RESEARCH ARTICLE

Dekarbonisierung des Verkehrssektors in Berlin: Bürgerinnen- und Bürgergutachten zu wissenschaftlich erstellten Szenarien

Moritz Kreuschner*, 1 , Nora Bonatz2 , Tilmann Schlenther1 , Hamid Mostofi2 , Hans-Liudger Dienel2 , Kai Nagel1

* Corresponding author: kreuschner@vsp.tu-berlin.de

1 FG Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik, Technische Universität Berlin, Berlin, DE

2 FG Arbeitslehre/Technik und Partizipation, Technische Universität Berlin, Berlin, DE

Zusammenfassung  Im Rahmen dieser Arbeit wurde ein Bürger:innenrat eingerichtet, um Feedback zu Maßnahmen zur Dekarbonisierung des Berliner Verkehrssektors zu erhalten. Das generelle Ziel der Dekarbonisierung fand breite Unterstützung. Auf der Grundlage bereits vorliegender Studien wurden jeweils Diskussionen für den privaten Personenverkehr, den kommerziellen Personenverkehr, den Güterverkehr und Sonderverkehre geführt. Für alle Segmente mit Ausnahme des privaten Personenverkehrs konnte eine Einigung über die Dekarbonisierungspfade erzielt werden. Für Letzteren werden Pull-Maßnahmen, wie zum Beispiel Verbesserungen des öffentlichen Nahverkehrs oder der Radwege, allgemein akzeptiert, was mit dem generellen Wunsch nach Umstellung auf nicht-fossile Antriebe und einer Gestaltung eines weniger autozentrierten Berlins einhergeht. Simulationen zeigen allerdings, dass diese Pull-Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichen werden, um den privaten Personenverkehr zu dekarbonisieren. Wirksamere Push-Maßnahmen, wie höhere Preise oder Verbote fossiler Fahrzeuge, erzielten für dieses Segment jedoch keine klaren Mehrheiten.

Decarbonization of Berlin’s transport sector: Citizens’ assembly on scientifically developed scenarios

Abstract  As part of this work, a citizens’ assembly was set up to obtain feedback on measures to decarbonize Berlin’s transport sector. The general goal of decarbonization was widely supported. Based on existing studies, discussions were held for private passenger transport, commercial passenger transport, freight transport, and all other transport modes. Agreement could be found on the decarbonization paths for all segments, with the exception of private passenger transport. For the latter, pull measures, like improvements of public transport or bike lanes, are generally accepted, going along with a general desire to switch to non-fossil fuels and to make the transport system in Berlin less car-oriented. Simulations show that pull measures will be far from sufficient to decarbonize private passenger transport. However, more effective push measures, such as higher prices or ban on fossil-fueled vehicles, did not yield clear majorities for this segment.

Keywords  citizens’ assembly, Berlin’s transport sector, non-fossil scenarios, decarbonization, defossilization

© 2024 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 33/1 (2024), S. 55–62, https://doi.org/10.14512/tatup.33.1.55

Received: 08. 09. 2023; revised version accepted: 19. 12. 2023; published online: 15. 03. 2024 (peer review)

Einleitung

Kommunale Klimabürger:innenräte haben sich in den letzten Jahren als deliberativ-demokratisches Instrument in Europa weit verbreitet. Das europäische Netzwerk KNOCA (2024) zeigt den Aufstieg der Klimabürgerräte eindrücklich. Im April 2021 fasste das Berliner Abgeordnetenhaus den Beschluss für einen Klimabürger:innenrat in Berlin[1] und vergab die Durchführung u. a. an das Berliner nexus Institut, an dessen Leitung Autor H.-L. Dienel beteiligt ist. Im Rahmen von zehn Sitzungen, zwei davon zum Thema Mobilität, wurden mit zufällig ausgewählten Bürger:innen 47 Empfehlungen an die Politik ausgearbeitet und formuliert, von denen der Senat 42 im Klimaschutzprogramm aufgriff. Die Mobilitätsempfehlungen thematisieren sowohl die Stärkung des Umweltverbunds als auch die Abschwächung des Autoverkehrs. Konkrete Maßnahmenvorschläge umfassen niedrige ÖPNV-Ticketpreise, Radinfrastrukturausbau, Verknüpfung verschiedener Verkehrsformen und Preiserhöhung für das Parken von Autos (SenUVK 2023). Simulationsbasierte Ansätze zeigen allerdings, dass die gewählten Maßnahmen für eine vollständige Dekarbonisierung des Verkehrssystems nicht ausreichend sind.

