Subjektive Sicherheit im ÖPNV. Test und Evaluation ausgewählter Maßnahmen

TA-Projekte

Subjektive Sicherheit im ÖPNV

Test und Evaluation ausgewählter Maßnahmen

von Leon Hempel und Dagny Vedder, TU Berlin

Das subjektive Sicherheitsempfinden der Fahrgäste ist Verkehrsunternehmen sehr wichtig. Deshalb setzen sie eine Vielzahl von Maßnahmen ein, um die Attraktivität des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zu erhöhen. Es besteht das Risiko von Fehlinvestitionen und Akzeptanzschwierigkeiten, wenn Einzelmaßnahmen von Verkehrsunternehmen isoliert bewertet werden. Das Forschungsprojekt „Subjektive Sicherheit im ÖPNV“ (SuSiteam) untersucht die Wirksamkeit von verschiedenen Sicherheitsmaßnahmen auf das subjektive Sicherheitsempfinden der Fahrgäste im ÖPNV. Dabei geht es nicht um die Neuerfindung von Maßnahmen, sondern um eine bessere Integration der zahlreich vorhandenen Maßnahmen. Die Ergebnisse werden den Verkehrsunternehmen in Form eines Sicherheitsmaßnahmenplans zur Verfügung gestellt.

1     Kontext

Das Sicherheitsempfinden von Fahrgästen spielt eine große Rolle für die Attraktivität des ÖPNV. Eine negative Einschätzung der Sicherheit führt dazu, dass Menschen den ÖPNV meiden, weniger oder ungern nutzen, was wiederum zu einem schlechteren Sicherheitsgefühl in leeren Zügen führen kann, etwa nachts. Die Sicherheits- und Risikoforschung hat sich seit Langem intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie Unterschiede im Sicherheitsempfinden zu erklären sind. Häufig lässt sich eine Diskrepanz zwischen der Sicherheitseinschätzung von Personen und der tatsächlichen Sicherheitslage beobachten. Diese Sicherheitswahrnehmungen sind soziokulturell in Lebensformen und -stilen verwurzelt. Ebenso spielen aber auch die Darstellung von Sicherheit und Kriminalitätsdelikten in den Medien sowie das Erscheinungsbild der Infrastrukturen eine entscheidende Rolle.

Verkehrsunternehmen investieren in eine Vielzahl von Maßnahmen, um einem möglichen Attraktivitätsverlust des ÖPNV vorzubeugen, z. B. in den Einsatz von Sicherheitspersonal einschließlich Reinigung, in bauliche Veränderungen und technische Sicherheitseinrichtungen sowie auch in Kommunikations- und Dialogmaßnahmen, die den Fahrgast unmittelbar in seinem Verhalten und Empfinden zu erreichen suchen. Offen bleibt aber meistens, ob diese Maßnahmen auch das leisten, was man von ihnen erwartet. Ziel des SuSiteam-Projektes ist die empirische Überprüfung der zahlreichen vorhandenen Maßnahmen der untersuchten Verkehrsunternehmen und deren Wirksamkeit in bestimmten Situationen.[1]

2     Methodisches Vorgehen

Das Forschungsdesign von SuSiteam beinhaltete einen innovativen Methodenmix aus quantitativen und qualitativen Daten zur Untersuchung der eingesetzten Maßnahmen bei drei Verkehrsanbietern im Bereich des Metropolen-, Stadt- und Landverkehrs in Berlin und Brandenburg. SuSiteam grenzt sich von der bisher im Bereich Verkehr üblichen Betrachtung von Einzelmaßnahmen ab, indem verschiedene Maßnahmen (bauliche Veränderungen, Einsatz von Technologien, Personal und Kommunikationsmittel) situationsspezifisch in ihrer Wirksamkeit bei optimaler Verwendung der personellen und finanziellen Ressourcen betrachtet wurden.

Neben Einzelfragebögen zum Personaleinsatz, Graffiti oder Interviews mit Jugendlichen, bildete ein dreiteiliger Fragebogen das Herzstück der Untersuchung. Der Fragebogen bestand aus der Erhebung des subjektiven Sicherheitsempfindens, aus der szenariogeleiteten Erhebung der Maßnahmenwirkung bei der zunächst nach der gewünschten Wirkweise in einer bestimmten Situation gefragt wurde und anschließend nach der konkreten Maßnahme sowie aus der Erhebung der soziodemografischen Daten. Die im Fragebogen eingesetzten Szenarien waren das Ergebnis eines zuvor durchgeführten Workshops mit relevanten Akteuren aus dem Verkehrswesen. Jedes Szenario enthielt insgesamt drei Eskalationsstufen für die Testfelder Metropole (Berliner S-Bahn-Ring), Stadt (Verkehrsnetz Brandenburg an der Havel) und Land (Regionalverkehr Oberhavel) (s. Tab. 1).

