TA-Projekte
Systembiologie. Implikationen für Wissenschaft und Gesellschaft
Systembiologie: Implikationen für Wissenschaft und Gesellschaft
von Regine Kollek, Martin Döring, Imme Petersen und Anne Brüninghaus, BIOGUM Hamburg, sowie Karen Kastenhofer und Helge Torgersen, ITA Wien
Die Systembiologie zielt darauf ab, biologische Prozesse und Organismen in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Theoretisch und forschungspraktisch werden entsprechende Ansätze seit knapp zwei Jahrzehnten verfolgt. Als Weiterführung der Genomforschung haben sie bereits viele Bereiche der biomedizinischen Forschung durchdrungen. Allerdings ist bisher wenig über die weiterreichende Bedeutung systemorientierter Ansätze für die modernen Lebenswissenschaften bekannt. Auch ihre normativen, sozialen und rechtlichen Implikationen sind weitgehend unerforscht. Dieser Artikel beschreibt Hintergrund, Ziele und Forschungsstrategie eines binationalen Verbundprojekts, das die Systembiologie in Deutschland und Österreich aus Perspektive der Wissenschafts- und Technikforschung empirisch untersucht. Partner sind der Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt (BIOGUM) der Universität Hamburg und das Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
1 Hintergrund
In den letzten Jahren hat sich in den Lebenswissenschaften ein weitreichender Wandel vollzogen. Nach der Sequenzierung des menschlichen Genoms und dem anderer Organismen – ein als Genomics bezeichneter Ansatz – rückten die Funktionen des Erbmaterials in das Zentrum des Interesses. Zu ihrer Untersuchung etablierten sich andere „-omics“-Ansätze, die die Transkripte genetischer Strukturen (transcriptomics), die gebildeten Proteine (proteomics) oder Stoffwechselprodukte (metabolomics) analysieren. Mit Hilfe von Hochdurchsatztechnologien sollen dabei die Fülle, Komplexität und Dynamik biologischer Prozesse jenseits eines ausschließlich molekulargenetischen Verständnisses erfasst werden. Die dabei produzierten Datenmengen sind jedoch mit existierenden Methoden und Konzepten kaum darstell- oder interpretierbar. In enger Kooperation mit Informationstechnik und Mathematik werden daher gegenwärtig Möglichkeiten zur Modellierung komplexer non-linearer Prozesse entwickelt, die eine Datenintegration auf Systemebene erlauben. Die so entstandene Systembiologie zielt auf ein vertieftes Verständnis biologischer Prozesse durch den Nachbau organismischer Systemzusammenhänge mit Hilfe von Computerprogrammen (also „in silico“) ab.
Charakteristisch für die Systembiologie ist die interdisziplinäre Kooperation zwischen Lebenswissenschaften, Mathematik und Informatik als Grundlage für eine umfassende Perspektive auf Lebensprozesse und Organismen. Dies soll Chancen für die Entwicklung von Therapien und Arzneimitteln eröffnen, die weit über existierende Ansätze hinausgehen. Als neues und hoffnungsvolles Forschungsfeld wird die Systembiologie von staatlicher Seite maßgeblich gefördert (BMBF 2002; Reiss, Diekmann 2005; ESF 2008).
Hinsichtlich ihrer ethischen, regulativen und sozialen Implikationen wurde die Systembiologie bislang erst ansatzweise untersucht (Fox Keller 2003; dies. 2005; Fujimura 2005; O’Malley, Dupré 2005; O’Malley, Calvert, Dupré 2007). Demnach stellen etwa die computergestützte Modellierung, in-silico-Tests, Veränderungen des Lebensbegriffs oder die Kommerzialisierung biologischer Prozesse und Entitäten wichtige Problembereiche dar. Das im Folgenden beschriebene Projekt geht über die bisherigen Ansätze hinaus, indem es auf eine empirische Analyse fokussiert, die in der wissenschaftlichen Wahrnehmung der Systembiologie bisher fehlt.