Unabhängig vom Ansatz des Klimabürger:innenrats untersucht das Projekt zeroCUTS (2018) seit 2018 mögliche Maßnahmen zur vollständigen Dekarbonisierung des Verkehrssystems aus einer simulationsbasierten Sicht (Göhlich et al. 2021). Hierzu wird der urbane Verkehr in die vier Segmente privater Personenverkehr, kommerzieller Personenverkehr, kommerzieller Güterverkehr und sonstige Verkehre eingeteilt. Für jedes dieser Segmente werden mehrere Dekarbonisierungsstrategien definiert, und für diese werden Veränderungen der Kosten, der Reisezeiten etc. bewertet.

Partizipative Methoden ermöglichen es den Menschen, aktiv und einflussreich an Entscheidungen mitzuwirken, die ihr Leben betreffen.

Dabei stellt sich zunächst für die letzten drei Segmente heraus, dass deren Dekarbonisierung bereits mit vorhandenen Technologien erreicht werden könnte, wobei die Kosten des Verkehrs in keinem der Segmente um mehr als 20 % ansteigen würden. Hier ist die Frage also, ob diese Kostensteigerung von 20 % akzeptabel wäre, und falls ja, wie die resultierenden Lasten verteilt werden sollten. Dabei ist zu beachten, dass der Transportanteil der Kosten bei den meisten Produkten nur ein kleinerer Teil ist, die resultierenden Preissteigerungen also oft deutlich niedriger als diese genannten 20 % ausfallen würden.

Auch die Dekarbonisierung des ersten Segments, des privaten Personenverkehrs, ist laut zeroCUTS mit vorhandenen Technologien möglich (Göhlich et al. 2021). Allerdings besteht hier ein breiteres Spektrum von plausibel erscheinenden Alternativen, von rein technologischen Lösungen der Dekarbonisierung der Antriebe über einen Wandel vom individuellen Autobesitz hin zu geteilten Flotten bis hin zum vollständigen Wechsel auf andere Verkehrsmittel oder auch Kombinationen dieser Möglichkeiten.

Aus dieser Ausgangssituation ergaben sich die folgenden Forschungsfragen: Können – regional differenzierte – Maßnahmenpakete definiert werden, welche dann breit unterstützt werden? Und konnte das bestehende Momentum des Klimabürger:innenrats genutzt werden, um diese Fragen zu adressieren? Daher orientierte sich das partizipative Format am Klimabürger:innenrat: Pro Verkehrssegment gab es zunächst fachlichen Input, dann diskutierten die Bürgergutachter:innen in Gruppen, gefolgt von einer Schnellumfrage, die dann im Plenum diskutiert wurde. Daraus wurden im Nachgang zusammenfassende Aussagen generiert, welche den Bürgergutachter:innen zur Entscheidung vorgelegt wurden.

Die Diskussion über das Segment des privaten Personenverkehrs wurde dabei durch ein Dashboard unterstützt, welches die Wirkung unterschiedlicher Maßnahmenbündel bzgl. der Dimensionen CO2-Reduktion, Reduktion des fahrenden Verkehrs, Reduktion des stehenden Verkehrs sowie zusätzliche Ausgaben oder Einnahmen des Staates aufzeigte. Hierdurch wurden Aspekte des Decision-Theater-Ansatzes (Wolf et al. 2023) in den Ansatz des Bürger:innenrats integriert. Aus der Integration beider Ansätze ergibt sich der Vorteil, dass die Wirkungen unterschiedlicher Maßnahmen sofort beurteilt werden können. Ein Nachteil ist, dass Maßnahmen, welche über die vorher definierten hinausgehen, an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden können. Von einem Charrette-Verfahren – bei welchem die Ergebnisse der Diskussionen in erneuten Simulationen hätten berücksichtigt werden können – wurde abgesehen, weil es Indikationen gab, dass eine noch höhere zeitliche Belastung der Bürgergutachter:innen zu erhöhten Abbruchquoten bei der Teilnahme geführt hätten.

