Die Interaktion von Mensch und autonomer Technik in soziologischer Perspektive

Schwerpunkt: Parasoziale Beziehungen mit pseudointelligenten Softwareagenten und Robotern

Die Interaktion von Mensch und autonomer Technik in soziologischer Perspektive

von Johannes Weyer und Robin Fink, TU Dortmund

Ausgehend von zunehmend autonom agierender Technik wird gezeigt, dass die von der Actor-Network-Theory inspirierte Idee, Mensch und Technik als symmetrische Mitspieler zu konzipieren, auch im Rahmen einer soziologischen Handlungstheorie betrachtet werden kann. Das entwickelte Modell, das auf Hartmut Essers Modell soziologischer Erklärung basiert, beschreibt das „Mit-Handeln“ von Technik und operationalisiert dieses in einer Weise, dass die Frage der Handlungsträgerschaft empirisch untersucht werden kann. Der praktische Nutzen des Modells wird am Beispiel eines selbst programmierten Fahrsimulators demonstriert. Wir halten fundierte soziologische Beiträge zur TA autonomer Technik für besonders fruchtbar, wenn die Soziologie über plausible und insbesondere empirisch validierbare Modelle der Interaktion von Mensch und Technik verfügt. Der vorliegende Artikel möchte dazu einen Beitrag leisten.

1     Autonome Technik – (k)ein Thema der Soziologie?

Die Frage nach dem Stellenwert von Technik in sozialen Interaktionsprozessen hat in der Soziologie eine lange Tradition. Seit die Technik jedoch mehr tut, als mechanisch auf die Befehle menschlicher Programmierer beziehungsweise Operateure zu reagieren, sondern selbsttätig Aktionen ausführt wie beispielsweise das Filtern von Spam-Mails oder das Steuern von Flugzeugen, hat die Debatte neuen Schwung gewonnen. Im Unterschied zum Diskurs der 1980er Jahre über künstliche Intelligenz, der sich vorrangig mit den kognitiven Kapazitäten von Computern befasste, geht es nunmehr zunehmend um die Frage der Handlungsträgerschaft nicht-menschlicher Agenten, also um deren Fähigkeit, etwas Praktisches zu leisten (wie das Öffnen einer Tür bei Annäherung einer autorisierten Person) oder beim menschlichen Gegenüber etwas zu bewirken (wie die Revision des Vorhabens, an der nächsten Kreuzung links abzubiegen). Autonome technische Systeme treffen offenkundig Entscheidungen und vollziehen Handlungen in einer Weise, die bislang ausschließlich in der Verantwortung menschlicher Akteure lagen.

Für die Soziologie und insbesondere die soziologische Handlungstheorie bedeutet dies eine große Herausforderung; und das beliebte Verfahren, dieser Herausforderung durch das Setzen von Anführungszeichen für „autonome“ Technik zu begegnen, erscheint eher als eine hilflose Reaktion denn als eine zukunftsweisende Strategie soziologischer Theoriebildung. Wie andere wissenschaftliche Disziplinen benötigt jedoch auch die Soziologie eine soziologische Theorie der Interaktion von Mensch und autonomer Technik, um diesen Gegenstand adäquat verstehen, beschreiben und modellieren zu können. Erst mit Hilfe einer derartigen Theorie wäre sie in der Lage, mikrosoziologisch fundierte Aussagen über mögliche gesellschaftliche Folgen des Einsatzes und der Nutzung autonomer Technik in praktischen Anwendungszusammenhängen zu treffen.

Trotz verdienstvoller Vorarbeiten von Joseph Weizenbaum, Sherry Turkle, Lucy Suchman und anderen (s. zusammenfassend Fink, Weyer 2011) hat erst Bruno Latours Behauptung einer symmetrischen Ontologie, die menschliche Akteure und nicht-menschliche Aktanten als gleichberechtigte Mitspieler auffasst, geholfen, die strikte Trennung von Technik und Gesellschaft zu hinterfragen und in letzter Konsequenz sogar aufzulösen (Latour 1988; Latour 1996; Latour 1998). Die Hausaufgaben, die Latour damit der (Technik-)Soziologie aufgibt, bestehen u. a. darin, methodisch stimmige Modelle hybrider Akteurkonstellationen zu entwickeln, die aus einer Verschränkung von menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Aktanten bestehen.