2 Projektziele
Das Projekt „Towards a holistic conception of Life? Epistemic presumptions and socio-cultural implications of systems biology“ (Akronym: THCL) verfolgt zwei Zielrichtungen. Die erste bezieht sich auf den Forschungsgegenstand, also auf die Systembiologie selbst: Untersucht werden epistemische Vorannahmen, soziokulturelle Implikationen sowie innovative Potenziale für Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland und Österreich. Mit einer frühen Wahrnehmung und Reflexion ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte will das Verbundprojekt die Integration gesellschaftlicher Perspektiven von Beginn an befördern. Im Einzelnen zielt das Verbundprojekt darauf ab,
- die Etablierung und Entwicklung der Systembiologie in Deutschland und Österreich zu untersuchen und darzustellen,
- die sich aus der Systembiologie entwickelnden ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen empirisch zu analysieren,
- diese Problemlagen mit Wissenschaftlern, Journalisten, Fachleuten aus Verwaltung und Industrie sowie Vertretern verschiedener Interessensgruppen zu diskutieren,
- aktuelle und zukünftige wissenschaftliche und technologische Innovationspotenziale der Systembiologie zu analysieren und abzuschätzen, sowie
- das gegenwärtige Governance-Regime und zukünftige Governance-Optionen zu identifizieren.
Die zweite Zielsetzung ist die Weiterentwicklung konzeptioneller und methodischer Ansätze der Wissenschafts- und Technikforschung sowie der Technikfolgenabschätzung vor dem Hintergrund einer problemorientierten Analyse (sog. Ethical, Legal and Social Aspects- oder ELSA-Forschung). Die ersten Untersuchungen der Systembiologie unterzogen deren Vorannahmen einer vorrangig wissenschaftstheoretisch orientierten Prüfung (vgl. u. a. Fujimura 2005; Fox Keller 2005). Weiterhin wurden mögliche gesellschaftliche Implikationen bzw. Problempotenziale identifiziert (O’Malley, Dupré 2005; O’Malley, Calvert, Dupré 2007). Eine empirische Analyse tatsächlicher Entwicklungen ist jedoch notwendig, um die Ergebnisse der theoretischen Einschätzung zu überprüfen. Sie kann untersuchen, wie sich eine systembiologische Sichtweise in der Praxis umsetzt, welche Forschungsstrategien und -praxen entwickelt, wie Ergebnisse konkret interpretiert und welche Deutungsmuster von den Akteuren präferiert werden, und welche Wahrnehmung diese von systembiologischem Forschungshandeln haben. Die empirische Analyse einer aktuellen Forschungsentwicklung und -praxis stellt daher eine notwendige Ergänzung und ggf. ein wichtiges Korrektiv einer theoretischen Untersuchung dar und ist für eine handlungsorientierte Technikanalyse und Innovationspolitik unverzichtbar.
Allerdings sind dafür bisherige Ansätze empirischer Wissenschafts- und Technikforschung um neue methodische Ansätze zu ergänzen, da es bei sich erst abzeichnenden Entwicklungen noch keine stabilisierten empirisch untersuchbaren Phänomene gibt. Über die konkrete Untersuchung der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Implikationen der Systembiologie hinaus besteht die zweite Zielrichtung des Verbundprojektes deshalb darin,
- die Methodik einer empirisch fundierten Analyse und wissenschaftlichen Bewertung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte der modernen Lebenswissenschaften weiter zu entwickeln, sowie
- die theoretischen Grundlagen für diese Analyse und Bewertung zu stärken.
Die Ergebnisse können einen Beitrag zur Weiterentwicklung empirischer Untersuchungen neuer Wissenschafts- und Technikfelder leisten und sind damit unverzichtbar für notwendige methodologische Reflexionen im Bereich der ELSA-Forschung.
3 Konzeption und Forschungsstrategie
Die Ziele des Verbundprojektes werden in mehreren Arbeitspaketen mit unterschiedlichen methodischen Strategien untersucht. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Arbeitspakete und ihre Vernetzung.