Workshops mit Bürgergutachter:innen

Projektvorhaben und Ziel

Partizipative Methoden werden unter anderem eingesetzt, um Ideen zu sammeln und die Wahrnehmung der Bürger:innen zu analysieren. Partizipative Methoden umfassen eine Reihe von Aktivitäten mit einem gemeinsamen Nenner: Sie ermöglichen es den Menschen, aktiv und einflussreich an Entscheidungen mitzuwirken, die ihr Leben betreffen. Innerhalb des Projekts ‚Bürgerschaftliche Resonanz auf nachhaltige Mobilitäts- und Infrastrukturszenarien für Berlin‘ haben wir, basierend auf unseren Simulationen, Transformationsszenarien mit konkreten Maßnahmen für eine Dekarbonisierung der zuvor genannten vier Verkehrssegmente erstellt. Hierfür wurden unter anderem browserbasierte, interaktive Dashboards entwickelt und verwendet (siehe Abb. 2). Die unterschiedlichen Maßnahmen wurden in Workshops mit Bürger:innen aus Berlin und Brandenburg, die als Bürgergutachter:innen agieren, kontrovers und alternativ diskutiert und darüber abgestimmt. Auf diese Weise werden nicht nur Informationen zu Akzeptanz und Widerstand bestimmter Maßnahmen eingeholt, sondern die Szenarien erhalten auch ein partizipatives und demokratisches Gewicht, was ihre Durchsetzungschancen erhöht. Mit dem Projekt wurde das Vorhaben eines bürgerschaftlichen Sounding Boards (oder auch einer bürgerschaftlichen Resonanz) für wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Diskussionen erprobt. Zudem ist dies eine wertvolle Ergänzung der wissenschaftlichen Arbeiten rund um die Verkehrssimulationen, um eine gesellschaftliche Resonanz zu erhalten.

Die Intensität des Beteiligungsformats (Schwab 2019) geht über ein reines Informieren der Teilnehmenden hinaus. In den Workshops wurden explizit sowohl die Meinung und der Meinungsaustausch zwischen den Teilnehmenden als auch eine Bewertung aus ihrer eigenen Lebenssituation erwünscht. Einwürfe und Ideen von Teilnehmenden, wie beispielsweise die Frage der sozialen Verträglichkeit, wurden für die finale Abfrage der Maßnahmen aufgegriffen. Dadurch unterscheidet sich das Format von einfachen Befragungsdesigns.

Sozio-demographische Zusammensetzung der Bürgergutachter:innen

An den Workshops haben insgesamt 64 Bürger:innen aus Berlin und Brandenburg teilgenommen. Die Bürger:innen wurden aus verschiedenen Gruppen rekrutiert (siehe Abb. 1). Anschließend wurden Personen mit unterrepräsentierten Merkmalen gezielt nachrekrutiert und vor den Workshops wurden sozio-demographische Merkmale, Wohnort und Mobilitätsverhalten von 52 der 64 Teilnehmenden erfasst; für Details siehe Research data. Vor den Workshops wurden sozio-demographische Merkmale, Wohnort und Mobilitätsverhalten von 52 der 64 Teilnehmenden erfasst; für Details siehe Research data.

Abb. 1: Anteilige Rekrutierung von Bürgergutachter:innen aus verschiedenen Gruppen. Quelle: eigene Darstellung

Die Auswertung der Daten zeigt, dass ein breites Spektrum aus der Gesellschaft vertreten war:

Dies bestätigt insgesamt eine hohe sozio-demographische Heterogenität der Teilnehmenden.

Ein Vergleich mit dem Mikrozensus Berlin ist unter Research data zu finden. Dabei fällt auf, dass die Altersklasse 15–25 Jahre überrepräsentiert und die Altersklasse 45–65 Jahre unterrepräsentiert war. Damit einhergehend waren Studierende deutlich überrepräsentiert – laut Statistik Berlin haben sie einen Anteil von 5 %, während sie bei uns einen Anteil von 25 % hatten. Ähnlich, aber nicht so stark, haben Schüler:innen in Berlin einen Anteil von 11 %, während sie bei uns einen Anteil von 15 % hatten. Teilnehmende aus Haushalten mit fünf oder mehr Personen waren überrepräsentiert. Der hohe Anteil der Fünfpersonenhaushalte wurde zum einen durch die Gruppe der Schüler:innen erzeugt – es ist statistisch wahrscheinlich, dass man bei Rekrutierung über Schulen überproportional viele Vielpersonenhaushalte zieht. Ein weiterer Teil entsteht durch den überproportional hohen Anteil von Studierenden, die oft in Wohngemeinschaften wohnen. Bzgl. der Einkommen sind diejenigen bis 2500 Euro über- und diejenigen höher als 2500 Euro unterrepräsentiert.

