Book review: Vetter, Andrea (2023): Konviviale Technik. Empirische Technikethik für eine Postwachstumsgesellschaft

Karen Kastenhofer*, 1

* Corresponding author: karen.kastenhofer@oeaw.ac.at

1 Institut für Technikfolgen-Abschätzung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, AT

© 2024 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 33/2 (2024), S. 68–69, https://doi.org/10.14512/tatup.33.2.68

Published online: 28. 06. 2024

Vetter, Andrea (2023):
Konviviale Technik. Empirische Technikethik für eine Postwachstumsgesellschaft.
Bielefeld: transcript Verlag.
446 pp.,
40 € (print)/OA (pdf),
Print-ISBN 978-3-8376-5354-0
Open access PDF-ISBN 978-3-8376-5354-4

Kann Technik auch anders?

Das Nachdenken über andere Technik ist nicht neu; es scheint jedoch einer rhythmischen Konjunktur zu folgen, deren Amplitudenlänge von etwa 50 Jahren jeweils lang genug ist, um vorangegangene Ansätze erst durch Wiederentdeckung und Neuaneignung in die jeweilige Gegenwart zu holen. Dies ist auch eines der Angebote, das Andrea Vetters äußerst lesbare Monographie zu „Konvivialer Technik“ macht. Zu den von ihr mit einem Fokus auf Deutschland zusammengefassten und diskutierten ‚heterodoxen Technikkonzeptionen‘ zählen jene der 1920er- und 1930er-Jahre aus dem Umfeld von Lebensreform- und Naturschutzbewegungen ebenso wie jene der 1970er- und 1980er-Jahre, denen Überlegungen von Martin Heidegger, Arnold Gehlen oder Jacques Ellul vorangegangen waren. Insbesondere bezieht sich Vetter auf Konzeptionen ‚sanfter Technik‘, ‚radikaler Technik‘, ‚angepasster Technik‘ und ‚emanzipatorische Technik‘, von ‚Bionik‘, ‚Lowtech‘, ‚Permakultur‘ und ‚Open Source Hardware‘, und, wesentlich und namensgebend, auf Ivan Illich’s ‚konviviale Werkzeuge‘ (Illich 1973).

Ringen um eine andere Moderne

Mit allen von der Autorin ins Rennen geführten heterodoxen Techniken teilt das Buch einen grundsätzlich gesellschaftskritischen Impetus. Dabei betont Vetter, dass es nicht zwingend und wohl eher gar nicht um eine Abwendung von der Moderne, also ein anti-modernistisches und damit anti-rationales wie auch konservatives oder romantisches Programm ginge. Vielmehr sei ihre Konzeption als Teil eines Ringens um eine andere Moderne zu sehen. Diese andere Moderne verortet sie in Degrowth- und Postgrowth-Bewegungen ebenso wie in De- und Post-Kolonialismus, bei ökofeministischen wie auch postmodernen Theoretiker:innen von Rosi Braidotti über Carolyn Merchant bis Donna Haraway und María Puig de la Bellacasa. Mit dieser Fülle und Dichte an Bezügen bleibt manches notgedrungen auch mehrdeutig, manche vorab errungene Klarheit verwischt sich durch spätere Aussagen wieder. Insbesondere die Spannung zwischen modernem und postmodernem Programm, zwischen einem Bekenntnis zu rationaler Argumentation einerseits (z. B. S. 151) und dem Austausch der Leitfigur eines „rational man“ durch eine:n „relational wo/man“ andererseits (S. 68) kann nicht gänzlich aufgelöst werden. Die Autorin selbst meint mit Bezug auf Latour (2008, S. 33), dass die Frage, „[ob] dieses Umdenken nun ‚oppositionelle Postmoderne‘, ‚nicht-modern‘ oder ‚post-dekonstruktivistisch‘ genannt [werde]“, „beruhigt unter ‚humanistische Science Wars‘ […] abgeheftet werden“ könne (S. 67). Ich kann die in diesem Zitat durchklingende epistemisch-ontologische Müdigkeit nachvollziehen, teile die Einschätzung vor dem Hintergrund gegenwärtiger post-faktischer Verwerfungen aber nicht.

Als Besonderheit konvivialer Technik im Vergleich zu anderen alternativen Ansätzen markiert Vetter, dass erstere sich aus gleich drei kritischen Traditionen speise, während andere nur maximal zwei dieser kritischen Positionen kombinierten: erstens „Sozialkritik an Ungleichheit und Zwängen bestehender Verhältnisse“, zweitens „Ökologiekritik an Zerstörungspotenzial der eingesetzten Technologien“ und drittens „Zivilisationskritik an der Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Mitwelt“ (S. 198). Ihr Konzept hat damit sowohl erkenntnistheoretischen, als auch normativen und politischen Anspruch (S. 87). Allen drei Anteilen wird Vetter auch in ihrem Buch gerecht. Sie erinnert an die Entwicklung des Begriffs des ‚alternativen Technoimaginären‘ in den 1990er-Jahren, denkt ihn aber im Kontext neuerer Arbeiten zu ‚sozialen Imaginären‘ weiter und verknüpft ihn mit gegenwärtigen politischen Forderungen nach Dekolonisierung und Degrowth.

