Book review: Gärditz, Klaus Ferdinand (2023): Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht

Jessica Nuske*, 1, 2

* Corresponding author: jnuske@uni-bremen.de

1 Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bremen, DE

2 Institut Arbeit und Wirtschaft, Universität Bremen, Bremen, DE

© 2024 by the authors; licensee oekom. This Open Access article is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY).

TATuP 33/2 (2024), S. 72–73, https://doi.org/10.14512/tatup.33.2.72

Published online: 28. 06. 2024

Gärditz, Klaus Ferdinand (2023):
Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht.
Stuttgart: Hirzel.
232 Seiten,
24 €,
ISBN 978-3-7776-3300-8

Die Fragen nach der gesellschaftlichen Position, Relevanz und Verantwortung der Wissenschaft im Sinne einer gemeinwohlorientierten Gesellschaftsgestaltung mit dem Ziel, produktiv in die Gesellschaft zu wirken, werden immer wieder im neuen Gewand diskutiert. Auch das Buch „Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht“ von Klaus Ferdinand Gärditz, welches 2023 im Hirzel-Verlag erschien, reiht sich ein in vielzähligen Abhandlungen über das Verhältnis von Wissenschaft und praktischen Umsetzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse. Es hebt sich aber insofern von wissenschaftssoziologischen, wissenschaftstheoretischen oder wissenschaftshistorischen Zuschnitten ab, als dass der Autor qua disziplinärer Herkunft die Fragestellungen aus rechtswissenschaftlicher Perspektive diskutiert. Damit bereichert er die Debatten um juristisch orientierte Abhandlungen über die Rolle des Rechts zum Schutze der Wissenschaft vor einer Instrumentalisierung durch die Politik sowie einer bewusst herbeigeführten Selbstpolitisierung. Im Lichte zunehmender inner- wie außerwissenschaftlichen Erwartungen an die Wissenschaften, an der Bearbeitung sogenannter ‚großer gesellschaftlicher Herausforderungen‘ mitzuwirken (WR 2020; European Commission 2023), gewinnt eine solche Abhandlung an Relevanz.

Wissenschaft im Wechselspiel mit Politik und Recht

Das Buch widmet sich dem Vorhaben, Fragen nach dem Selbstverständnis sowie der Rolle und Funktion von Wissenschaft möglichst fachübergreifend zu diskutieren und dabei im Stil einer essayistischen Streitschrift die vielfältigen Fallstricke der Politisierung offenzulegen. Anhand vier inhaltlicher Abschnitte erörtert der Autor die facettenreichen Arten, in denen Politik, Recht und Wissenschaft aufeinandertreffen – vom Sachverständigen bis zur Professorin in der Talkshow, von der Grundlagenforschung über anwendungsorientierte Ressortforschung und wissenschaftsgeleiteten Aktivismus. Dabei nimmt Gärditz stets Bezug auf rechtlich verankerte Regelsetzungen zur Wissenschaftsfreiheit und deren Auslegungen – wobei im ersten Abschnitt die Genese dieses Grundrechts und seine Aktualität am Beispiel der Corona-Pandemie beschrieben wird. Der zweite Abschnitt ist den vielfältigen Rollenfunktionen und -verständnissen von (wissenschaftlichem) Wissen in gesellschaftlichen Subsystemen gewidmet. Ein besonderes Augenmerk wird sodann der Wissenschaft als politisches Argument (Abschnitt drei) und als rechtliches Argument (Abschnitt vier) zuteil, wo die vielfältigen Formen der Politisierung von Wissenschaft und der Rolle des Rechts in seiner „Schutzfunktion“ (S. 146) der Wissenschaft umfangreich erörtert und evaluiert werden.

Wissenschaft als Hoflieferant?

Worum es in dem Buch erstaunlicherweise nicht geht, ist, trotz Ankündigung im Untertitel, inwiefern die ‚Politik‘ am Hoflieferantentum zerbricht – ganz im Gegenteil erweckt der Autor vielmehr den Eindruck, dass es die Politik ganz wunderbar versteht, sich an der Wissenschaft zu bedienen und diese für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren. Der Begriff des ‚Hoflieferanten‘ bleibt auch gewagt wage. Gärditz kritisiert die selbstbezogene akademische Elite und wird dabei des Öfteren unnötig polemisch. So unterstellt er bspw., Kultur- und Sozialwissenschaften würden lediglich in „intellectually gated communities“ (S. 95) einer akademischen Bohème in großer Selbstgefälligkeit und ganz ohne kritisches Potenzial (wegen angeblich mangelnder Standards der Beweisführung) daher plaudern. Der argumentative Mehrwert solch despektierlichen Äußerungen über weite Teile der Gesellschaftswissenschaften wird nicht offenkundig. Vielmehr wird deutlich, dass der Autor sich wenig mit den über Jahrzehnte hinweg geführten selbst-reflexiven Debatten um die gesellschaftliche Selbstpositionierung der Gesellschaftswissenschaften auseinandergesetzt hat, wenn seine Schlussfolgerungen kaum über die Erkenntnisse der Verwendungsforschung der 1960er- bis 1980er-Jahre hinausgehen. Denn bereits dort wurde umfänglich herausgearbeitet, dass eine umstandslose Indienstnahme wissenschaftlicher Erkenntnis durch außerwissenschaftliche (und insbesondere politische) Systeme nicht zu erwarten ist und vielmehr das differenzierungstheoretisch begründbare ‚cherry picking‘ wissenschaftlicher Aussagen im Dienste politischer Interessen dominiert. Oder wie es Beck und Bonß (1989, S. 24) treffsicher formulieren: „Die Verwendung der Ergebnisse hat nichts mit den Ergebnissen zu tun, die verwendet werden.“