2     Das Modell soziologischer Erklärung hybrider Systeme

Wir nehmen Latours Provokation einer generalisierten Symmetrie zum Anlass, die Frage der Handlungsträgerschaft von Technik empirisch zu untersuchen. Dabei geht es uns nicht um das „Ob“, sondern um das „Wie“, also nicht um die Frage, ob Menschen und Maschinen miteinander interagieren, sondern wie diese Interaktion konkret funktioniert – und wie diese Interaktion mit Hilfe soziologischer Kategorien beschrieben werden kann. Dabei beziehen wir uns unter anderem auf Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer, die bereits 2002 den Vorschlag unterbreitet hatten, „die Frage nach der agency von Technik als offene empirische Frage“ (2002, S. 50) zu behandeln. Auch Lucy Suchman ruft in der Neuauflage von „Plans and Situated Actions“ dazu auf, kategoriale Debatten über die Frage, „ob Menschen oder Maschinen gleich oder verschieden sind“ (2007, S. 2), zu vermeiden und „empirische Untersuchungen der konkreten Praktiken“ (dies., S. 1) durchzuführen, mittels derer raumzeitliche Ordnungen geschaffen werden, welche die Menschen und die Artefakte zueinander positionieren.

Wichtig ist für uns die Erkenntnis, dass die Bedeutungen, die Artefakten beigemessen werden, durch soziale Praktiken konstruiert werden. Damit rücken ontologische Fragen in den Hintergrund und Zuschreibungsprozesse in den Vordergrund. Ähnlich wie Suchmann oder Rammert und Schulz-Schaeffer interessieren uns v. a. die Praktiken und die Mechanismen, mittels derer die Menschen der Technik Handlungsfähigkeit zuschreiben.[1]

Methodenwahl

Bei der Suche nach einer empirischen Methode der Erforschung hybrider Systeme gehen wir über Latour hinaus, da er seine Argumentation ausschließlich auf illustrative Einzelbeispiele von Alltagstechnik (Hotelschlüssel etc.) stützt und die Frage nach der methodischen Ausrichtung möglicher empirischer Studien weitgehend offen lässt.[2] Als Methode zur Erforschung von Zuschreibungsprozessen bieten sich qualitative Verfahren der Feldforschung an, wie sie beispielsweise Antonia Krummheuer (2010) bei ihrer Beobachtung der Interaktion mit virtuellen Agenten angewendet hat. Wir wählen indes einen Ansatz, in dem wir den Rahmen, in dem sich die Interaktion von Mensch und autonomer Technik abspielt, selbst konstruieren. Dies hat Vor- und Nachteile. Der nicht zu leugnende Nachteil besteht darin, dass man ein künstliches Szenario schafft und durch dessen Konfiguration das Ergebnis präformiert. Der zentrale Vorteil besteht jedoch darin, dass man die Bedingungen der Experimente kontrolliert variieren kann. Zudem versetzt uns dieses Vorgehen in die Lage, soziologische Theorien in einer Weise zu implementieren, die es möglich macht, deren Brauchbarkeit für die Analyse hybrider Interaktion zu testen. Im Gegensatz zu qualitativen Beobachtungen im Feld, die die soziologisch relevanten Aspekte durch gekonnte Analyse aus den Daten ex post herausdestillieren müssen, wählen wir also einen – gewissermaßen „brachialen“ – Ansatz, soziologisches Wissen über Interaktion als Input in die Interaktionsmodelle hineinzustecken, um damit Versuche durchführen zu können, in denen wir nicht nur die realen Interaktionen, sondern auch die Zuschreibungen beobachten, aufzeichnen und analysieren können.

Theoretischer Bezugsrahmen

Unsere Modellierung hybrider Systeme rekurriert auf das Modell soziologischer Erklärung (MSE) von Hartmut Esser (1991, 1993), das wir zum Modell soziologischer Erklärung hybrider Systeme (HMSE) erweitert haben (Fink, Weyer 2011). Wir wollen zeigen, dass es mit Hilfe der soziologischen Handlungstheorie möglich ist, das Mit-Handeln von Technik in einer Weise zu modellieren, die auf den Stand der techniksoziologischen Forschung rekurriert und zugleich empirische Untersuchungen zur Interaktion von Mensch und autonomer Technik ermöglicht.