Abb. 1: Gemeinsamer Forschungsplan des Verbundprojektes: Arbeitspakete und (nationale) Teilprojekte
Gelb: BIOGUM (Deutschland)
Blau: ITA (Österreich)
3.1 Konzepte und Forschungspraktiken in der Systembiologie (WP1&2)
Konzepte und Forschungspraktiken werden in zwei Arbeitspaketen aus unterschiedlicher theoretischer Perspektive und mit verschiedenen methodischen Ansätzen untersucht. Die erste Perspektive nimmt die Konzeptualisierung und Strukturierung systembiologischer Forschungsgegenstände (biologischer Prozess, Zelle, Organismus, Leben, etc.) durch die forschenden Wissenschaftler selber in den Blick. Neben wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten (Reviews) dienen Interviews mit Systembiologen in Deutschland als zweite authentische Quelle. Sie ermöglichen eine Analyse von Konzepten und Praktiken, die für Genese und Weiterentwicklung systembiologischen Denkens und Forschens zentral sind und mit denen ihr innovatives Potenzial für Wissenschaft und Wirtschaft begründet wird. Sie ermöglichen darüber hinaus die Identifizierung technikinduzierter Konsequenzen, soweit sie von Systembiologen selber thematisiert werden.
Die zweite Perspektive fokussiert auf epistemische Praktiken, Gemeinschaften und Kulturen der Systembiologie. Über Experteninterviews, Laborbesuche und Publikationsanalysen werden empirische Daten über den Forschungsalltag gesammelt. Dies ermöglicht es, die Relevanz und Anwendung grundlegender Konzepte im Laboralltag zu beschreiben oder deren Wandel durch die alltägliche Forschungspraxis darzustellen. Darüber hinaus werden Aspekte der wissenschaftlichen Alltagspraxis wie z. B. der interdisziplinären Kooperation auf der Mikroebene untersucht. Analysiert wird, wie neues Wissen, neue Objekte und Techniken in der Systembiologie entwickelt und in Beziehung zu technologischen Innovationen und zur Produktentwicklung gesetzt werden.
3.2 Systembiologie aus der Sicht von Wissenschaftlern (WP3)
Die Struktur wissenschaftlicher Konzepte und die Potenziale der Systembiologie stehen auch im Zentrum des dritten Arbeitspakets. Dabei geht es nicht nur um die aktuell gültigen Konzepte, sondern auch um ihre historischen Vorläufer und antizipierten Nachfolger. Hier werden sie jedoch mit Hilfe von Fokusgruppen untersucht. Der analytische Schwerpunkt liegt zum einen auf der gruppenspezifischen Rahmung grundlegender Konzepte, zum anderen auf den inner- und außerwissenschaftlichen Potenzialen der Systembiologie. Zudem werden die Beziehung zu Nachbardisziplinen und das Anwendungspotenzial in Forschung und Industrie behandelt. Das kommunikative Setting von Fokusgruppen generiert dabei durch interaktiven Austausch Daten, die über Einzelinterviews deutlich hinausgehen.
Diese Untersuchung füllt eine Leerstelle in der Wissenschaftsforschung zur Systembiologie und erlaubt Antworten auf offene wissenssoziologische Fragestellungen, wie z. B. zur Einschätzung des Einflusses historischer und aktueller wissenschaftlicher Konzepte durch Systembiologen selber.
3.3 Mediale Repräsentation der Systembiologie in Deutschland und Österreich (WP4)
Die Wahrnehmung der Systembiologie aus der Sicht von Wissenschaftlern wird ergänzt durch die Untersuchung der medialen Repräsentation der Systembiologie und deren politischer und regulativer Aufnahme in Deutschland und Österreich. Speziell geht es um die mediale Rahmung, die Thematisierung regulativer Eingriffe sowie um national differierende Konzeptualisierungen der Systembiologie durch unterschiedliche Akteure. Rahmungen und Repräsentationen der Systembiologie werden aus einer Governance-Perspektive dargestellt und analysiert und deren Interaktion durch Interviews mit verschiedenen Akteuren (Medien, politische Verwaltung, Wirtschaft, etc.) geklärt. So werden mediale Konjunkturen der Systembiologie sowie deren Rezeption und Interaktion auf unterschiedlichen Ebenen (z. B. auf der der Regulierungsprozesse) deutlich.
