Ingrid von Berg. Nachruf auf eine streitbare Kollegin

Nachruf

Ingrid von Berg

*20.7.1943 – †30.12.2010
Nachruf auf eine streitbare Kollegin

von Bernd Wingert[1]

Einen Nachruf auf eine Kollegin zu verfassen, die gerade mal ein Jahr älter war als man selbst, ist keine Aufgabe, zu der man sich drängen würde. Aber – entziehen kann man sich ihr auch nicht. Denn wer so viele Jahre mit ihr in einem Institut war, das eine oder andere Themenheft dieser vorliegenden Zeitschrift mit ihr zusammen betreute, wer so viele Spaziergänge mit ihr machte, manches persönliche Gespräch führte und einige Konflikte mit ihr zu Ende focht – der muss sich der Aufgabe des gemeinsamen Erinnerns stellen, so schmerzlich es am Ende auch sein mag. Blicken wir also kurz zurück auf ihren Werdegang in ITAS, auf die Anfänge dieser Zeitschrift; versuchen eine knappe Charakterisierung ihrer Rolle im Institut und werfen zum Schluss noch einen etwas persönlicheren Blick auf ihr Leben.

Ingrid von Berg kam – wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen – 1975 mit der „Gruppe Paschen“ ins damals noch als „Kernforschungszentrum“ betitelte Forschungszentrum Karlsruhe. Diese „Gruppe“ war ein Teil der Heidelberger „Studiengruppe für Systemforschung“, die von Helmut Krauch 1958 aus dem Kernforschungszentrum heraus gegründet wurde. Krauch verstarb am 14.10.2010 in Heidelberg. Die Studiengruppe hatte es sich 1973 mit dem damaligen Forschungsminister Ehmke aufgrund zu steiler forschungspolitischer Thesen verscherzt, so dass die „Studiengruppe“ aufgelöst werden sollte; als Auffanglösung blieb die Angliederung an ein in Karlsruhe schon bestehendes Systemanalyseinstitut.[2]

Mit dem Umzug der „Gruppe Paschen“ kam auch ein Thema mit, zu dem es erste Arbeiten bereits in Heidelberg gab und das Ende der 1980er Jahre dann bestimmend für das Institut werden sollte: „technology assessment“ – Technikfolgenabschätzung.[3] Doch zunächst arbeitete Ingrid von Berg nach dem Wechsel nach Karlsruhe (genauer: Eggenstein-Leopoldshafen) an der E2-Studie mit, in der es um die Abschätzung der Folgen eines großtechnischen Einsatzes der Kernenergie ging, danach in der Kohlestudie, einer vergleichbar großen TA-Studie zum verstärkten Einsatz der heimischen Steinkohle zur Mineralölsubstitution. Dann gab es – beginnend in der Mitte der 1980er Jahre – ein vom Forschungsministerium gefördertes Projekt zum Aufbau einer TA-Datenbank. Zu den Aufgaben von Ingrid von Berg gehörten die Konzeption der Datenbankstruktur, der Entwurf der Erhebungsbögen sowie die Betreuung der in der Datenbank erfassten TA-Einrichtungen, v. a. der ausländischen. Die Konzeption dieser Datenbank sah vor, TA-Projekte, TA-Literatur und TA-Institutionen nicht in getrennten Säulen anzubieten, sondern untereinander zu vernetzen. Dazu wurde ein Newsletter eingerichtet, die TA-Datenbank-Nachrichten, der die Zielsetzung verfolgte, die Nutzung der im Aufbau befindlichen TA-Datenbank zu erläutern und zu stimulieren.