Bock und Reimann (2021) diskutieren die Zufallsauswahl bei Beteiligungsverfahren, an welcher sich unser Ansatz orientiert. Diese ist allerdings kaum zu gewährleisten, da es immer Bevölkerungsgruppen gibt, welche eine Teilnahme mit höherer Wahrscheinlichkeit ablehnen als andere (self selection bias). Der typische Ansatz zur Kompensation sind geschichtete Stichproben, also dass man unterrepräsentierte Personengruppen nachrekrutiert. Nicht vermeidbar sind dabei allerdings Verzerrungen innerhalb dieser Personengruppen – z. B. wurden ältere Personen nachrekrutiert, aber es ist zu vermuten, dass hier vor allem aktivere Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe erreicht wurden, und somit weniger aktive, mit möglicherweise anderen Meinungen, zu schwach berücksichtigt sind.

Die politische Legitimationskraft partizipativer Technikfolgeabschätzung hängt von der verbindlichen Einbindung in den politischen Prozess ab (Grunwald 2000). Im vorliegenden Projekt geht es allerdings erst in einem zweiten Schritt um die Einbindung in den politischen Prozess und zunächst um die bürgerschaftliche Rückmeldung an die Wissenschaft und die von Bürger:innen erarbeiteten Szenarien und damit um Antworten auf die Frage, welche Maßnahmenpakete unter welchen Voraussetzungen breite Unterstützung erfahren könnten.

Im gewählten Format geht der Beschlussfassung wissenschaftlicher Input und Diskussion zwischen den sehr unterschiedlichen Teilnehmenden voraus. Wir gehen davon aus, dass dies zu einer Erweiterung der Perspektiven von Beteiligten und zu einer Berücksichtigung anderer Interessen als der eigenen führt. Im Sinne der Suche nach Maßnahmenpaketen mit breiter Unterstützung werden im Folgenden nur Voten mit mehr als 70 % Unterstützung thematisiert. Somit hat unsere Studie zwei primäre Ziele:

Erstens, die Identifikation von Maßnahmen oder Maßnahmenpaketen, bei denen breite Unterstützung erwartet werden kann. Diese können dann den politisch Handelnden nahegelegt werden. Zweitens, die Identifikation von Konfliktlinien, bei deren Auftreten im Verfahren also keine mehrheitlich unterstützten Lösungen gefunden werden konnten. Aus Forschungssicht ergibt sich hieraus die Frage, ob nicht in anderer Weise doch noch mehrheitsfähige Lösungen gefunden werden können – z. B. indem Lösungsvorschläge aus den Diskussionen aufgegriffen und genauer analysiert werden oder indem im vorliegenden Fall die Lösungen räumlich stark differenziert werden. Gerade letzteres erscheint im Bereich Verkehr – welcher ja wenigstens teilweise eine Raumwissenschaft ist – durchaus machbar, wenn Verfahren gefunden werden, die diese Differenzierung berücksichtigen.

Organisation und Ablauf der Workshops

Die Organisation und der Ablauf der Workshops lehnen sich größtenteils an das Beteiligungsformat einer Planungszelle an. Der Gründer dieses Beteiligungsformats Peter Christian Dienel unterteilt die Organisation in eine Vorbereitungs-, Durchführungs- und Nachbereitungsphase. Die Durchführungsphase beinhaltet die Eröffnung, den Informationseingang, Arbeit in Untergruppen, Ergebnisdokumentation durch Bewertungsvorgänge und das Abschlussergebnis (Dienel 2002).

Die Workshops mit den Bürger:innen fanden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen statt. Am ersten Tag standen die Segmente Sonderverkehre und Güterverkehr im Fokus, am zweiten Tag die Segmente privater und kommerzieller Personenverkehr. Der Ablauf für die einzelnen Segmente war gleich aufgebaut.

Eröffnung: Nach der Registrierung der Teilnehmenden wurde im Plenum der Workshopablauf und die Aufgabenstellung erläutert.