3.4 Verknüpfung konzeptueller und technischer Ressourcen für Innovationen (WP5&6)
Ein weiteres Forschungsthema ist die Organisation systembiologischer Forschung. Als eine theoretische Grundlage wurde die Akteur-Netzwerk-Theorie gewählt; als erstes Fallbeispiel dient das im sechsten Rahmenprogramm der EU finanzierte Forschungsprojekt „Advancing Clinico-Genomic Clinical Trials on Cancer“ (ACGT). Akteure aus Genomforschung, Medizin, Informatik, Recht und Ethik entwickelten hier eine internetbasierte Informations- und Datenplattform für den interdisziplinären und internationalen Austausch klinischer Daten aus der systembiologischen Krebsforschung. Als zweites Fallbeispiel wird die gegenwärtige institutionelle Etablierung der Systembiologie in Österreich untersucht.
Mithilfe einer Analyse verschiedener Dokumententypen und von Experteninterviews werden Informationen zur Forschungsorganisation, zu den Kooperationsbeziehungen der beteiligten Akteure untereinander sowie zur Anwendung und Fortentwicklung systembiologischer Ansätze erhoben. Die Analyse zielt darauf ab, die für systembiologische Projekte erforderlichen Kooperationsformen zu charakterisieren, Erfordernisse und Hindernisse für Interdisziplinarität zu erforschen sowie die strukturellen und organisatorischen Bedingungen für systembiologisches Arbeiten besser zu verstehen.
3.5 Soziale, regulative und innovative Aspekte der Systembiologie (WP7)
Das letzte Arbeitspaket widmet sich der Synthese der Ergebnisse sowie der Identifikation von kritischen Aspekten und Regulationserfordernissen. Es gewährleistet damit die Zusammenführung und Kohärenz der Arbeiten. Zwischenergebnisse der Arbeitspakete werden im Rahmen von Projekttreffen, Workshops und Konferenzvorträgen vorgestellt und diskutiert. Abschließend werden gemeinsam regulative Defizite identifiziert und Empfehlungen formuliert.
Durch die vielfältige Einbindung von Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen will das Verbundprojekt einen Beitrag zu einer interaktiven Wissenschafts- und Technikforschung leisten, die sich über Disziplinengrenzen hinweg mit den Implikationen neuer wissenschaftlicher Entwicklungen für die Wissenschaft selber und die Gesellschaft befasst und damit auch zu einer notwendigen Selbstreflexivität wissenschaftlicher Forschung beiträgt.
Literatur
BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2002: Systeme des Lebens: Systembiologie, Bonn
ESF – European Science Foundation, 2008: Advancing Systems Biology for Medical Applications; http://www.esf.org/publications.html
Fox Keller, E., 2003: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors and Machines. London
Fox Keller, E., 2005: The Century Beyond the Gene. In: Journal for Biosciences 30 (2005), S. 3–10
Fujimura, J., 2005: Postgenomic Futures: Translations Across the Machine-nature Border in Systems Biology. In: New Genetics and Society 24 (2005), S. 195–225
O’Malley, M.; Dupré, J., 2005: Fundamental Issues in Systems Biology. In: BioEssays 27 (2005), S. 1270–1276
O’Malley, M.; Calvert, J.; Dupré, J., 2007: The Study of Socioethical Issues in Systems Biology. In: The American Journal of Bioethics 7 (2007), S. 67–78
Reiss, Th.; Diekmann ,W., 2005: The Take-off of European Systems Biology (EUSYSBIO), Karlsruhe
Kontakt
Prof. Dr. Regine Kollek
FSP BIOGUM
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E-Mail: kollek∂uni-hamburg.de