Das Essersche MSE beansprucht, emergente Effekte auf der Makroebene durch Bezug auf die Handlungen von Akteuren auf der Mikroebene erklären zu können. Essers Konzept der soziologischen Tiefenerklärung basiert auf dem bekannten Dreischritt von James Coleman (1995) und verknüpft die Logik der Situation, der Selektion und der Aggregation zu einem allgemeinen Erklärungsmodell. Dieser integrative Ansatz, der eine Mikrofundierung sozialer Strukturdynamiken postuliert, hat sich bislang jedoch ausschließlich auf Entscheidungen und Handlungen von menschlichen Akteuren bezogen.

Wir vermuten jedoch, dass dieser Ansatz sich auch für die Analyse hybrider Interaktion eignet. Und hier kommt die Latoursche Symmetriethese ins Spiel, die wir derart operationalisiert haben, dass wir den nicht-menschlichen Aktanten mit Hilfe der Theorie der subjektiven Nutzenerwartung (SEU = Subjectively Expected Utility) in ähnlicher Weise modelliert haben wie den menschlichen Akteur. Für Letzteren gilt, Esser zufolge, dass aus einer Menge zur Verfügung stehender Handlungsoptionen stets die Aktion mit dem größten subjektiven Nutzen ausgewählt wird. Von konventionellen Rational-choice-Konzepten unterscheidet sich dieser Ansatz durch die subjektive Komponente: Während der eine Akteur stets vor der roten Ampel anhält, fährt der andere nachts, wenn keiner guckt, schon mal bei Rot los. Das SEU-Modell kann beide Entscheidungen als subjektiv rationales Entscheidungs-Verhalten modellieren, und zwar vor dem Hintergrund unterschiedlicher Präferenzen und Erwartungen der beiden Akteure.

3     Implementierung des Modells als Computersimulation am Beispiel Fahrerassistenz

Die Handlungslogik der Mikro-Ebene haben wir im Rahmen der interaktiven Computersimulation SIMHYBS[3] auch für die nicht-menschlichen Aktanten implementiert. Wir haben also Aspekte der Ansätze von Esser, Latour sowie Rammert und Schulz-Schaeffer auf eine unkonventionelle Weise kombiniert – wohl wissend, dass sich die Nützlichkeit dieser theoretischen Vorannahmen erst später aus der Plausibilität der Ergebnisse ergeben kann. Die Grundidee von SIMHYBS besteht darin, das autonome technische System so zu konstruieren, dass es – gemäß SEU-Prinzipien – rationale Wahlhandlungen trifft, die von der aktuellen Konfiguration des Systems, den eigenen Zielen und Präferenzen sowie der momentanen Situation, so wie die Sensorik sie wahrnimmt, geprägt sind. Ein Bremsassistent wird demzufolge in einer brenzligen Situation die Entscheidung „Bremsen“ treffen und nicht eine andere Aktion wie „Beschleunigen“, mit der sich das System, gemessen an den implementierten Präferenzen (z. B. Schadens-Vermeidung), schlechter stellt.

Die nicht-menschlichen Komponenten von SIMHYBS agieren im Rahmen ihrer (technischen) Möglichkeiten also ebenfalls nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung. Sie interagieren zugleich in jeder Handlungssequenz mit dem menschlichen Gegenüber, und zwar derart, dass die Handlungen beider Mitspieler einen aggregierten Effekt auf der Meso-Ebene des hybriden Systems erzeugen (also z. B.: der Bremsassistent warnt, der Fahrer reagiert nicht, das Fahrzeug fährt folglich mit unverminderter Geschwindigkeit weiter). Die beiden Mitspieler generieren also ein Gesamtverhalten des hybriden Systems, das ein außenstehender Betrachter kaum noch in die Teilbeiträge zerlegen kann. Diese Meso-Ebene des hybriden Systems haben wir also zwischen der Mikro- und der Makro-Ebene zusätzlich eingezogen – wiederum unter Bezug auf die Erweiterung des MSE zu einem „Mehr-Ebenen-Modell“ durch Esser (1993, S. 113).