Informationseingang: Zunächst haben Wissenschaftler:innen im Plenum Maßnahmen zur Dekarbonisierung der einzelnen Verkehrssegmente mit unterschiedlichen Zeithorizonten vorgestellt und die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Simulationen dieser Maßnahmen in Bezug auf CO2-Emissionsreduzierung, Kosten und Auswirkungen auf den fahrenden und parkenden Verkehr erläutert.

Diskussion in Kleingruppen: Bevor Teilnehmende um eine Bewertung der Maßnahmen gebeten wurden, fand eine Diskussionsrunde statt. Hierfür wurden die Teilnehmenden in fünf Kleingruppen mit unterschiedlichen demographischen Profilen nach Alter, Geschlecht und Einkommen aufgeteilt, um sicherzustellen, dass in den Gruppendiskussionen ein Austausch verschiedener Perspektiven unterschiedlicher Lebenslagen stattfindet. Für die Segmente Güterverkehr und privater Personenverkehr wurden die von Wissenschaftler:innen präsentierten Maßnahmen und deren abgeschätzte Auswirkungen in Form von interaktiven Dashboards unterstützend illustriert (siehe Abb. 2). Das Dashboard wurde in den Diskussionen zur Verfügung gestellt. Es wurde hier ähnlich dem Konzept des Decision Theatre vorgegangen (Wolf et al. 2023). Die Diskussionen wurden von Moderator:innen geleitet. Hierbei wurde insbesondere die finanzielle Machbarkeit, die individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz und die Vor- und Nachteile fokussiert.

Abb. 2: Darstellung des Dashboards. Quelle: VSP (2023)

Bewertung der vorgestellten Maßnahmen: Nach der Diskussion haben die Teilnehmenden über die zuvor diskutierten Maßnahmen abgestimmt. Die Umfrage enthielt Single-Choice-Fragen mit fünf-stufigen Likert-Skalen und offene Fragen zu beispielsweise Vor- und Nachteilen der Maßnahmen und ein Kommentarfeld für weitere Anregungen.

Abschlussergebnis und finale Abstimmung: Nach den Workshops wurden die Daten und Meinungen der Teilnehmenden ausgewertet und in 21 Hauptaussagen zusammengefasst. Den Teilnehmenden wurden die Hauptaussagen im Nachgang zugeschickt und sie haben final über die Aussagen in Form von Zustimmung oder Ablehnung abgestimmt.

Fachliche Inputs

Wie in der Einleitung ausgeführt, orientierten sich die fachlichen Inputs an den Resultaten des Projekts zeroCUTS. Details der Inputs sind unter Research data zu finden; der Abschnitt hier gibt eine kurze Zusammenfassung.

Zunächst thematisierte eine übergreifende Einführung die Vor- und Nachteile verschiedener nicht-fossiler Antriebtechnologien aus heutiger Sicht. Konkret angesprochen wurden elektrische Antriebe, Wasserstoff-Antriebe, synthetische Kraftstoffe sowie Brennstoffzellen, mit dem Tenor, dass die letzten drei deutlich mehr Primärenergie benötigen würden, welche aber andererseits potenziell von außerhalb Deutschlands zur Verfügung gestellt werden könnte. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass eine vollständige Umstellung der vorhandenen Fahrzeugflotte auf nicht-fossile Antriebe bis 2045 erhebliche – möglicherweise nicht zu leistende – Anforderungen an die industrielle Produktion stellen würde.

Bzgl. der einzelnen Segmente wurden zeroCUTS Forschungsresultate referiert. Dies wird im Folgenden beschrieben.

Wegen ihrer geringeren Komplexität wurden zunächst Sonderverkehre behandelt, wo selbst problematisch erscheinende Fälle wie z. B. die Müllabfuhr mit elektrischen Antrieben gelöst werden können (Ewert et al. 2021). Generell war der zentrale Vorschlag, dass alle Betreiber von Sonderverkehren umgehend entsprechende Experimentierfahrzeuge mit unterschiedlichen nicht-fossilen Antriebstechnologien beschaffen sollten, um darauf basierend eine Entscheidung bzgl. zukünftigem nicht-fossilem Betrieb zu treffen. Alle zukünftigen Beschaffungen sollten dann auf dieser Entscheidung beruhen.