TA-Datenbank-Nachrichten

Ingrid von Berg hat die Konzeption der TA-Datenbank maßgeblich bestimmt, hat die Datenbank mit aufgebaut und hat den Newsletter, aus dem immer mehr eine wissenschaftliche Zeitschrift wurde, seit 1992 redaktionell geleitet und so an verantwortlicher Stelle zu ihrem Gelingen, zu mehr und mehr Anerkennung und Professionalität beigetragen. Ingrid von Berg hat damit wie niemand sonst diese Zeitschrift geprägt. Ab 2002 wurde der Titel in „TATuP“ umbenannt (Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis). Vergegenwärtigt man sich das Mengengerüst, das schiere Arbeitsvolumen, das zu bewältigen war, dann lässt sich abschätzen, welche Energie hier am Werke war: Unter der Leitung von Ingrid von Berg sind 47 Hefte erschienen, mit einem Gesamtumfang von ca. 8.000 Seiten. Jedes dieser Hefte, jede Seite, jede Zeile ist durch die akribischen Hände unserer Kollegin gegangen.

Und den Autoren wurde das Publizieren in der Zeitschrift nicht leicht gemacht. Jeder Beitrag wurde einem Grammatik-, Stil- und Verständlichkeitstest unterzogen; Veränderung und Verbesserung der Texte war Programm. Und wenn man als Autor weiß, dass der eigene Text immer auch mit erheblichen Portionen libidinöser Energie überzogen ist, dann kann dieses beidseitige Ringen um den Text leicht zu einem Scherren und Schieben mutieren, wie man es bei japanischen Sumo-Ringern sieht, die, handfest ineinander verkrallt, um Millimeter kämpfen. Natürlich kann eine einzelne Person ein solches Projekt nicht alleine stemmen. Deshalb darf nicht vergessen werden, dass viele Kolleginnen und Kollegen diese Zeitschrift mit getragen und mit gestaltet haben, auch was die immer wieder aufflammenden Diskussionen angeht, wie der Newsletter, später die Zeitschrift, auszurichten und weiterzuführen wäre. Die Zeitschrift blieb in der Regie des Instituts. Die „TATuP“ ist zu einer qualitativ anspruchsvollen und weithin anerkannten Fachzeitschrift für das Thema „TA“ und verwandte Fragestellungen geworden. Sie ist für das Institut die Chance, Trends aufzugreifen, Forschungsergebnisse frühzeitig darzustellen und in die Diskussion der „community“ einzuspeisen, um so am Diskurs über Technikfolgen und gesellschaftliche Implikationen beizutragen. Das Institut weiß den Beitrag, den Ingrid von Berg hierzu geleistet hat, zu schätzen. Die Kollegin hat mit der Zeitschrift einen bleibenden Wert hinterlassen.

Aber ihr Beitrag erschöpfte sich nicht darin, ein solches Publikationsprojekt – von Heft zu Heft – zu betreuen und voranzubringen. Mir scheint – und damit leite ich zu einigen mehr persönlichen Einschätzungen über – sie spielte im Institut eine besondere Rolle: Sie war diejenige, die überall im Institut herumkam, mit allen Kolleginnen und Kollegen redete, mit allen Projekt- und Arbeitsgruppen in Verbindung stand, sozusagen ständig auf der Pirsch nach neuen Themen, die sich in der TATuP verwerten ließen, aber nicht nur deshalb. Sie war von Natur aus vielfältig interessiert, sie war offen, kommunikativ, umtriebsam, sie war zu begeistern und begeisterte ihrerseits, aber sie brauchte immer wieder auch Rat und Unterstützung und – sie war nicht einfach. Sie war versiert im Argumentieren, konsequent im Nachsetzen (wie im Hockey, das sie schon als Schülerin spielte), sie war akribisch, engagiert und in diesem Sinne auch „streitbar“. Ingrid von Berg und das Institut – kein einfaches Gespann, aber sehr produktiv und erfolgreich.