Das hybride System der Meso-Ebene interagiert dann wiederum mit anderen Systemen, z. B. von Menschen gesteuerten Fahrzeugen, anderen hybriden Fahrzeugen oder vollautomatischen Fahrzeugen. Auf diese Weise entstehen aggregierte Effekte auf der Makro-Ebene des Systems Straßenverkehr wie beispielsweise Verkehrsstaus. Dieser aktuelle (und sich dynamisch verändernde) Systemzustand geht dann wiederum als Randbedingung des Handelns in den nächsten Schritt der Handlungssequenz ein, und zwar derart, dass sowohl der menschliche Akteur (mittels des zur Verfügung stehenden Sensoriums) als auch der nicht-menschliche Aktant (mittels der zur Verfügung stehenden Sensorik) die Situation wahrnimmt (Logik der Situation), diese vor dem Hintergrund seiner Ziele und Präferenzen autonom[4] interpretiert und daraus autonom, also unbeeinflusst vom anderen Mitspieler, Entscheidungen ableitet (Logik der Selektion). Diese beeinflussen wiederum in einem zweistufigen Aggregations-Schritt zunächst das Verhalten des hybriden Systems auf der Meso-Ebene und dann wiederum das Verhalten des Systems auf der Makro-Ebene (Logik der Aggregation).

Experimente

Die Versuchsanordnung von SIMHYBS bestand aus einer einfachen Fahraufgabe, in der ein Fahrzeug auf dem Computer-Bildschirm (Abb. 1b) gesteuert und mehrere Aufgaben parallel bearbeitet werden mussten, nämlich Runden machen, die Geschwindigkeit einhalten und Kollisionen mit anderen Fahrzeugen vermeiden (vgl. ausführlich Fink 2008; Fink, Weyer 2011). Das Fahrzeug wurde vom Probanden zusammen mit einem Assistenzsystem gesteuert, wobei der Versuchsleiter (Abb. 1a) unterschiedliche Modi der Aufgabenverteilung einstellen konnte: Mal war der Proband für das Lenken und das Assistenzsystem für das Beschleunigen bzw. Bremsen zuständig, mal war die Verteilung umgekehrt. Es wurden Versuche mit 31 Probanden durchgeführt und aufgezeichnet, die sieben Versuchsläufe (in unterschiedlichen Modi) umfassten; ferner wurden die Versuchspersonen zwischen den Versuchsläufen zu ihren Eindrücken befragt.

Abb. 1:   Screenshot der Simulation SIMHYBS mit Versuchsleiter- und Probanden-Bildschirm

Screenshot der Simulation SIMHYBS

Quelle:   Eigene Darstellung

Aufschlussreich war zunächst die Frage nach der Zuschreibung von Handlungsträgerschaft auf Mensch und Technik. Wir konnten nachweisen, dass die Probanden eine symmetrische Zuschreibung vornahmen, also bestimmten Aktionsbündel die gleiche „Wertigkeit“ zuordneten – egal ob sie selbst oder das Assistenzsystem die Zuständigkeit für dieses Aktionsbündel hatten. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Gültigkeit der Symmetriethese, den wir allerdings weniger im ontologischen Sinne, sondern eher im Sinne des attributionstheoretischen Ansatzes von Rammert und Schulz-Schaeffer (2002) interpretieren: Wir wissen zwar nach wie vor nicht, ob Menschen und Maschinen in einem ontologischen Sinne als gleichwertig anzusehen sind, jedoch können wir mit etwas größerer Bestimmtheit als zuvor behaupten, dass menschliche Akteure ihre nicht-menschlichen Mitspieler (zumindest im Rahmen unseres experimentellen Settings) als ebenbürtige Partner ansehen. Sie schreiben ihnen Handlungsträgerschaft zu – und zwar in einer symmetrischen Weise.