Tab. 1:   Szenarien mit Testfeldern und Eskalationsstufen

Metropole: Szenario 1: abends alleine; S-Bahn verpasst
  Szenario 2: Gruppe offensichtlich alkoholisierter junger, pöbelnder Männer
  Szenario 3: beleidigende Kommentare aus der Gruppe; eine Bierflasche wird auf mich geworfen
Stadt: Szenario 1: abends alleine; TRAM verpasst
  Szenario 2: Gruppe von jungen Männern, die beschmieren, bemerken mich
  Szenario 3: Einstieg in TRAM; Gruppe folgt; Beleidigungen und Rempeln
Land: Szenario 1: Auf den Bus warten, während die Menge der lauten und drängelnden Schüler wächst
  Szenario 2: Einstieg in den Bus; Gerangel und Geschrei von Jugendlichen mit Bier
  Szenario 3: Beleidigung und Rempeln

Quelle:   Eigene Darstellung

Zunächst wurden für die Befragung die eingesetzten Maßnahmen bei den drei Verkehrsanbietern im Bereich des Metropolen-, Stadt- und Landverkehrs nach Wirkungen, Nutzungen und dem jeweiligen Aufwand an Ressourcen typologisiert. Anschließend folgte eine situationsspezifische Abstimmung der Maßnahmen aufeinander und die Definition von Maßnahmenbündeln, die dann wiederum experimentell implementiert wurden. Die Wirkung der eingesetzten Maßnahmen wurde mittels des szenariogeleiteten Fragebogens in vier Erhebungswellen getestet, wobei deren Ergebnisse jeweils in die nächste Implementationsphase eingeflossen sind. Durch den dadurch stattfindenden Lernprozess fand eine Evaluation der eingesetzten Maßnahmenbündel statt, die eine anschließende entsprechende Abänderung der Ergebnisse zur Folge hatte. Dieser iterative Prozess wurde mehrmals wiederholt, um eine Optimierung des Maßnahmeneinsatzes in den jeweiligen Verkehrsstrecken zu erreichen.

3     Ergebnisse

Die Ergebnisse der Befragungen zeigen, dass sowohl im Stadtverkehr als auch Metropolenverkehr ein Unsicherheitsgefühl bei den Fahrgästen unabhängig von einem konkreten Ereignis einsetzt. Bereits alltägliche Situationen, wie sie im ersten Szenario beschrieben werden, führen bei 36 % der Fahrgäste zu Unsicherheitsgefühlen. Die Fahrgäste antizipieren mögliche Ereignisse, die ihnen zustoßen könnten. Mit der Situationsverschärfung bringen andere Menschen, die auch häufig Ursache von Verunsicherungen sind, wie z. B. Betrunkene und Jugendliche, Konfliktpotenzial mit ins Spiel. Insgesamt drei Viertel der Fahrgäste in der Metropole (74 %) und in der Stadt (72 %) fühlen sich im zweiten Szenario beunruhigt. Im dritten Szenario mit einer weiteren Verschärfung der Situation, wird der Fahrgast konkret angegriffen. Das Unsicherheitsgefühl wächst zu einem Bedrohungsgefühl – 85 % der Fahrgäste in der Stadt und 97 % in der Metropole fühlen sich verunsichert. Auf dem Land setzt das Unsicherheitsgefühl deutlich später ab dem zweiten Szenario ein, was durch den überwiegend vorhandenen Busverkehr zu begründen ist.

