizipation und ergebnisoffenes Experimentieren sowie das Grundverständnis, dass Reallabore dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lernen dienen.“ Das 2019 gegründete ‚Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit‘ versteht sich als Anlaufstelle und Plattform für Reallabore im deutschsprachigen Raum sowie für alle an nachhaltiger Entwicklung Interessierte. Es umfasst 50 Organisationen sowie über 80 aktive und abgeschlossene Reallabore.
PARLAMENTARISCHE TA
Generative künstliche Intelligenz war das Thema der diesjährigen EPTA-Konferenz. Die jährlich stattfindende Tagung der europäischen Vereinigung von Institutionen für parlamentarische TA fand am 9. Oktober 2023 in Barcelona statt. Vier Mitglieder des Deutschen Bundestages waren angereist, um sich im katalanischen Parlament mit Forschenden und zahlreichen Abgeordneten anderer Parlamente über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der generativen KI und die Rolle der TA auszutauschen. Der New Yorker Psychologe und Neurowissenschaftler Gary Marcus zeigte in seiner Keynote bestehende Unzulänglichkeiten der Text- und Bildgeneratoren auf und mahnte eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung an. Er plädierte zudem für eine verpflichtende Überprüfung von KI-Systemen durch unabhängige wissenschaftliche Institutionen. In drei Sessions wurden die Chancen, Risiken und Herausforderungen der Anwendungen in Bezug auf die Politikbereiche Gesundheit, Bildung und Arbeit diskutiert. Im Fokus stand zudem die Frage, wie die dynamische Entwicklung besser an demokratischen Werten ausgerichtet werden kann. Der auf der Konferenz vorgestellte EPTA-Bericht präsentiert die aktuellen Debatten über generative KI in den verschiedenen Ländern und die damit verbundenen Anforderungen an die Technikfolgenabschätzung.
www.parlament.cat (EPTA-Bericht und Videoaufzeichnung der Tagung)
EUROPA
Der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments (EPRS) hat die Aufgabe, Abgeordnete mit wissenschaftlich fundierten Studien und Recherchen zu unterstützen. Um das Parlament künftig auch in den Themenfeldern ‚Strategic Foresight‘ und ‚Technikfolgenabschätzung‘ zu beraten, hat der EPRS im Juli 2023 einen Rahmenvertrag mit dem DLR Projektträger geschlossen. Dieser ist beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt angesiedelt und arbeitet wiederum mit Unterauftragnehmern aus mehreren EU-Mitgliedsstaaten zusammen, etwa dem Institut für qualifizierende Innovationsforschung und -beratung (IQIB), dem Danish Board of Technology, der Spanish Foundation for Science and Technology (FECYT) und der Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung TA-Swiss. Das Portfolio an möglichen Aufträgen umfasst neben Studien zu Foresight und TA auch Briefings für Mitglieder des Europäischen Parlaments. Außerdem soll der DLR Projektträger Veranstaltungen für Abgeordnete oder Fachleute organisieren sowie Kommunikationsmaterialien erstellen.
PUBLIKATION
Der Sammelband ‚Zukunftswissen?‘ fragt am Beispiel der Energiewirtschaft nach den Potenzialen prospektiver Erkenntnis. Die Beiträge des auf einer Tagung der Ruhr-Universität Bochum basierenden Bands kommen aus vielfältigen Fachrichtungen, von der Technikfolgenabschätzung über die Technikphilosophie und Ökonomik bis hin zur Literaturwissenschaft. Aus TA-Perspektive interessieren insbesondere die Beiträge von Armin Grunwald und Gesine Lenore Schiewer. Für ersteren ist die Validität von Energieszenarien vor allem eine Frage nach ihrem Zustandekommen und damit nach den ihnen zugrundeliegenden normativen Annahmen, Visionen und Utopien. Armin Grunwald setzt sich zudem kritisch mit der Annahme auseinander, es gäbe eine datenbasierte ‚beste Lösung‘, die von politischen Entscheiderinnen und Entscheidern nur noch verwirklicht werden müsse. Gesine Lenore Schiewer, Lehrstuhlinhaberin für Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth, nimmt in ihrem Beitrag ‚Emotionen als Komponente der Zukunftsforschung‘ in den Blick. Sie weist unter anderem darauf hin, dass bestimmte Emotionen wie ‚Angst‘ im Kontext der Zukunftsforschung häufiger aufgegriffen werden als positive Gefühlsregungen.
Mackasare, Manuel (Hg.)
Zukunftswissen? Potenziale prospektiver Erkenntnis am Beispiel der Energiewirtschaft.
Berlin: J. B. Metzler, 2023, 370 S., 74,99 €
ISBN 9783662667552