Bei den Güterverkehren konzentrierten sich die Diskussionen auf deren urbanen Anteil, also den Vorlauf oder den Verteilverkehr. Laut zeroCUTS ist eine Dekarbonisierung auch dieser Verkehre weitgehend durch Elektrifizierung machbar; in einigen wenigen Fällen liegen allerdings die Güterverteilzentren so weit von Berlin entfernt, dass Fernverkehrslösungen (z. B. Schnell-Ladung oder Stromschienen) einbezogen werden müssten.

Weil der kommerzielle Personenverkehr die gleichen Ansätze verwendet wie der nichtkommerzielle Personenverkehr, wurde letzterer zuerst behandelt. Hier wurde zunächst dargestellt, dass typische Ansätze wie Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Ausbau des Radverkehrs oder Kiezblöcke (auto-arme Zonen) zwar in günstigen Fällen den Autoverkehr um jeweils ein Zehntel reduzieren, folglich aber selbst die Kombination dieser drei Maßnahmen mindestens 70 % des fossilen Autoverkehrs bestehen lassen würde. Einerseits wurde darauf hingewiesen, dass Simulationen ergeben, dass durch reine Verbesserungen der Alternativen zum Auto (sogenannte Pull-Maßnahmen) eine Reduktion des Autoverkehrs um mehr als ein Drittel kaum möglich sein würde. Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass die jetzige Gesetzeslage keine fossilen Antriebe im Land Berlin nach 2045 mehr zulassen würde. Die wesentlichen offenen Fragen seien daher (aus Sicht der einführenden Wissenschaftler:innen):

  1. Sollte das Ziel eine reine Umstellung der Antriebe bis 2045 sein, oder sollte dieses Ziel mit einer deutlichen Reduktion des fahrenden oder des stehenden Autoverkehrs kombiniert werden? Falls letzteres, durch welche Maßnahmen sollte dies erreicht werden? Neben den oben beschriebenen Pull-Maßnahmen wurden konkret eine Bepreisung des fahrenden Verkehrs sowie eine Bepreisung des stehenden Verkehrs (Parkraumbewirtschaftung) vorgestellt.
  2. Sollte ein jeweils gewähltes Ziel durch partielle Maßnahmen zu einem früheren Zeitpunkt flankiert werden? Vorgeschlagene Denkrichtungen waren zum einen räumlich eingeschränkte Maßnahmen wie z. B. ein Verbot fossiler Fahrzeuge innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings bereits ab 2035 oder deutlich erhöhte Bepreisungen des stehenden oder fahrenden fossilen Verkehrs ab 2035.

Wie oben bereits erwähnt, sind die Ansätze für den kommerziellen Personenverkehr die gleichen wie für den nichtkommerziellen Personenverkehr: Dekarbonisierung des Antriebs, möglicherweise Verlagerung auf andere Verkehrsmittel. Die wesentliche Frage aus Sicht der einführenden Wissenschaftler:innen war hier, ob eine Verlagerung auf andere Verkehrsmittel in diesem Segment sinnvoll und daher anzustreben sei.

Wie in der Einleitung ausgeführt, war die Hypothese der Wissenschaftler:innen, dass die Vorschläge für die Segmente ‚Sonderverkehre‘, ‚Güterverkehr‘ sowie ‚kommerzieller Sonderverkehr‘ breite Unterstützung erfahren würden, während für den privaten Personenverkehr kontroversere Diskussionen aufgrund stärkerer Betroffenheit erwartet wurden.

Ergebnisse

Wie im Abschnitt ‚Sozio-demographische Zusammensetzung der Bürgergutachter:innen‘ beschrieben, stützen wir uns nur auf Voten mit mindestens 70 % Unterstützung. Für die textuellen Beschreibungen verwenden wir die in Tab. 1 dargestellte Skala.

Unterstützung

Anteil

sehr breite Unterstützung

> 90 %

breite Unterstützung

> 75 %

deutliche Unterstützung

> 70 %

Tab. 1: Klassifizierung der Unterstützung von Maßnahmen(-paketen). Quelle: eigene Darstellung

Umfrage während der Workshops

Die Resultate der Umfragen während der Workshops lassen sich wie folgt zusammenfassen; für Details siehe Research data:

Innerhalb der diskutierten Maßnahmen sprachen sich 80 % für Einschränkungen für fossile Fahrzeuge im Güterverkehr schon deutlich vor 2045 aus.