Wissenstransfer zwischen Expertise, Meinung und Aktivismus

Wenngleich Gärditz den langwierigen Debatten hinsichtlich der politischen Verwendung wissenschaftlichen Wissens wenig Neues hinzufügen kann, gelingt es ihm durch seine differenzierte Herangehensweise an Rolle und Position des Rechts innerhalb dieser Kontroversen, die Komplexität des Wissenschafts-Praxis-Verhältnis eindrucksvoll zu veranschaulichen. Insbesondere durch die Illustration der Argumente mittels fiktiver wie tatsächlicher Streitfälle um die Wissenschaftsfreiheit illustriert er gekonnt und unterhaltsam, wo das Gesetz die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Expertise und Meinungsäußerungen zieht – und wie sich diese Grenzziehungen dann doch unterschiedlich in der Rechtsprechung niederschlagen können. Er macht so deutlich, dass die Wissenschaft, insbesondere, wenn sie sich Themen von politischer Relevanz widmet, durchaus sehr fragil sein kann und vor Instrumentalisierungsversuchen der Politik genauso wenig gefeit ist wie vor dem (politischen) Geltungsdrang einiger Wissenschaftler*innen. Zurecht nimmt er sodann auch die Wissenschaftscommunity in die Verantwortung, die öffentlichkeitswirksamen Selbstinszenierungen von Kolleg*innen nicht peinlich berührt zu verdrängen, sondern vielmehr offen und klar zu kommunizieren, wie es um den Geltungsbereich bestimmter wissenschaftlicher Thesen bestellt ist und diese nicht mit vermeintlich absoluten Wahrheiten zu verwechseln.

Wissenschaft als Stachel im Fleisch der Macht – aber wie?

Gärditz zeigt in seinem Buch, wie schwer es sein kann, den Balanceakt zwischen der Wahrung epistemischer Distanz und (weitgehender) Objektivität in den Wissenschaften zu vollziehen und weist auf ihre gesellschaftliche Verantwortung hin, als „Gegenspielerin der Politik“ (S. 61) agieren zu müssen. Denn dort sieht er die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft: Sie solle ein „Stachel im Fleisch der Macht“ (S. 94 ff.) sein – und das, obwohl wissenschaftliches Wissen ihm zufolge und entgegen der Erkenntnisse aus zahlreichen wissenschaftlichen Methoden des Wissenschaftstransfers in der Technikfolgenabschätzung (TA) zu komplex für gesellschaftliche Debatten sei; außerdem mangele es an spezifischem politischem Handlungswissen. Leider wird der Autor wenig konkret, wenn es darum geht, konstruktive Wege aufzuzeigen, wie der Wissenschaft dieser Balanceakt gelingen kann. Eine Möglichkeit sieht Gärditz darin, den Bürger*innen wissenschaftliche Erkenntnisse an die Hand zu geben, damit jene den Staat zwingen können, das politische Handeln (besser) zu rechtfertigen. Aus Perspektive der mitunter partizipativ orientierten TA ginge es wohl eher darum, Bürger*innen die Kompetenz zu vermitteln, sich faktenbasierte Meinungen über aktuelle technische Entwicklungen zu bilden und diese wiederum in ihrem gesellschaftlichen Handeln wirksam werden lassen zu können. Wichtig ist für den Autor in jedem Fall, dass die Wissensvermittlung nicht über Talkshows oder anderen (sozialen) Medien gelingt – diese seien in seinen Augen selten geeignet, um wissenschaftliches Wissen hinreichend verständlich zu vermitteln, ohne dass dies mit einer der Wissenschaft unverträglichen Komplexitätsreduktion einherginge. Vielmehr braucht es ihmzufolge eine ‚verbesserte‘ Wissenschaftskommunikation nach einheitlichen Standards. Entsprechend kurz fällt dann auch das Fazit aus, welches all diejenigen Leser*innen enttäuscht, welche auf konkrete Vorschläge hinsichtlich einer ‚aufklärerischen‘ öffentlichen Rolle der Wissenschaft gehofft hatten. Es bleibt jedoch der unbedingt ernstzunehmende Appell an Wissenschaftler*innen sich damit auseinanderzusetzen, wie politische Willensbildung funktioniert und wie fragil wissenschaftliches Wissen im politischen Diskurs tatsächlich sein kann. Gärditz mahnt dementsprechend zum verantwortungsbewussten und selbstkritischen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen und der eigenen Rolle als Wissenschaftler*in.

Literatur

Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (1989): Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaft und Praxis. In: Ulrich Beck und Wolfgang Bonß (Hg.): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–45.

European Commission (2023): Futures of science for policy in Europe. Scenarios and policy implications. Online verfügbar unter https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/424ea70a-640c-11ee-9220-01aa75ed71a1, zuletzt geprüft am 13. 05. 2024.

WR – Wissenschaftsrat (2020): Anwendungsorientierung in der Forschung. Positionspapier. Online verfügbar unter https://www.wissenschaftsrat.de/download/2020/8289-20.html, zuletzt geprüft am 12. 03. 2024.