Ein zweiter, für uns überraschender Befund ist die Vermischung von Aktions- und Zieldelegation. Die Versuche waren so konstruiert, dass beide Mitspieler alle drei Ziele (Runden, Geschwindigkeit, Crash-Vermeidung) verfolgen sollten; die Versuchspersonen waren vor Beginn der Versuche hinsichtlich der Zielverfolgung entsprechend instruiert, die Software für das Assistenzsystem entsprechend programmiert. Lediglich die Aktionen (Lenken, Geschwindigkeit-Regulieren) waren bei den verschiedenen Versuchsläufen unterschiedlich verteilt.

Auf die Frage „Welche Ziele verfolgte das Assistenzsystem?“ erhielten wir jedoch je nach Modus extrem unterschiedliche Antworten. Offenbar ging ein großer Teil der Versuchspersonen davon aus, dass mit einer Verteilung der Aktionen auch eine Verteilung der Zuständigkeiten für die Verfolgung der Ziele einhergeht. Sie konstruierten also eine Rollenverteilung, in der sie sich der Verfolgung einzelner Ziele, für die sie eigentlich auch zuständig waren, entledigen konnten. Wenn diese Befunde in weiteren Experimenten bestätigt werden können, hätte dies gravierende Konsequenzen für die Konstruktion von Mensch-Maschine-Interfaces in hochautomatisierten Systemen.

4     Diskussion

Sind wir mit SIMHYBS, der Implementierung des Modells soziologischer Erklärung hybrider Systeme in Form einer Computersimulation, am Ziel vorbeigeschossen? Haben wir das Problem, das wir behandeln wollten, nämlich die Frage der Handlungsträgerschaft bzw. der Intentionalität der Technik, durch eine geschickte Wahl der Prämissen, die u. a. die symmetrische Übertragung des Prinzips der subjektiven Nutzenmaximierung auf nicht-menschliche Akteure voraussetzen, in unzulässiger Weise gelöst?

Wenn man die Handlungsträgerschaft von Technik empirisch untersuchen will und dies in Form von Experimenten, in denen menschliche Versuchspersonen mit autonomen technischen Systemen interagieren (sollen), dann führt unseres Erachtens kein Weg daran vorbei, die Technik als handlungsfähig zu implementieren und dann in Versuchen zu beobachten, a) ob dies funktioniert und b) was dies bei den menschlichen Interaktionspartnern bewirkt.

Ob autonome technische Systeme tatsächlich über Intentionalität und Autonomie verfügen, können und wollen wir damit nicht beantworten. Wir können mit unseren Experimenten aber zeigen, was passiert, wenn wir so tun, als ob dies der Fall wäre. Denn methodologisch hat SIMHYBS einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber bisherigen Ansätzen zur Erforschung hybrider Systeme, die ja stets mit dem Problem zu kämpfen hatten, das die Dinge (z. B. die Muscheln) sich in einer Sprache ausdrücken, die wir nicht verstehen.[5] Angesichts dieser Unzugänglichkeit der Perspektive der Aktanten blieb das Postulat der Symmetrie immer eine abstrakte Forderung; und die Fallstudien der ANT wurden stets aus der Perspektive des fokalen menschlichen Akteurs präsentiert.

Mit SIMHYBS haben wir hingegen erstmals die Möglichkeit geschaffen, nicht nur die Perspektive der menschlichen Mitspieler zu erfassen (mittels Beobachtung, Interview etc.), sondern auch die Entscheidungen und die Aktionen der nicht-menschlichen Mitspieler aufzuzeichnen (durch Protokollieren der Daten). Zudem können wir die Zuschreibungen, welche die menschlichen Probanden vornehmen, mit den aufgezeichneten Daten, aber auch mit den softwaretechnisch implementierten Rollenverteilungen abgleichen. Und hier haben die Experimente mit SIMHYBS die überraschendsten Resultate erzeugt.