Finale Abstimmung über 21 Hauptaussagen

Nach den Workshops wurden Aussagen unter Berücksichtigung der Diskussionen und Anregungen der Workshops verfasst und den Teilnehmenden zugesendet. Diese konnten individuell die jeweiligen Aussagen befürworten oder ablehnen. Für eine Übersicht der Fragen mit dem jeweiligen Abstimmungsergebnis siehe Research data.

Bei der Auswertung der Abstimmung über die Hauptaussagen stellte sich heraus, dass manche Teilnehmenden Antworten gaben, welche zunächst widersprüchlich scheinen. Zum Beispiel wurde von mehreren Teilnehmenden eine Antriebswende bis 2045 abgelehnt, aber eine Antriebswende bis 2035 befürwortet, oder es wurde eine Antriebswende bis 2045 abgelehnt, jedoch eine kombinierte Antriebs- und Verkehrswende bis 2045 befürwortet.

Wir interpretieren diese Antworten so, dass für diese Personen eine Umstellung bis 2045 zu langsam, oder auch eine reine Antriebswende ohne eine gleichzeitige Verkehrswende unerwünscht ist. Dennoch teilen diese Personen offenbar das Ziel eines nicht-fossilen Verkehrs in Berlin 2045. Wir interpretieren daher im Folgenden die Bejahung einer ‚Antriebswende bis 2035‘ auch als Zustimmung zu ‚nicht-fossiler Verkehr bis 2045‘ sowie die Bejahung einer ‚Antriebs- und Verkehrswende bis 2035‘ auch als Zustimmung zu ‚nicht-fossiler Verkehr bis 2045‘, etc.; für genaue Details dieser ‚Bereinigung‘ siehe Research data. Dort werden auch die entsprechenden Abstimmungsergebnisse sowohl als ‚unbereinigt‘ als auch als ‚bereinigt‘ angegeben.

Es gab breite Unterstützung für nicht-fossilen Sonderverkehr und für nicht-fossilen kommerziellen Personenverkehr schon deutlich vor 2045.

Die Resultate lassen sich wie folgt zusammenfassen; für Terminologie siehe Tab. 1:

Abb. 3: Zustimmungsrate bzgl. der 21 Hauptaussagen. Quelle: eigene Darstellung

Fazit

Ziel dieses Projekts war, Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Hürden zu erlangen, die sich beim Konzeptionieren von verkehrlichen Maßnahmen im Rahmen der Dekarbonisierung ergeben. In der beschriebenen Studie wurden Szenarien zur Dekarbonisierung des Verkehrs mit Bürgergutachter:innen diskutiert. Unseren eigenen wissenschaftlichen Studien zur Dekarbonisierung des Verkehrs folgend wurde der Verkehr dazu in vier Segmente unterteilt: privater Personenverkehr, kommerzieller Personenverkehr, kommerzieller Güterverkehr und Sonderverkehre wie Einsatzverkehre, Müllabfuhr oder Straßenreinigung.

Das durchgeführte Bürger:innengutachten stellt einen Informationsgewinn bezüglich der Bewertung von Maßnahmen bzw. des Dekarbonisierungbedarfs im Verkehr in der Gesellschaft dar. Die gewonnenen Informationen sind vor allem in Bezug auf etwaige Diskrepanzen in der wissenschaftlichen und politischen Bewertung von Relevanz.

Die Diskussionen zeigen zunächst Handlungsspielräume für alle Segmente mit Ausnahme des privaten Personenverkehrs. Dies ist wichtig, weil sich in diesen Segmenten bereits erhebliche Beiträge zur Dekarbonisierung des Verkehrssystems erreichen lassen. Doch selbst für den privaten Personenverkehr gab es eine breite Befürwortung vieler Ziele und Maßnahmen: das generelle Ziel des nicht-fossilen Verkehrs, eine über eine reine Antriebswende hinausgehende Verkehrswende, die Verbesserung der Alternativen jenseits des Autos, einen sozialen Ausgleich sowie klare Kommunikation und Planbarkeit. Auch Pull-Maßnahmen wie Verbesserungen des öffentlichen Verkehrs oder für das Fahrrad fanden breite Mehrheiten, selbst wenn auf deren hohe Kosten sowie deren eingeschränkte Wirksamkeit im Hinblick auf die Dekarbonisierung des Verkehrssystems hingewiesen wurde – selbst eine Kombination von sehr deutlichen Verbesserungen in den Bereichen ÖPNV und Radverkehr führt in keiner unserer Simulationen zu einer CO2-Reduktion um mehr als 20 %. Selbst in Bezug auf Push-Maßnahmen gab es eine breite Mehrheit für die Anwendung des Verursacherprinzips. Für konkrete Maßnahmen wie Maut oder erhöhte Parkgebühren für fossile Fahrzeuge fanden sich allerdings keine Mehrheiten.