Neben den Schwellen für Unsicherheit wurde in den Befragungen untersucht, in welchen Situationen der Fahrgast welche Maßnahmenwirkung erwartet. Die Ergebnisse der drei Eskalationsstufen in den drei Testfeldern zeigen, dass die erwartete Wirkung der Maßnahme abhängig ist von der Distanz des Fahrgastes zur gegenwärtigen Zukunft und von dem Grad der Involviertheit in Zeit und Raum. In der ersten Eskalationsstufe ist die Zukunft für den Fahrgast ungewiss ‑ er weiß nicht, was ihn erwartet. In dieser Situation möchte der Fahrgast in erster Linie einen Überblick über die Situationen bekommen und Zugang zu Informationen erhalten. Er möchte aber auch, dass ihm im Notfall jemand hilft. Dies trifft auf alle Testfelder zu. Mit der zweiten Eskalationsstufe wird die Bedrohung gegenwärtig, der Fahrgast ist jedoch nicht involviert in die Situation. In allen Testfeldern steigt der Wunsch, dass im Notfall Hilfe zugänglich ist, sprunghaft an. Alle anderen Wirkungen einer Maßnahme (wie z. B. der Fahrgast will keine Zielscheibe werden oder möchte eine Überblick bekommen) fallen deutlich ab und können in dieser Eskalationsstufe wenig ausrichten. In der dritten Eskalationsstufe ist die Gefahr nicht nur gegenwärtig, sondern der Fahrgast ist außerdem das Ziel der Bedrohung. Der Wunsch nach Hilfe als erwartete Wirkung einer Maßnahme steigt im Vergleich zu den anderen Wirkungen in allen drei Testfeldern weiter an.

Im Anschluss an die Befragung nach den erwarteten Wirkungen einer Maßnahme wurden die vom Fahrgast erwünschten Maßnahmen untersucht. Die Ergebnisse zeigen hier, dass die Erwartung an eine sicherheitsrelevante Maßnahme abhängig ist von der jeweils als kritisch empfundenen Situation und den Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion zwischen Maßnahme und Kunde. Im ersten Szenario ist es dem Fahrgast wichtig, einen Überblick über die Situation zu bekommen. Die erwünschten Maßnahmen sind in diesem Fall unabhängig vom Testfeld ein Fahrplanaushang, eine Aufsicht oder eine Infoanzeige. Um rechtzeitig Hilfe zu bekommen, werden eher Maßnahmen, die eine Interaktion ermöglichen (wie z. B. Personal und andere Fahrgäste) favorisiert. Technisch einseitige Maßnahmen, wie die viel eingesetzte und diskutierte Videoüberwachung, sind für die meisten Fahrgäste unbedeutend. Mit dem Anstieg der Gefährdungssituation im zweiten und dritten Szenario und der erwarteten Wirkung, dass im Notfall Hilfe kommt, werden nur noch Maßnahmen erwünscht, die eine Kommunikation mit einer anderen Person ermöglichen ‑ sei es über eine menschliche Interaktion mit Personal oder anderen Fahrgästen oder eine technisch vermittelte Interaktion mit dem Handy oder eine SOS-Infosäule.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass über die drei Eskalationsstufen hinweg, der Fahrgast in erster Linie menschliche Maßnahmen erwartet, gefolgt von technischen Maßnahmen, die Möglichkeiten der Interaktion bieten wie z. B. Infosäule und Handy. Technische Maßnahmen mit einer einseitigen unidirektionalen Kommunikation schneiden am schlechtesten ab.

4     Ausblick

Die in SuSiteam erlangten Ergebnisse der Test- und Evaluationsphase der Maßnahmen werden in Form eines Sicherheitsmaßnahmenplans allen am Projekt nicht beteiligten Verkehrsunternehmen zur Verfügung gestellt. Der Maßnahmenplan fungiert als Anleitung und als Beratungsgrundlage für die Implementierung von Maßnahmenbündel. Er zeigt an, welche Maßnahmenbündel mit welcher Zielfunktion umgesetzt werden können und wie ein Erfolgscontrolling gestaltet werden kann, um somit Fehlinvestitionen und Akzeptanzprobleme in Zukunft zu reduzieren. Darüber hinaus werden die Ergebnisse der Optimierung in geo-referenzierten Karten der Testfelder visualisiert. In diesen „ÖPNV-Sicherheitslandkarten“ wird die Sicherheitslage auf der Basis relevanter Daten wie Kriminalitätsaufkommen dargestellt und in Beziehung zu den Wirkweisen der Maßnahmen zur Steigerung des Sicherheitsempfindens der Fahrgäste gesetzt.

Anmerkung

[1]  „SuSiteam“ wird durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gefördert und läuft bis Mitte 2011 unter Beteiligung des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, dreier Brandenburger und Berliner Verkehrsunternehmen sowie dem Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) an der TU Berlin.

Kontakt

Dr. Leon Hempel
Zentrum Technik und Gesellschaft
Technische Universität Berlin
Fasanenstraße 90, 10623 Berlin
E-Mail: hempel∂ztg.tu-berlin.de