Unsere Experimente mit SIMHYBS haben gezeigt, dass es einen Erkenntnisgewinn bedeutet, sich dem Thema „autonome Technik“ auf die beschriebene Weise zu nähern. Wir verfolgen damit nicht das Ziel, einen Beitrag zur Debatte über fundamentale Fragen nach der Intelligenz oder Intentionalität von Technik zu leisten. Wir können jedoch Teilaspekte wie die Symmetrie menschlicher Agenten und nicht-menschlicher Aktanten nunmehr auf Basis experimentell gewonnener Daten diskutieren. Diese basieren auf einem soziologisch fundierten hybriden Handlungsmodell, das durch seinen engen Bezug zur erklärenden Soziologie von Hartmut Esser besonders anschlussfähig an die empirische Sozialforschung ist und somit testbar und kalibrierbar ist. Ob es zulässig und statthaft ist, Theorie-Elemente der Actor-Network-Theorie (Latour), des Modells soziologischer Erklärung (Esser) sowie des attributionstheoretischen Ansatzes (Rammert, Schulz-Schaeffer) in der von uns vorgeschlagenen Weise zu kombinieren, mögen unsere Kritiker entscheiden. Abseits der theoretischen Grabenkämpfe wollten wir lediglich zeigen, dass ein pragmatischer Umgang mit vorliegenden theoretischen Konzepten zu plausiblen und experimentell verwendbaren Modellen führt, die sich für empirische Untersuchungen offener Fragen der Debatte über autonome Technik eignen.

5     Konsequenzen für die TA

Die Abschätzung der Folgen innovativer Technik benötigt zum einen Fachwissen über die Funktionsweise soziotechnischer Systeme, um deren – positive wie negative – Wirkungen abschätzen zu können. Sie benötigt zum anderen den Input von Nutzern und Betroffenen, um Szenarien der technischen wie der gesellschaftlichen Entwicklung zu entwerfen, die eine hohe Realisierungschance haben und auf eine gesellschaftliche Akzeptanz stoßen (Weyer et al. 1997). Wir konzentrieren uns hier auf den ersten Aspekt.

Soziologische Beiträge zur Technikfolgenabschätzung basieren zum großen Teil auf dem Fachwissen anderer wissenschaftlicher Disziplinen, wenn es z. B. um die Risiken der Kontamination durch chemische Produkte geht. Soziologen übernehmen daher gerne die Rolle der Moderatoren von Verfahren partizipativer Technikgestaltung[6] – ein zweifellos löbliches und nützliches Unterfangen, das jedoch die Defizite in Bezug auf eigene, genuin soziologische Beiträge zu einer TA hybrider Interaktion nicht beheben kann.

Soziologische Beiträge zur Abschätzung der Folgen des Einsatzes autonomer Technik in unterschiedlichsten Bereichen sind dann besonders fruchtbar, wenn die Soziologie über plausible und insbesondere empirisch testbare Modelle der Interaktion von Mensch und Technik verfügt. Diese sollten belastbare Aussagen zu den sozialen Prozessen der Interaktion auf der Mikro-Ebene der Mensch-Maschine-Interaktion (sowie zur Meso-Ebene des hybriden Systems) enthalten, die es beispielsweise ermöglichen, die Folgen der Grenzverschiebungen zwischen Mensch und autonomer Technik fundiert einzuschätzen. Mit dem Modell soziologischer Erklärung hybrider Systeme (HMSE) haben wir einen Vorschlag für ein solches Modell unterbreitet, das wir prototypisch in einem experimentellen Setting verwendet haben, welches sich aber prinzipiell auch auf Realsysteme übertragen lässt. Zukünftige Erweiterungen des Modells sollten darüber hinaus empirisch überprüftes Wissen über die Steuerung komplexer Systeme auf der Makro-Ebene enthalten, das es erlaubt, die Wirkungen unterschiedlicher Governance-Modi fundiert zu beurteilen.[7]

Genuin eigenständige Beiträge zur Technikfolgenabschätzung autonomer Technik, die nicht (nur) auf das Wissen der Psychologen, Informatiker, Roboterforscher u. a.m. rekurrieren, sind seitens der Soziologie erst dann zu erwarten, wenn sie über ein theoretisch konsistentes und methodisch fundiertes Modell sozialer Interaktion in hybriden Systemen verfügt, das es ihr erlaubt, die postulierten Zusammenhänge empirisch zu untersuchen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Anmerkungen

[1]  Es ist zu vermuten, dass auf ähnliche Weise auch Menschen Handlungsfähigkeit zugeschrieben wird – aber das ist nicht unser Thema; vgl. dazu Schulz-Schaeffer 2009.