Footnote

[1] Wir schließen uns der von der Berliner Senatsverwaltung durchgehend verwendeten Terminologie „Klimabürger:innenrat“ an.

Acknowledgements

Die Autor:innen bedanken sich beim nexus Institut und insbesondere bei Eike Biermann für das Teilnehmendenmanagement sowie bei Janek Laudan und Ricardo Ewert für die Moderation der Workshops und bei allen Teilnehmenden.

Funding  This study was funded in part by German Research Foundation, DFG (zeroCUTS, project number 398051144), by Federal Ministry of Education and Research, BMBF (DiTriMo, funding code 05M22KTA), and by Climate Change Center Berlin Brandenburg (Citizens’ response to sustainable mobility and infrastructure scenarios for Berlin, funding code CCC2022_09) with funds of Berlin Senate Department for Science, Health, Care and Equality.

Competing interests  The authors declare no competing interests.

Research data

Kreuschner, Moritz; Nagel, Kai; Schlenther, Tilmann; Bonatz, Nora; Mostofi, Hamid; Dienel, Hans-Liudger (2023): Ergänzendes Material Dekarbonisierung des Verkehrssektors in Berlin – Bürger:innengutachten zu wissenschaftlich erstellten Szenarien. Berlin: Technische Universität Berlin. https://doi.org/10.14279/depositonce-19472

Literatur

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Ewert, Ricardo; Grahle, Alexander; Martins-Turner, Kai; Syré, Anne; Nagel, Kai; Göhlich, Dietmar (2021): Electrification of urban waste collection. Introducing a simulation-based methodology for technical feasibility, impact and cost analysis. In: World Electric Vehicle Journal 12 (3), S. 122. https://doi.org/10.3390/wevj12030122

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VSP – Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik (2023): Sounding Board – Berlin. Berlin: TU Berlin. Online verfügbar unter www.vsp.berlin/sounding-board, zuletzt geprüft am 16. 01. 2023.

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Autor:innen

Moritz Kreuschner

ist am Fachgebiet ‚Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik‘ an der Technischen Universität Berlin tätig und befasst sich mit der Modellierung und Simulation von Verkehr mit einem Fokus auf Dekarbonisierung des Verkehrssystems.

Nora Bonatz

ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl ‚Arbeitslehre/Technik und Partizipation‘ an der Technischen Universität Berlin tätig und befasst sich unter anderem mit Methoden, Prozessen und Techniken der Bürgerbeteiligung.

Tilmann Schlenther

ist am Fachgebiet ‚Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik‘ an der Technischen Universität Berlin tätig und befasst sich mit der Modellierung und Simulation von Verkehr mit einem Fokus auf Dekarbonisierung des Verkehrssystems.

Dr. Hamid Mostofi Darbani

ist als Senior Researcher am Lehrstuhl ‚Arbeitslehre/Technik und Partizipation‘ an der Technischen Universität Berlin tätig und befasst sich unter anderem mit Methoden, Prozessen und Techniken der Bürgerbeteiligung.

Prof. Dr. Hans-Liudger Dienel

ist Leiter des Lehrstuhls ‚Arbeitslehre/Technik und Partizipation‘ an der Technischen Universität Berlin und befasst sich unter anderem mit Methoden, Prozessen und Techniken der Bürgerbeteiligung. Zudem ist er Gründer und Geschäftsführer des nexus Instituts für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung.

Prof. Dr. Kai Nagel

ist Leiter des Fachgebietes ‚Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik‘ an der Technischen Universität Berlin und befasst sich mit der Modellierung und Simulation von Verkehr mit einem Fokus auf Dekarbonisierung des Verkehrssystems.