Den sehr konkreten praktischen Anspruch ihres Ansatzes etabliert die Autorin nicht zuletzt mit ihrer ‚Matrix für konviviale Technik‘. Vier Ebenen von Technik (Materialien, Fertigung, Nutzung und Infrastruktur) werden entlang von fünf Dimensionen von Konvivialität (Verbundenheit, Zugänglichkeit, Anpassungsfähigkeit, Bio-Interaktivität und Angemessenheit) betrachtet. Durch weitere Ausarbeitung der entsprechenden 20 Felder, bereitet Vetter im Anhang den Weg auch für vergleichende und quantitative Analysen vor. Die Anwendung ihrer Konzeption illustriert sie ausführlich entlang programmatischer Fallstudien zur Komposttoilette und zum Lastenfahrrad. Der Fokus auf „Technik, die nicht ‚innovativ‘ ist, sondern grundlegend“, ist bewusst gewählt, um einen „Gegenspieler zu jener Technik [anzubieten], die in den Gesellschaftswissenschaften momentan Konjunktur hat als Thema und Forschungsfeld“. Denn „99,9 Prozent der Menschen – sowohl in Europa als auch und erst recht weltweit – verfügen nach wie vor nicht über optogenetische Hirn-Schnittstellen oder über Körperteile, die als Touchscreen funktionieren. Aber 100 Prozent aller lebenden Menschen müssen täglich Blase und Darm entleeren, und der technische Umgang mit dieser physiologischen Tatsache bleibt ein weltweit ungelöstes Problem“ (alle Zitate: S. 40/41); ein Problem, das sich vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen, abnehmender ökosystemarer Resilienzen und ungelöster Verteilungsfragen laufend weiter zuspitzt.

TA, wie hältst Du’s mit alternativer Technik und gesellschaftlichen Gegenentwürfen?

Die Lektüre praktisch jeden Kapitels dieses Bandes bietet eine Grundlage für inspirierende Fragen auch in Bezug auf Technikfolgenabschätzung, ihre Konzeption und ihre Praxis. Schon allein der weite Reflexionskontext, den die Autorin aufmacht, historisch wie auch paradigmatisch und technisch, fordert die Lesenden heraus, eigene Vorannahmen und Gewohnheiten zu hinterfragen. Die ambivalente Rolle von Technikfolgenabschätzung (TA) in den Hype-Zyklen neuer Technologien wurde bereits im TATuP Special topic 32/3 (2023) thematisiert. Wäre hier nicht nur reflektierteres Vorgehen in der TA bezüglich neuer Technologien, sondern gar eine thematische Neuausrichtung auf ‚Alltagstechniken‘ angebracht? Eine Bewegung in eine solche Richtung lässt sich zumindest an einem neuen Trend zu Reallaboren ablesen, der auch in der TA-Landschaft deutlich Fuß fasst.

Wie sieht es mit der funktionalen Bestimmung von TA aus? Ist es unsere Kernaufgabe bestehende (Hoch-)Technologien zu ‚reparieren‘, indem wir negative Effekte zu minimieren helfen, noch bevor konkrete Anwendungen im Einsatz sind? Oder könnte einem Fokus auf ‚gutes Leben‘ durch ‚gute Technik‘ besser gedient sein, wenn wir uns darum bemühen, wo und wie ‚das Gute‘ durch Technik in die Welt kommt? Auch hier gibt es bereits Ansätze, insbesondere die Schule des constructive technology assessment (cTA). Und doch sind cTA und Vetters ‚konviviale Technik‘ nicht deckungsgleich.

Leider bezieht sich die Autorin zwar an mehreren Stellen kursorisch auf TA, der es eben „nicht um die Entwicklung einer anderen Technik und um Kriterien dafür, sondern um die Bewertung der Auswirkungen bestehender oder sich entwickelnder Technik“ ginge (S. 357), nennt aber weder cTA (oder real-time und upstream TA), noch die aktuelleren Reallabore und kann hier somit auch keine weitere Paradigmenarbeit anbieten. Ich möchte ihr aber darin Recht geben, dass es um Leitlinien-Diskussionen unangenehm still geworden ist, seit die allumfassende und (scheinbar) allseits akzeptierte Leitlinie ‚nachhaltiger Entwicklung‘ sich als willkommener Schleier über Interessenskonflikte und Weltdeutungskämpfe gelegt hat. Technikdebatten sind aber auch weiterhin mitunter „Geltungskonflikte von Weltbildern“ (Huber 1989, S. 10, zitiert nach S. 36). Zugleich wird so mancher TA-Diskurs derzeit durch neue Leitbilder wie jenes des ‚digitalen Humanismus‘ bereichert.

In Folge dieser reflexiven Leerstelle bleibt auch unbeachtet, inwiefern Institutionalisierungsformen und Rollen klassischer TA mit ihrer gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit wechselwirken. Wer wären Auftraggeber und Adressaten einer Arbeit an alternativer Technik im Sinne eines radikal anderen Moderne? Kann eine im akademischen Mainstream institutionalisierte TA, deren Auftraggeber und Adressaten Parlamente und Regierungen sind, solche Arbeit an gesellschaftlichen Gegenentwürfen leisten? Welche zusätzliche Explikation und Legitimation, welche Qualitätssicherung bräuchte es bei voller Anerkennung nicht nur ökologie-, sondern auch sozial- und zivilisationskritischen Gehalts? Hier scheinen zwar einerseits der Ruf nach Alternativen immer deutlicher und auch – zumindest als solcher – immer mehrheitsfähiger und ubiquitärer zu werden (aus der Wissenschaft und von Bürger:innenräten, vom ‚Globalen Norden‘ bis zum ‚Globalen Süden‘), die Übersetzung in geeignete Institutionen und institutionelle Logiken aber in großen Zügen noch unklar. In diesem Sinne empfehle ich die Lektüre wärmstens allen Theoretiker:innen und Praktiker:innen der TA als Einladung anhand der vorgestellten konzeptionellen Millimeterarbeit eigene Theorien, Praxen, Ansprüche und Visionen weiterzuentwickeln.

Literatur

Huber, Joseph (1989): Technikbilder. Weltanschauliche Weichenstellungen der Technologie und Umweltpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Illich, Ivan (1973): Tools for Conviviality. London: Calder & Boyars.

Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.