[2]  Auch der offen vorgetragene Methoden-Pluralismus der Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ermuntert uns, bei der Suche nach Methoden zur Erforschung hybrider Systeme keine allzu engen Scheuklappen anzulegen (für einen Überblick über aktuelle Entwicklungen der ANT siehe Gad, Jensen 2010).

[3]  SIMHYBS steht für SIMulation HYBrider Systeme (vgl. Fink 2008).

[4]  Der Entscheidungsprozess jeder der beiden Teilkomponenten vollzieht sich allerdings vor dem Hintergrund vorangegangener Interaktionen zwischen dem menschlichen Akteur und dem nicht-menschlichen Aktanten. Das Ergebnis dieser Interaktion auf der Meso-Ebene fließt zusätzlich in die Situationsdeutung (der nächsten Sequenz) mit ein.

[5]  Das paradigmatische Beispiel der Interaktion mit Muscheln findet sich bei Callon, Law 1989 (vgl. auch Schulz-Schaeffer 2011).

[6]  Für einen Überblick siehe Kurath 2009.

[7]  Erste Ansätze dazu finden sich in Kroniger, Lücke 2010.

Literatur

Callon, M.; Law, J., 1989: On the Construction of Sociotechnical Networks: Content and Context Revisited. In: Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Science Past and Present 8 (1989), S. 57–83

Coleman, J.S., 1995: Grundlagen der Sozialtheorie. Handlungen und Handlungssysteme. Bd. 1. München

Esser, H., 1991: Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schütz und „Rational Choice“. Tübingen

Esser, H., 1993: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt a. M.

Fink, R.D., 2008: Untersuchung hybrider Akteurskonstellationen mittels Computersimulation (Diplomarbeit). Dortmund

Fink, R.D.; Weyer, J., 2011: Autonome Technik als Herausforderung der soziologischen Handlungstheorie. In: Zeitschrift für Soziologie 40/2 (2011), S. 91–111

Gad, Chr.; Jensen, C.B., 2010: On the Consequences of Post-ANT. In: Science, Technology & Human Values 35 (2010), S. 55–80

Kroniger, J.; Lücke, F., 2010: Analyse und Evaluation von Steuerungsmodellen am Beispiel von Verkehrstelematiksystemen (Diplomarbeit). Dortmund

Krummheuer, A.L., 2010: Interaktion mit virtuellen Agenten? Zur Aneignung eines ungewohnten Artefakts. Stuttgart

Kurath, M., 2009: Nanotechnology Governance: Accountability and Democracy in New Modes of Regulation and Deliberation. In: Science, Technology & Innovation Studies 5 (2009), S. 87–110

Latour, B., 1988: Mixing Humans and Nonhumans Together: The Sociology of a Door-Closer. In: Social Problems 35 (1988), S. 298–310

Latour, B., 1996: On Actor-Network Theory. A Few Clarifications. In: Soziale Welt 47 (1996), S. 369–381

Latour, B., 1998: Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie. In: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie. Frankfurt a. M., S. 29–81

Rammert, W.; Schulz-Schaeffer, I., 2002: Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt. In: Rammert, W.; Schulz-Schaeffer, I. (Hg.): Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt a. M., S. 11–64

Schulz-Schaeffer, I., 2009: Handlungszuschreibung und Situationsdefinition. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61 (2009), S. 1–24

Schulz-Schaeffer, I., 2011: Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Ko-Konstitution von Gesellschaft, Natur und Technik. In: Weyer, J. (Hg.): Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung. München, S. 264–288

Suchman, L.A., 2007: Human and Machine Reconfigurations: Plans and Situated Actions, Cambridge, MA

Weyer, J.; Kirchner, U.; Riedl, L.; Schmidt, J.F.K., 1997: Technik, die Gesellschaft schafft. Soziale Netzwerke als Ort der Technikgenese. Berlin

Kontakt

Prof. Dr. Johannes Weyer
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
Technische Universität Dortmund
44221 Dortmund
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