Ingrid von Berg schied zum 1. August 2005 aus der Redaktion der TATuP aus und wechselte in den Ruhestand. Wir versprachen einander, in Kontakt zu bleiben; aber das hat nicht geklappt. Auf der Weihnachtsfeier 2010 erzählte Kollege Reinhard Coenen, dass „Inge“ schon seit geraumer Zeit der Betreuung bedürfe, weil sie die Fäden des Lebens alleine nicht mehr ordnen könne, so dass auch ihre Zwillingsschwester, Dorothee von Berg, die „ältere Schwester“, wie Inge immer mal wieder bewundernd feststellte, helfen musste. Die Schwestern waren noch im Sommer 2010 gemeinsam in Ellmau. Dort entstand ein Bild, das die Familie als Abschiedsgruß in der Todesanzeige verwandte. Es zeigt unsere Kollegin vor einer Bergkulisse in einer Sommerwiese stehend, gesammelt, in sich versunken, umgeben von Natur und darin wie verloren. Das Bild erinnert an einen kurzen Vers von Sylvia Plath, einer in den USA geborenen und in England begrabenen Autorin, mit deutschem Ursprung. Bei der Vorbereitung dieses Nachrufs stieg – irgendwoher – die Erinnerung daran auf, dass wir uns mehrfach über diese Autorin unterhalten hatten. Der Vers von Sylvia Plath bezieht sich auf eine Muschelsucherin, Mussel Hunter at Rock Harbour, eine Transposition, die der Hamburgerin Ingrid von Berg sicher keine Schwierigkeiten bereitet haben dürfte:

I / Stood shut out, for once, for all / Puzzling the passage of their / Absolutely alien / Order.[4]

Was vielleicht so viel heißen könnte wie: Ich / stehe hier, ausgeschlossen auf einmal, für immer / versuch’ mir einen Reim zu machen / auf das Vergehen ihrer Ordnung / der so fremden.

Ingrid von Berg verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit zusammen mit ihrer Schwester auf dem Landgut Springhoe im Holsteinischen. Sie wuchs in der Natur auf. Dieser Drang an die frische Luft, nach draußen, außerhalb des Zaunes des in den 1970er Jahren noch mit Natostacheldraht bewehrten Kernforschungszentrums, war kennzeichnend für sie. Nicht nur ich wurde immer wieder zu einem Spaziergang dienstverpflichtet. Diese schönen Erinnerungen bleiben. Aber es bleibt auch die folgende, nun gar nicht mehr versöhnliche Erkenntnis: Dass eine so anstrengende, geistig so fordernde, sozial sensible und ästhetisch so delikate Arbeit wie jene in der Redaktion der Institutszeitschrift nicht davor schützt, am Ende allein und verständnislos vor der Ordnung der Welt zu stehen.

Anmerkungen

[1]  Bis zum Herbst 2009 am ITAS. Elektronisch bin ich dort nicht mehr präsent, dafür unter: 612204 258822Zep0∂kabelbw de.

[2]  Wer sich für Details der Institutsgeschichte interessiert, sei auf meinen Beitrag im ITAS-Jahrbuch 2003/2004 verwiesen, zugänglich als PDF-Dokument über die ITAS-Homepage (http://www.itas.fzk.de/deu/itas-profil/download.htm). Die Geschichte der „Studiengruppe“ wurde eingehend in der Dissertation von Andrea Brinckmann analysiert: „Wissenschaftliche Politikberatung in den 60er Jahren. Die Studiengruppe für Systemforschung, 1958 bis 1975.“ Berlin: edition sigma 2006 (Gesellschaft – Technik – Umwelt. Neue Folge 9).

[3]  1989 wurde durch Parlamentsbeschluss das TAB eingerichtet und es wird seit 1990 von ITAS betrieben. Zu einem kurzen Abriss der Diskussionen zur Institutionalisierung des TAB vgl. http://www.tab-beim-bundestag.de/de/ueber-uns/geschichte.html. Herbert Paschen leitete das Institut bis 1998, das TAB bis 2002. Ab 1999 leitet Armin Grunwald das Institut, später auch das TAB.

[4]  Zitiert nach dem einschlägigen Artikel über Sylvia Plath in Wikipedia; der englische Vers ist in Einzelnachweis 17 zitiert; http://de.wikipedia.org/wiki/Sylvia_Plath (download 11.4.11).